Читать книгу Feuerglimmen - Magdalena Pauzenberger - Страница 8

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Kapitel 3 – Valentin

Ich habe gedacht, ich würde durchdrehen, als sie mich nur noch ignoriert und mit ihrem Schweigen bestraft hat. Dann hat sie endlich meinen Wunsch erhört, hat wieder mit mir geredet, mich wieder angesehen. Und doch wünsche ich mir gerade einfach nur, ihren Blicken ausweichen zu können. Da war es mir ja noch lieber, als sie mich einfach nicht leiden konnte. Böse Blicke lassen mich kalt. Doch als sie mich so voller Abscheu angesehen hat, hat das etwas in mir hervorgerufen. Eines dieser komischen Gefühle, die ich immer noch nicht so richtig zuordnen kann, obwohl sie doch schon seit einer Weile immer wieder an die Oberfläche kommen. Doch der Moment, in dem mir aus ihren Augen nichts als Angst – Angst vor mir! – entgegenschlug, hat die Eisdecke meines Herzens zersplittern lassen. Nur ein klein wenig, doch es genügte, dass mich der Schwall aus Gefühlen fast überwältigt hätte. Der Drang, sie zu beschützen, war beinahe übermächtig geworden, ich wollte sie einfach nur im Arm halten, sie beruhigen, doch dann wurde mir klar, dass es genau das war, womit ich ihr in diesem Moment am meisten weh getan hätte. Und da spürte ich, wie sich ein Eiszapfen durch mein Innerstes bohrte und mich erschaudern ließ. Mir wurde bewusst, dass ich sie nicht einfach zurücklassen konnte. Dass ich meine Familie verraten musste. Dass ich das Leben, das ich nun schon seit zwanzig Jahren führe, aufgeben musste. Dass ich alles zurücklassen musste. Für eine junge Frau, die sich in diesem Moment wahrscheinlich so weit wie möglich von mir weggewünscht hat. Und ich habe es getan. Ich habe ihr meine Hand gereicht, ihr diese Chance auf Flucht – eine Flucht isoliert von der Außenwelt, eine Flucht mit mir alleine – angeboten, und sie ist mit mir gekommen. Ohne dass ich es wollte und ohne dass ich es kontrollieren konnte, hat mein Herz zu rasen begonnen und ich habe vergessen, in was für einer brenzligen Situation wir uns befanden, hatte lediglich Augen für sie und freute mich darüber, sie ganz für mich alleine zu haben. Und am meisten freute ich mich über ihr Vertrauen zu mir. Wahrscheinlich wusste ich es schon damals und wollte es einfach nicht wahrhaben, doch wenig später wurde es mir völlig klar: Ich war lediglich das kleinere Übel. Die Chance, nicht sofort auf irgendeiner verlassenen Straße abgemurkst zu werden. Genauso schnell, wie die Gefühle gekommen waren, habe ich sie auch schon wieder unter einer dicken Decke Schnee und Eis begraben. Wenn wir eines zum Überleben brauchen, dann einen klaren Verstand und den puren, unumstößlichen Willen zu überleben. Natürlich hat es weh getan, von ihr weggestoßen zu werden, die Angst und die Abneigung zu spüren, doch die Ignoranz hat mich am meisten getroffen. Gehasst zu werden, ist immer noch schöner als jemandem egal zu sein. Nun weiß ich, dass ich ihr nicht egal bin, dass sie immer noch Interesse an mir zeigt. Doch mir ist auch klar, dass sie in mir noch immer nach dem Valentin sucht, den sie in ihr Herz geschlossenen hat, doch der ist genauso ein Teil von mir, wie meine blutige Vergangenheit und meine grausame Rolle bei den praediti iuveni: Ich habe nicht aufgegeben, bis ich ihr bester Kämpfer war. Und auch, wenn mich seit Neuestem immer wieder dieses bedrückende Gefühl beschleicht, wenn ich an meine Taten denke, werde ich wohl immer auch ein wenig Stolz bei dem Gedanken verspüren, dass ich mich dadurch in meinem Leben zum ersten Mal wertvoll gefühlt habe. Vielleicht wird Marlena in mir wieder den Valentin finden, den sie mit so liebevollen Augen betrachtet hat. Den sie geküsst hat. Dessen Nähe sie gesucht hat. Doch ihr muss auch klar werden, dass es diesen Valentin nicht in Reinform gibt. Mit einem gewissen Grad an Verunreinigung muss sie wohl oder übel klarkommen.

Ein Geräusch reißt mich ruckartig aus meinen Gedanken. Das Knirschen von Bewegungen auf dem leicht gefrorenen Schnee. Alle Muskeln meines Körpers spannen sich an, während ich mich vollkommen auf meine Sinne konzentriere. Kein Geräusch soll mir entgehen. Keine Bewegung soll ungesehen bleiben. Und dann erblicke ich die Ursache des Geräusches und auch wenn ich vollkommen konzentriert bleibe, erlaube ich meinen Muskeln, sich wieder etwas zu entspannen. Nur wenige Meter von mir entfernt hoppelt ein gut genährter Feldhase hinter einem Baum hervor, bleibt stehen und putzt sich. Würde mein Magen sich nicht so schmerzhaft leer anfühlen, würde ich vielleicht sogar denken, dieses Tier wäre zu niedlich, um es zu töten. Doch wir brauchen etwas Nahrhaftes zwischen den Zähnen und so klemme ich meine Violine zwischen mein Kinn und meine Schulter. Sofort durchschwemmt eine Welle von Energie meinen Körper, als das kalte Holz die nackte Haut an meinem unbedeckten Hals berührt. Kein Gefühl auf der Welt ist mir so vertraut wie dieses. Immer und immer wieder habe ich versucht, diese Fähigkeiten auch mithilfe anderer Instrumente einzusetzen. Doch bei keinem davon, nicht einmal bei einem anderen Streichinstrument, gelang es mir. Ich weiß nicht wieso, aber meine einzige funktionierende Waffe ist die Violine. Vielleicht erfahre ich irgendwann den Grund dafür. Ich schließe meine Augen, rufe mir das Bild meiner Umgebung in meine Gedanken und keine Sekunde später höre ich das schnelle Schlagen des kleinen Tierherzens. Der Hase scheint völlig unbeschwert zu sein und doch hat er einen viel höheren Ruhepuls als wir Menschen. Ich atme tief durch, versuche mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Und so schaffe ich es, mich vollkommen auf diesen einen deutlichen Herzschlag zu konzentrieren, ihn förmlich in mich aufzunehmen, die Pulswellen auf meiner Haut zu spüren und zu fühlen, wie sie die Saiten der Violine zum Vibrieren bringen. Das ist mein Stichwort. Möglichst langsam, um das Tier keinesfalls zu alarmieren, setze ich den Bogen an und beginne zu spielen. Kein Ton ist zu hören. Dafür ist das menschliche Gehör schlichtweg nicht geschaffen. Doch ich fühle jede einzelne Schallwelle über das Instrument und dessen Steg hinweg durch die Luft auf den Feldhasen zurasen. Tiere haben eine so viel bewusstere Wahrnehmung als wir Menschen, deren Sinne immer mehr verkommen. Der Hase scheint verschwinden zu wollen und doch führt er nur eine kleine Zuckung aus, bewegt sich jedoch kaum vom Fleck. Das kleine Herz beginnt immer schneller zu rasen, doch ich lasse mich nicht irritieren, beschleunige mein Spiel im selben Tempo, bis ich schließlich die Frequenz und Amplitude des pochenden Tierherzens erreicht habe und es ins Stolpern gerät. Der Rhythmus kommt immer mehr aus dem Takt. Mein Spiel folgt seinem Beispiel. Und dann passiert es. Noch zwei, drei Mal rumpelt der Puls des Hasen unkontrolliert vor sich hin, dann ist plötzlich alles still. Das Herz des Hasen hat für immer aufgehört zu schlagen. Still und heimlich hatte es seine eigene kleine Resonanzkatastrophe, gegen die es sich nicht wehren konnte. Das Abendessen ist gesichert. Ein klein wenig stolz darauf, dass ich das Tier so schnell und ohne Komplikationen töten konnte, hebe ich den Kadaver auf, um das Tier zum Lager zu bringen, als ein schriller Schrei die Vögel aus den Bäumen hochschrecken lässt. Und mich in sofortige Alarmbereitschaft versetzt.

»Marlena!« Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprinte ich schon zwischen den viel zu dicht stehenden Bäumen hindurch in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute. »Marlena!«, rufe ich wieder, ungeachtet dessen, dass man uns entdecken könnte, falls es doch jemand anders sein sollte, der diesen markerschütternden Ruf von sich gegeben hat. Oder sich noch jemand in diesen Wald verirrt hat.

»Ich bin hier«, wimmert eine vertraute Stimme ganz in der Nähe. Blindlings stürme ich auf sie zu, ignoriere den Ast, der mir geradewegs ins Gesicht peitscht. Wenige Augenblicke später bremse ich abrupt ab, um Marlena nicht über den Haufen zu rennen, die auf dem Boden kniet. Über etwas gebeugt. Oder wohl eher über … jemanden. Ruckartig schnappe ich ihren Oberarm und ziehe sie zu mir hoch, weg von dem reglosen Mann, der vor unseren Füßen, mit dem Gesicht nach unten, im Schnee liegt.

Ich mache einen Schritt nach hinten, ziehe Marlena mit mir, die sich jedoch augenblicklich von mir losreißt.

»Was ist hier passiert?«, frage ich sie, während ich weiterhin den grauen, etwas schütteren Haarschopf anstarre.

»Das fragst du noch?«, blafft sie mich an. »Das müsstest du doch wohl am besten wissen! Gerade wollte ich etwas Feuerholz und Zunder suchen, wie du mich gebeten hast, als ich plötzlich in diesen Mann hineingerannt bin. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, sie hätten uns. Und dann hast du angefangen zu spielen und Sekundenbruchteile später, als der Mann den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hat er die Augen viel zu weit aufgerissen, während seine Mundwinkel und Finger unkontrolliert zu zucken begonnen haben. Die leise Melodie der Violine wurde immer schneller und bevor ich endlich kapiert habe, was hier gerade eigentlich passiert, ist der Mann auch schon vor meinen Füßen umgekippt. Das hat mich so erschreckt, dass ich reflexartig geschrien habe. Den Rest der Geschichte kennst du ja.« In ihrem Blick liegt eine so große Abscheu, dass ich vorsichtshalber einen Schritt von ihr wegmache. Ich will sie nicht noch mehr verängstigen.

Fassungslos schüttelt sie den Kopf. »Warum hast du das getan? Klar stellt er eine zusätzliche Gefahr für uns dar, aber das ist doch auch keine Lösung!«

Also daher weht der Wind. »Das war ich nicht. Zumindest wollte ich das nicht«, beteure ich. Doch Marlena scheint mir gar nicht zuzuhören.

»Du kannst doch nicht einfach jeden Menschen umbringen, der uns möglicherweise gefährlich werden könnte.«

»Jetzt hör mir doch mal zu: Ich wollte ihm nichts tun.«

»Wie kannst du nur …« Inzwischen ist ihre Stimme zu einem geschockten Flüstern geworden.

Das wird mir jetzt echt zu blöd. Ich packe sie an den Schultern und bringe sie so endlich einmal dazu, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Und ich sage es noch einmal: Verdammt, Marlena, ich wusste nichts von dem Mann! Ich wollte ihm nichts tun, ich habe lediglich einen Hasen erlegt!« Damit sie mir endlich glaubt, hebe ich das braune Häschen auf, das ich zwar mitgenommen, vor lauter Irritation aber habe fallen lassen, und halte es ihr vor die Nase.

Langsam nickt sie. Scheint mir zu glauben, scheint zu verstehen. Als hätte sie einen Geistesblitz, weiten sich plötzlich ihre Augen. »Das heißt, er ist vielleicht gar nicht tot?«

Wie auf Kommando werfen wir uns beide vor dem Mann auf die Knie und suchen nach seinem Puls, bis Marlena ihn schließlich findet, als sie das Handgelenk des Mannes umklammert. »Er lebt«, haucht sie, »aber er ist total kalt.«

»Schnapp‘ dir den Hasen und komm.« Mit Schwung schultere ich den alten Mann und eile zurück zum Lager, nicht ohne mich noch einmal mit einem Blick über die Schulter zu vergewissern, dass mir Marlena auch wirklich mit unserer Beute folgt. Und nicht nur das. Meine Violine hält sie in der anderen Hand, wenn auch möglichst weit von ihrem Körper entfernt. Durch die Sorge um Marlena und diesen Fremden habe ich das Instrument, das ich genauso achtlos zu Boden geworfen habe wie den Hasen, vollkommen vergessen. Ich habe das einzig Beständige in meinem Leben einfach im Schnee liegen lassen. Und das alles nur wegen dieser verrückten Gefühle. Wie kann mir nur so etwas passieren? Ich selbst weiß keine Antwort darauf.

Feuerglimmen

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