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Kapitel 1 – Marlena

Kalter Wind lechzt über meine unbedeckte Wange und reißt mich zitternd aus dem Schlaf. Es dauert einen Moment, bis ich die dunkelgrüne Plane über mir zuordnen kann. Ich bin im Zelt. Mitten am Arsch der Welt. Schnell verstecke ich mein Gesicht in meiner Armbeuge, verkrieche mich vor der kalten Außenwelt, doch ich kann es nicht gänzlich unterdrücken und so bahnt sich eine Träne den Weg über meine kühle, blasse Haut und hinterlässt eine feine Spur. Wenn ich daran denke, wie schnell sich alles in meinem Leben geändert hat, wie ich von einem Moment auf den anderen alles verloren habe, wie ich alle, die ich liebe, unwissend zurücklassen musste, werde ich von einem Schwindelanfall überrollt. Glücklicherweise liege ich ja bereits. Auf meiner ehemaligen Fitnessmatte, die zu meinem Schlafplatz umfunktioniert wurde. Immerhin kommt sie so doch noch mal zum Einsatz.

»Du bist wach.« Keine Frage. Eher eine überraschte Feststellung. Seit wir Salzburg verlassen haben, ist Valentins besorgter und reumütiger Blick mein ständiger Begleiter. Er hat einen Mann getötet. Vor meinen Augen. Egal was ich geglaubt habe, für ihn zu empfinden: es wird nie mehr das Gleiche sein. Ich habe ihm vertraut. Er hat mich belogen. Und er hat getötet. Er ist ein Mörder verdammt noch mal!

Und damit er das nie vergisst, habe ich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Stimme in der Mozartstadt zurückgelassen.

»Hast du Hunger?«, fragt er, als ich ihm auch heute nicht antworte. Drei Tage lang strafe ich ihn nun schon mit Schweigen und Ignoranz. Nur leider funktioniert das mit der Ignoranz nicht so wie geplant. Denn wenn wir hier draußen, oder nein, wenn wir ÜBERHAUPT überleben wollen, müssen wir wohl oder übel zusammenarbeiten. Ein nicht zu überhörendes Knurren meines Magens antwortet ihm an meiner Stelle. »Wusste ich es doch.« Er grinst aufmunternd, als wäre ich ein kleines Baby, das man erst dazu überreden muss, den Mund aufzumachen, damit man es füttern kann. Der Schatten in seinen einst so hellen blauen Augen bleibt trotz seiner gespielten Freude. Das alles beobachte ich nur aus dem Augenwinkel. Ich schaffe es einfach nicht mehr, ihm ins Gesicht zu sehen, obwohl er es sein sollte, der meinem Blick ausweicht. Doch die Angst, dass ich in seinen Augen Zuneigung und sogar Liebe erkennen könnte, ist zu groß. Du kannst ihm nicht vertrauen! Und doch muss ich es. Er zieht einen abgenutzten Stoffbeutel von seiner Schulter und sucht darin nach einem Frühstück für mich. Er hat die Aufgabe übernommen, mich daran zu erinnern, nicht an Nährstoffmangel zu krepieren, während ich mich immer mehr einkapsle. Während ich versuche in meinem Kopf einen Weg zu finden, nach Hause zu kommen und gleichzeitig meine Familie zu schützen. Einen Weg, wie ich Weihnachten mit ihnen verbringen kann, anstatt die Festtage mit Valentin in dieser gefrorenen Hölle zu verbringen, die sich nach außen hin als Winterwunderland präsentiert. Es war meine Idee, in den Wald zu flüchten, so fern von der Stadt und doch nicht fremd. Zumindest für mich. Aber inzwischen würde ich überall lieber sein als hier in diesem Wald, der mich an eine unbeschwerte Kindheit erinnert. An den Tag, an dem ich auf Erkundungstour unter warmen Sonnenstrahlen gegangen bin, während meine Eltern einen platten Reifen gewechselt haben. Wir waren auf dem Weg zu einer abgelegenen Jausenstation mitten auf einem Berg. Die Straße dorthin ist schmal und ich hatte ständig Angst, von der Straße abzukommen und in den Tod zu stürzen. Doch der Ausblick als wir oben angekommen waren, hat mich all die Höhenangst sofort vergessen lassen. Es war atemberaubend. Genauso wie die alte halb-verwitterte Holzhütte, die ich bei meinem kleinen Spaziergang durch das Geäst entdeckte. Doch dort stockte mir der Atem, weil meine Fantasie mich, das kleine Mädchen, das ich damals war, überwältigte und ich mir sicher war, das Haus einer Hexe gefunden zu haben. Aufgewachsen mit den Grimm‘schen Märchen war ich vollkommen davon überzeugt, dass mich die Hexe entdecken und fressen würde. Ich glaube, ich bin noch nie so begeistert und so panisch zugleich gewesen. Ich hatte mich schon viel zu weit von der Straße entfernt, das wurde mir in diesem Schreckensmoment bewusst. Meine Eltern haben mir zwar noch nachgerufen, ich solle mich nicht zu weit von ihnen entfernen, doch die Neugier hat mich weiter ins Dickicht getrieben. Unter Tränen habe ich also versucht, den Ausweg aus diesem Gruselmärchen zu finden. Minutenlang bin ich zwischen den Baumstämmen umhergeirrt, ohne Ahnung, in welche Richtung ich laufen sollte. Die Angst trieb immer mehr Tränen in meine Augen. Ich war verzweifelt. Bis ich schließlich nach langem Suchen völlig aufgelöst aus dem Wald geprescht kam und beinahe meine Mutter umgerissen hätte. Diese Hütte hat mich das Fürchten gelehrt und doch fand ich sie so faszinierend, dass ich mir geschworen habe, zurückzukehren, wenn ich größer wäre. Kaum war meine Angst gebannt, war nur noch Platz für ungehemmte Faszination und Neugier. Ich habe mein Versprechen an mich selbst gehalten. Jetzt bin ich hier, auch wenn die Hütte nur noch ein Gerippe ist und eine ganz andere Furcht von mir Besitz ergriffen hat.

Ich wünsche mir meine kindlichen Sorgen zurück. Und vor allem die warmen, liebevollen Arme meiner Mutter. Wenn ich daran denke, was der Überfall auf mich mit ihr gemacht hat … wie fertig sie war … Die Tränen laufen mir in Strömen übers Gesicht, benetzen meinen Hals und meine dicke Winterjacke, die mich einigermaßen warmhält. Ein Schluchzer dringt aus meiner Kehle, der sich anhört, wie der Klagelaut eines verletzten Tieres. Valentin will schockiert einen Schritt auf mich zu machen … als würde er mich reflexartig in seine Arme schließen wollen, um mich zu trösten, wie er es zuvor schon so oft getan hat. Doch bei dem Gedanken an seine Berührung läuft mir ein ängstlicher Schauer über den Rücken.

»Geh weg!« Nach tagelanger Stille ist meine Stimme scheinbar eingerostet, denn mehr als ein kratziges Flüstern bringe ich nicht zustande. Vielleicht liegt es aber auch an den Tränen.

»Marlena«, er spricht meinen Namen mit solch einer Wehmut aus, dass es mich schmerzen würde, wäre mein Herz nicht bereits gebrochen.

»Hau ab!«, schreie ich ihn an. Okay, meine Stimme läuft wieder. Er sieht aus, als hätte ich ihn geschlagen, obwohl ich weiß, dass ihn das weniger geschmerzt hätte. Nach kurzem Zögern tritt er aus dem Zelt und lässt mich mit meinen finsteren Gedanken allein.

Meine Mutter würde zerbrechen, wenn sie wüsste, was ich hier durchmache. Was wir hier durchmachen … Das wird mir nun in vollem Umfang klar und ein riesiges Loch tut sich in meinem Inneren auf. Es verschlingt mich. Ich fühle mich als würde ich jeden Moment zusammenbrechen, die stille Dunkelheit einer Ohnmacht käme mir mehr als gelegen.

Mein Vater. Er würde all seine Kraft daransetzen, meine Mutter zu stützen, für sie da zu sein, stark zu sein, doch er würde es nicht schaffen. Das weiß ich. Und ich liebe ihn dafür. Denn das bedeutet, dass auch er mich nie vergessen könnte. Doch das alles wird nie passieren. Sie werden nie von all dem hier erfahren. Maxi wird mich decken. Maxi wird das alles handeln. Meine beste Freundin wird sie beruhigen können. Zwar habe ich starke Zweifel daran, dass das länger als ein oder zwei Wochen gut gehen wird. Doch daran darf ich jetzt nicht denken. Maxi schafft das schon. Was ich mit alldem meine? Sagen wir einfach mal so: Valentin ist nicht der Einzige, der Geheimnisse hüten und Menschen hintergehen kann.

Es war an dem verhängnisvollen Abend, an dem mein Leben über den Haufen geworfen wurde. Valentin hat mich am Oberarm gepackt und mich erst wieder losgelassen, als wir zu Fuß bis zu meiner Wohnung gelaufen waren. Er hat die Leiche des Mannes einfach liegen gelassen. Auf dem kalten Asphalt in der Dunkelheit der Nacht. Der eiskalte Wind hat sich das letzte bisschen Leben des Mannes gekrallt und es weggeweht. Es würde nie mehr zurückkommen. Wir haben ihn liegen gelassen. Kaum hatte ich einen Schritt über die Schwelle meiner Wohnung gemacht, hatte ich das Gefühl, zusammenbrechen zu müssen und nie wieder aufstehen zu können. Doch das habe ich mir verboten. Und so habe ich den Kopf aufrecht gehalten, zwei Rucksäcke gesucht und alles Essbare hineingeworfen, das ich finden konnte. Außerdem so viel Unterwäsche, Wechselkleidung und Toiletten-Artikel wie darin noch Platz fanden. Valentin kann von Glück sagen, dass ich gerne in Boxershorts schlafe und haufenweise Männer-Sportkleidung besitze. Sonst müsste er jetzt nackt durch den Schnee stapfen. Denn er konnte ja schlecht in die Höhle des Löwen zurückgehen, um sein Hab und Gut zusammenzusuchen. Außerdem halte ich mich selbst immer noch für einen Überlebensgenie, weil ich daran gedacht habe, einen kleinen Kochtopf, ein Feuerzeug, das ich mal von der Studienvertretung geschenkt bekommen habe, und mein altes Taschenmesser mitzunehmen. Ohne würden wir jetzt in der Kälte sitzen und die Instant-Nudeln und Suppenbasis, die ich haufenweise gehortet habe, mit Schnee vermischen und irgendwie kalt runter würgen. So vermischen wir sie zwar immer noch mit Schnee aber immerhin kochen wir das Gemisch dann noch auf und so hat sich die Angst vor Fuchsbandwürmern inzwischen minimiert. Ich laufe zwar schon seit Tagen in einem depressiven, Trance-ähnlichen Schockzustand durch die Gegend, das heißt, die meiste Zeit sitze oder liege ich und heule – das tut jetzt aber nichts zur Sache – aber ein paar kleine Gedanken habe ich doch darauf verwendet, Parasitenbefall zu vermeiden. Mein Leben ist auch so schon scheiße genug. Da brauche ich nicht auch noch Würmer. Das Zelt haben wir in der Ruine der alten Hütte gefunden. Pures Glück. Das habe ich hin und wieder anscheinend auch.

Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich habe Maxi eine Nachricht hinterlassen. »Muss weg. Kann das nicht erklären. Sucht mich nicht. Keine Polizei. Ich muss euch schützen. Erzähl meinen Eltern nichts. Bitte, deck‘ mich. <3 Marlena«

An meiner Grammatik muss ich vielleicht noch etwas feilen, aber Maxi wird das schon verstehen. Und ich weiß, dass sie mir blind vertrauen und den Ernst der Lage gleichzeitig nicht einfach so unterschätzen wird. Eigentlich habe ich eine so tolle Freundin gar nicht verdient.

Ich weiß nicht, wie, aber die Gedanken an Maxi haben meine Tränen getrocknet. Und sie haben mir vor Augen geführt, dass ich das hier packen will. Ich will meine beste Freundin wiedersehen. Und ich will meine Familie wiedersehen. Und ich will, dass wir alle zumindest körperlich unversehrt sind. Ich will Weihnachten verdammt noch mal mit ihnen zu Hause verbringen. Deshalb gibt es für mich nur eines: Kämpfen. Denn ohne Kampf kein Sieg. Und wenn es sein muss, kämpfe ich auch mit schmutzigen Mitteln.

Mit erhobenem Haupt stehe ich auf, strecke mich durch. Langsam schiebe ich eine Hälfte der Zeltplane beiseite. Ich will diesen Moment nicht vergessen. Den Moment, in dem ich mich dazu entschieden habe, niemals aufzugeben und bis zum Schluss zu kämpfen. Ich lasse mich nicht brechen. Von niemandem. Und deshalb blinzle ich auch nicht, als mir die Sonne, die vom Schnee reflektiert wird, direkt in die Augen blendet. Mein gesamter Körper spannt sich an, geht in Angriffshaltung, als ich den ersten Schritt aus diesem verdammten Zelt wage und die weißen Kristalle unter meinem Stiefel knirschen. Lasset den Kampf beginnen.

Feuerglimmen

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