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Kapitel 4 – Marlena

Zwar glaube ich Valentin und doch verstehe ich einfach nicht, was dann mit diesem Mann vor mir passiert ist. Das alles hat zeitlich so gut zusammengepasst. Irgendetwas daran bereitet mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

»Glaubst du, er wacht wieder auf?« Unsicherheit, die ich nicht unterdrücken kann, liegt in meiner Stimme. Valentin zögert erst, doch dann erhalte ich meine Antwort.

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Eigentlich sollte er schon längst wieder bei Sinnen sein, so warm wie er es hier hat.« Valentin hat den Fremden über die Schulter geworfen und in unseren Unterschlupf gebracht, wo wir ihn sofort mit allen möglichen Decken und Mänteln zugedeckt haben, sodass sein Körper möglichst schnell wieder eine humane Körpertemperatur erreicht. Das ist jetzt schon eine halbe Stunde her, seither sitzen wir auf dem Boden des Zeltes und haben uns in Schweigen geübt. Noch hat es kein Lebenszeichen seitens des Mannes gegeben. Bis jetzt.

»Valentin! So ungeduldig wie eh und je!« Die raue und unerwartete Stimme des Mannes lässt mich hochschrecken, während ich wie gebannt die Luft anhalte. Er kennt seinen Namen. Auch den Angesprochenen lässt diese neue Situation nicht kalt. Valentin hat sich innerhalb eines Herzschlags auf den Fremden gestürzt und hält ihm zu meiner Überraschung die blank polierte Klinge eines Dolchs an die runzlige Kehle. Ich habe keine Ahnung, wo er diese Waffe hergezaubert hat, ich habe sie bisher nicht bemerkt. Da wird mir klar, dass ich ihn noch nie mit einer richtigen oder wohl eher einer typischen Waffe in der Hand gesehen habe. Dieses Bild bereitet mit einerseits zittrige Angst, doch andererseits strahlt es unbändige Kraft aus.

»Woher kennen Sie meinen Namen?« Die Frage dringt als Zischen zwischen Valentins vor Wut zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Wenn du die Klinge wegnimmst, erwäge ich vielleicht, es dir zu erzählen, Jungchen.« Obwohl Valentin mit nur einer raschen Bewegung sein Leben beenden könnte, wirkt der Mann völlig entspannt. Und vollkommen zurechnungsfähig. Etwas verwunderlich, wenn man seinen Zustand von vor wenigen Minuten bedenkt.

Widerwillig steckt Valentin die Waffe in seinen Stiefel zurück – wie kann der mit einem Messer darin herumlaufen?!

– während ein knurrendes Geräusch aus seiner Kehle dringt. Wahrscheinlich sollte es beängstigend wirken. Ich finde es aber auf eine komische Art und Weise anziehend, auch wenn ich mir das nur ungern eingestehe. Eine leichte Gänsehaut überzieht meine Haut, obwohl ich die Kälte des Winters kaum mehr spüre. Vergessen ist alles um mich herum. Zumindest für kurze Zeit.

»Hast du vielleicht etwas Anstand und könntest mir etwas Wasser geben, Kindchen? Meine Kehle ist wie ausgetrocknet. So erzähle ich euch sicher keine Geschichte.« Sein erwartungsvoller Blick lässt mich verstehen, dass ich wohl das Kindchen bin. Wie reizend. Doch mein Mitgefühl und vor allem auch meine Neugier siegen und so beeile ich mich, ihm eine Wasserflasche zu reichen und warte gespannt darauf, was er uns zu erzählen hat. Kurz huscht mein Blick zu meinem Begleiter. Valentin scheint sich nur mit Mühe davon abhalten zu können, dem alten Mann erneut an die Kehle zu springen. Misstrauen spiegelt sich deutlich in seinen hellen Augen.

Nachdem der Mann ein paar Schlucke Wasser zu sich genommen hat, hält Valentin es scheinbar nicht mehr aus.

»So, und jetzt rücken Sie endlich raus mit der Sprache. Und Ihre Geschichten können Sie sich sparen. Wir wollen die Wahrheit hören und sonst nichts.«

»Jede Geschichte hat ihren wahren Kern! Doch keine Angst, ich werde euch keine Märchen erzählen. Wie auch ihr, war ich einst auf der Flucht. Auf der Flucht vor demselben Feind. Damals waren es noch andere Personen, bis auf einen natürlich: Brendanus.« Angewidert verzieht der Alte seine spröden Lippen. Neben mir saugt Valentin angespannt Luft zwischen den Zähnen ein. Wer auch immer dieser Brendanus sein mag. Ich glaube, wir mögen ihn nicht. Keiner von uns.

»Woher kennen Sie den Namen des Obersten?«

»Oboedi et ancillare!«

»Gehorche und diene …«, murmle ich irritiert vor mich hin. Was … was meint er damit?

»Sie … Sie sind …« Valentin gerät ins Stocken. In Sekundenschnelle blitzt der Dolch erneut auf. Langsam dämmert es auch mir.

»Ein beschenkter Jugendlicher? Nun … nicht mehr. Ich bin keinesfalls mehr jung und ein Teil der praeditii iuveni bin ich auch nicht mehr. Ihr habt also nichts zu befürchten.«

»Aber … wie«, setzt Valentin erneut an. Wie konnten Sie aussteigen?, vervollständige ich in Gedanken seine Frage.

Unser Gegenüber scheint auch so zu verstehen.

»Naja, das war nicht gerade einfach. Nicht umsonst bin ich in die Geschichte eingegangen, als der Einzige, der jemals den Klauen des Obersten entwischt ist«, kurz zögert er.

»Oder vielleicht weiß niemand davon, wenn ich eure Mienen so sehe? Jedenfalls bin ich ein Abtrünniger. Und ich habe überlebt. Ich denke, ich habe gerade an Wert für euch gewonnen.«

»Sie sind also wirklich ein ehemaliges Mitglied?«, frage ich vorsichtshalber nochmal nach. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles hier gerade real ist, oder ob ich lediglich höre, was ich so gerne hören würde. Mit einem Verbündeten an unserer Seite wäre alles so viel einfacher.

»Ja.«

»Und Sie konnten entkommen?«

»Wieder korrekt. Du bist ja eine richtige Blitzmerkerin, Kindchen.« Unkontrolliert macht sich Schamesröte auf meinen Wangen breit. Zumindest gehe ich davon aus, denn meine Haut beginnt verdächtig zu glühen.

»Wie um Himmelswillen konnten Sie lebendig entkommen? Und was machen Sie dann jetzt hier statt sich irgendwo weit, weit weg niederzulassen?« Valentin versucht gar nicht erst, ruhig zu klingen. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so aufgebracht erlebt. In seinen Augen tobt ein kalter Sturm, während sein ganzer Körper vor unterdrückter Anspannung bebt.

»Warum lauft ihr überhaupt weg, Jungchen? Mit ihr an deiner Seite, sollten die dir doch eigentlich alle aus der Hand fressen. Und Brendanus wird seinen Liebling doch ohnehin bereits schrecklich vermissen.« Wieder dieser Name, der Valentin zusammenzucken lässt. Wie wild schüttelt er den Kopf, scheint sich auf das Wesentliche konzentrieren zu wollen.

»Was reden Sie da überhaupt?«

Der Alte scheint ihm gar nicht richtig zuzuhören und wendet sich nun stattdessen gänzlich mir zu. Schwerfällig erhebt er sich, schleppt sich immer näher zu mir. Unschlüssig verharre ich auf meinen Knien. Eine vom Alter gezeichnete Hand streckt sich meinem Gesicht entgegen, doch die Berührung bleibt aus. Krumme Finger verharren Millimeter von meiner Stirn entfernt. Die Augen des Fremden huschen rasend schnell über mein Gesicht hinweg. Ein wirrer Ausdruck hat in ihnen Einzug gehalten.

»So stark … noch nie zuvor …« Der Mann brabbelt wie im Fieberwahn vor sich hin. Ein Schauer überläuft mich, als er mich an das Fantasy-Wesen Gollum erinnert, demnach wäre ich so etwas wie … der Ring sie zu knechten?

Valentin ergreift das Handgelenk des Mannes und zerrt ihn brutal von mir weg.

»Das reicht! Lassen Sie gefälligst Ihre Finger von ihr!« Ruckartig reißt der Mann sich frei. Seine milchig grauen Augen stieren in klare blaue.

»Du weißt es nicht, oder Jungchen? Habe ich Recht? Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht. Na, habe ich Recht? Ihre Gabe …« Ein siegessicheres Grinsen will sich in der Miene des Alten manifestieren. Ein gekonnter Kinnhaken Valentins wischt es ihm sofort wieder aus dem Gesicht.

»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon alleine hier draußen hausen. Doch das hat eindeutig seine Spuren hinterlassen. Sie halten von nun an den Mund. Ich will heute kein Wort mehr von Ihnen hören, außer sie werden gerne geknebelt.« Mit dieser Drohung bringt er den fremden Mann zum Schweigen. Mit seinem Gürtel umschlingt er die faltigen Handgelenke, zerrt den Mann hoch, hinter sich her und fesselt ihn schlussendlich an einen Balken im Inneren der schütteren Holzhütte. Das alles verfolge ich nur halbherzig. Eine eisige Klaue hat sich um mein Herz gelegt, lässt alles in einem düsteren Nebel ertrinken. Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht … Ihre Gabe … Seine Worte brennen sich in meine Gedanken, lassen meinen Geist erschaudern. Was hat das alles zu bedeuten? Das ist doch Blödsinn! Ich und begabt? Dass ich nicht lache. Ich bin höchstens begabt darin, gegen Türbalken zu laufen. Oder über Mülleimer zu stolpern. Aber da kann man doch kaum von Macht sprechen. Was, wenn er Recht hat? Wenn er mehr weiß als ich selbst? Der Nebel um mich wird dichter. Macht mich blind. Dringt in meine Nase, meinen Mund, meine Ohren. Er lässt mich röcheln. Ich befürchte, an meinen Zweifeln zu ersticken, als sich eine Hand vor mir abzeichnet, wie ein rettender Anker in einer tosenden Brandung. Es ist Valentins Hand. Begierig will ich danach greifen. Sehne mich nach seiner Kraft, seinem Schutz. Doch ich werde von der kratzigen Stimme des Alten unterbrochen.

»Ich weiß, dass ich Recht habe! Verschließe nicht deine Augen vor der Macht des Träumens, Kindchen!«

Und dann ist es zu spät. Ich falle. Falle in bodenlose Tiefe. Ertrinke in gewisperten Worten, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, bis ich weder tot bin noch mich lebendig fühle.

Feuerglimmen

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