Читать книгу Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi - Magnhild Bruheim - Страница 10
Budal, Mittwoch, 22.00 Uhr
ОглавлениеIn den Nachrichten um 22 Uhr kam etwas über den Mord: »Die Polizei in Lillehammer ermittelt in einem Mordfall. Eine Frau wurde gestern am Mesnaelva tot aufgefunden. Die Tote, eine Frau in den Dreißigern, wurde gegen 12.30 Uhr von einer Spaziergängerin entdeckt. Die vielen Verletzungen der Toten lassen darauf schließen, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Vorläufig hat die Polizei niemanden unter Verdacht.«
Es wurde ermittelt! Jon Ruud hatte nichts davon erwähnt. Am späten Nachmittag hatte Tone ihren ganzen Mut zusammengenommen und angerufen. Jetzt wusste die Polizei von Håkon Arfoss. Vielleicht würde die Polizei schon am nächsten Tag Kontakt zu ihm aufnehmen.
Tone fror und zog eine Jacke an. Jetzt war jeder Zweifel ausgeräumt: Die Frau, die sie gefunden hatte, war einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Die Nachricht war ins ganze Land ausgestrahlt worden. Noch immer hatte die Tote keinen Namen. War auch sie nur eine ganz gewöhnliche Spaziergängerin gewesen?
Die Nachrichten waren vorbei, doch im Radio wurde weitergeredet. Sie bekam nicht mit, was gesagt wurde, aber sie hatte Stimmen um sich. Als Gegengewicht zu dem schweigenden Dunkel draußen. Sie riss sich aus der Apathie, stand auf. Eine Tasse Tee wäre gut, dachte sie. Mit steifen Schritten ging sie in die Küche. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Aber das war unmöglich. Sie war allein und alle Gardinen waren zugezogen. Sie legte die Hände um den Wasserkocher. Spürte die von ihm ausgehende Wärme.
Die Küche war gemütlich, auch wenn sie renoviert werden musste.
Vor gut fünf Jahren war sie mit ihrem damaligen Lebensgefährten Stian nach Budal gezogen. Angefangen hatte alles mit einem verrückten und schönen Gedanken, der im Zusammenleben gewachsen war. Warum nicht ein Haus weit ab von Oslo kaufen? Vielleicht war die Vorstellung von einem Haus auf dem Land mit Katze und Kaninchen gar nicht so absurd. Jedenfalls wenn man Katze und Kaninchen wegließ. Sie wollten auf eine Arbeitsgemeinschaft bauen, ihre Jobs reduzieren und umdenken. Mehrere hunderttausend Kronen und Unmengen von Träumen investierten sie in das gute Leben. Sie schafften es, Bad, Schlaf- und Arbeitszimmer zu renovieren, bis er herausfand, dass das doch nicht das gute Leben war. Tone blieb mit einem teilweise renovierten Haus, größeren Schulden als je zuvor, einem halben Job einerseits und freiberuflicher Arbeit plus einer Überdosis an Frieden und Ruhe andererseits allein zurück. Heute Abend schätzte sie den Frieden und die Ruhe weniger denn je.
Als der Tee fertig war, fiel ihr ein, dass das Fenster im Schlafzimmer einen Spalt breit offen stand. Der Gedanke, in einem Kühlraum schlafen zu müssen, behagte ihr gar nicht. Sie zwang sich, nach oben zu gehen, um es zu schließen. Sie hatte den Fensterhaken in der Hand, als sie plötzlich auf Widerstand stieß. Das Fenster wollte nicht so wie sie. Ein kräftiger Windstoß blies dagegen. Erst als der Wind etwas nachließ, konnte sie es unter großem Kraftaufwand schließen. Der Wetterwechsel hatte sie vollkommen überrascht. Jetzt knackte es in den Wänden, als wollte der Wind das ganze Haus mitnehmen. Ein starkes Brausen vom Wald gegenüber erfüllte die Luft.
Tone wäre am liebsten im Schlafzimmer geblieben und hätte sich unter der Decke versteckt. Aber unten brannten alle Lichter und der PC war noch eingeschaltet. Sie ging wieder hinunter. Hier spürte man den Wind weniger. Dafür hörte sie ein neues Geräusch von der Welt da draußen. Regen. Landregen, der vom Wind gegen den Hang geschleudert wurde.
Die Worte auf dem Monitor starrten sie an. Sie hatte versucht, die Ideen für ihre freiberufliche Arbeit zu systematisieren. Einen Arbeitsplan zu erstellen. Am frühen Abend war sie schon unkonzentriert gewesen, jetzt war es noch schlimmer. Das Telefon war ihre Rettung. Die Uhr zeigte halb elf. Irene Eikeli nahm zu Hause nicht ab, ging aber ans Handy. Sie war auf der Arbeit, konnte nicht reden, wollte jedoch versuchen, später zurückzurufen. Auf jeden Fall hatten sie sich ja für den kommenden Abend verabredet, erinnerte sie die Freundin. Mette Hermansen war mit Kollegen aus, sagte ihr Mann. Vielleicht konnte sie mit einem ihrer Chatfreunde reden? Vor ein paar Stunden hatte sie eine neue lange Mail von Orion bekommen, auf die sie geantwortet hatte. Vielleicht lag neue Post für sie bereit. Sie schloss das Textdokument, rief das Outlook-Programm auf und klickte erwartungsvoll auf Posteingang. Eine neue Mail. Von Orion. Ich warte auf dich. Kommst du heute Abend? Ich horche auf deine Schritte, deinen Atem. Wenn das Dunkel uns umgibt und andere zur Ruhe gehen, ist es für zwei Nachtmenschen Zeit sich zu treffen. Für die, die die Tage nicht im Griff haben, können die Nächte ein Trost sein. Weil unsere Seelen ... In der Nacht kommen wir uns und anderen am nächsten. Ich sehne mich nach deiner Nähe. Wagst du es, mit mir in die Nacht zu gehen? Wagst du es, einen Schritt weiter zu gehen? Der Text, der nun erotischer wurde, nahm Tone gefangen.
Wenn du dich hingelegt hast, kannst du meine Hand spüren, die deinen nackten Körper streichelt. Zieh dich ganz aus, damit ich dich sehen kann, wie du bist. Genieße meine Liebkosungen, meine Hände, die sich über deine Brüste nach unten bewegen, zum Bauch, zum Schritt ... Sie war verunsichert. Doch alles war schließlich anonym. Sie konnte kühn sein. Sie schrieb zurück, dass sie mit ihm zusammen in die Nacht gehen, dass sie ihn mit ins Bett nehmen wolle.
In der nächsten Mail wurde er noch intimer, ging detaillierter zu Werke, kam mit Vorschlägen. Sie strich sich mit der rechten Hand über die Brüste, klemmte die Brustwarzen ein. Versuchte, sich vorzustellen, es sei ein fremder, aufregender Geliebter. Sie spürte die Erregung. Sollte sie mitmachen? Sie las weiter, zog den Reißverschluss ihrer Hose herunter, schob die Hand hinein, fand eine Stellung, in der sie sich spüren konnte. Der Mittelfinger glitt in die warme, nasse Spalte. Sie schloss die Augen und gab sich ihren Empfindungen hin.
Aber dann hörte sie auf. Sie konnte das nicht. Oder wollte es nicht. War wieder in dem Zimmer, vor dem PC, bei dem Mord, dem Mann, den sie im Wald gesehen hatte. Schnell schloss sie die Mail, beendete die Korrespondenz für den Abend und fuhr den PC herunter. Stattdessen schaltete sie den Fernseher ein und zappte zwischen den drei Kanälen, die sie empfangen konnte, hin und her. Nichts von Interesse, Ende, aus.
Sie ging in die Küche, um das Licht auszumachen. Ihre Jacke hing über einem Stuhl und erinnerte sie an den Zettel, den sie in eine der Taschen gesteckt hatte. Sie holte den Zettel heraus. Eine Restaurantquittung. Sie musste sie irgendwann beim Holzholen verloren haben.
Ein Geräusch ließ sie erstarren. Es klopfte an der Außentür. Wer kam zu dieser Zeit hierher? Sie blieb ganz still stehen. Hielt den Atem an. Rührte nicht einen Finger. Es klopfte mehrmals. Hörte sie Schritte auf dem Kies?
Zeit und Ort existierten nicht länger. Die Angst hielt sie gefangen. Als sie sich wieder bewegen konnte, wusste sie nicht, wie lange sie so gestanden hatte. Kein Laut war mehr zu hören. Sie hielt die Restaurantquittung immer noch in der Hand. Sie war von einem italienischen Restaurant, dessen Name ihr nichts sagte. Die Rechnung ließ darauf schließen, dass zwei Personen dort gewesen waren. Eine Flasche Wein, zwei Hauptgerichte, zwei Desserts, zwei Kaffee. Die Quittung war auf den 3. Oktober datiert. Was hatte sie an diesem Tag vor zwei Wochen gemacht? Es musste ein Mittwoch gewesen sein, rechnete sie zurück. War das nicht der Tag, an dem sie das erste Interview für die Dokumentarreihe gemacht hatte? Sie würde in ihrem Terminkalender nachsehen, war sich aber bereits sicher, dass dieser Zettel nicht aus ihrer eigenen Tasche gefallen war.