Читать книгу Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi - Magnhild Bruheim - Страница 6
Polizeiwache Lillehammer, Dienstag, 14.15 Uhr
ОглавлениеTone Tarud war eine wichtige Zeugin. Eine wichtige Informantin. Jetzt saß sie dem Polizisten gegenüber, mit dem sie bereits oben am Fluss gesprochen hatte.
»Wir möchten gerne, dass Sie uns genau schildern, was passiert ist«, sagte Ruud. »Sowohl bevor als auch nachdem Sie die Frau gefunden haben. Dinge, die Sie gesehen oder gehört haben ... Sind Sie jemandem begegnet?«
Sie hatte die Frage erwartet, hatte die letzte halbe Stunde darüber nachgedacht. Ja, sie hatte auf ihrem Spaziergang ein paar Personen gesehen. Zum einen einen Mann, der ihr ziemlich eilig entgegengekommen war, ungefähr eine Viertelstunde bevor sie die Frau gefunden hatte. Sie hatte ihn für einen Wanderer gehalten. Der anderen Person war sie noch früher begegnet. Oder korrekter – sie hatte ihn noch früher gesehen. Ja, auch das war ein Mann gewesen. Tone hatte sich sogar ein wenig erschrocken. Er war vor einer der am Weg liegenden Hütten herumgelaufen. War plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht. Deshalb hatte sie sich erschrocken und war schneller gegangen. Wenn sie genauer nachdachte, meinte sie sich zu erinnern, dass er etwas auf dem Arm gehabt hatte. Tone erzählte, so gut und detailliert sie konnte. Sie erwähnte auch die Person an dem Badesee, um nichts auszulassen.
»Wie sahen die Männer aus?«
Das war schon schwieriger. Der erste Mann hatte leichte Wanderkleidung getragen, dunkel, meinte sie. Er hatte blondes, kurzes Haar, schon etwas gelichtet. Nicht besonders groß, nicht besonders klein. Mitte vierzig, schätzte sie. Die Sache war die, dass sie ihn sich nicht so genau angesehen hatte. Wenn sie auf einem Spaziergang jemandem begegnete, tat sie eins von zwei Dingen: Sie sah dem anderen in die Augen und sagte vielleicht noch Hallo. Oder sie blickte zu Boden oder in die andere Richtung, als hätte sie den anderen gar nicht bemerkt. Heute hatte sie sich für die letzte der beiden Varianten entschieden. Um genau zu sein, hatte sie in ihrem Rucksack nach einer Wasserflasche gesucht, als er vorbeigekommen war. Über den Mann vor der Hütte ließ sich noch weniger sagen. Er mochte um die fünfzig gewesen sein, war ebenfalls mittelgroß, glaubte sie. Aber es konnte auch die graue, dicke Jacke sein, die ihn älter und schwerer hatte erscheinen lassen, als er war.
»Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Frau vorher noch nie gesehen haben?«, fragte Ruud. Sein Blick hielt sie einige Sekunden lang fest.
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte Tone. »Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen.«
Ruud bediente schnell seine PC-Tastatur. »Wir haben ein paar Bilder eingescannt«, sagte er. Er drehte den Monitor leicht, aber sie musste trotzdem neben ihn treten, um etwas sehen zu können.
Ein Farbbild nahm den Großteil des Monitors ein. Das Gesicht war bleich, gelblich weiß, die Haut glatt, die Augen geschlossen. Der Mund stand halb offen, die Oberlippe war auf einer Seite stark geschwollen. Auf der rechten Stirnseite klaffte eine große offene, blutige Wunde. Das blonde Haar war zerzaust.
Tone hatte bisher erst einen Toten gesehen, vor zwanzig Jahren, und das war ihr Großvater gewesen, ein Achtzigjähriger, der friedlich in seinem Sarg lag. Das hier war etwas ganz anderes. Gemischte Gefühle stiegen in ihr auf. Die Frau auf dem Bild war von einem dramatischeren Tod eingeholt worden, daran bestand kein Zweifel. Wieder hatte Tone das Gefühl, dass ihr etwas an ihr bekannt vorkam. Das Gefühl war diesmal stärker. Gleichzeitig war sie sich sicher, sie nicht zu kennen. Andernfalls hätte sie gewusst, wer sie war, selbst wenn der Tod das Gesicht verändert hatte. Vielleicht war sie ihr schon einmal begegnet oder hatte sie in der Stadt gesehen.
Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. »Hat sie sich die Wunde bei dem Sturz zugezogen?«, fragte sie und versuchte zu verbergen, dass sie auf Informationen aus war.
»Das wäre nicht verwunderlich«, antwortete Ruud, bevor er hinzufügte: »Was die Todesursache angeht, die steht noch nicht fest. Deshalb wollen wir auch keine Spekulationen.« Letzteres wurde in einem sehr bestimmten Ton gesagt.
Tone war nicht bereit, sich so schnell geschlagen zu geben. »Aber die Wunde am Hinterkopf?«, fragte sie.
»Wie gesagt, wir wissen es noch nicht.«
»Aber Sie untersuchen den Fall?«
»Wir müssen schließlich die Todesursache klären.«
»Kommt Ihnen irgendetwas verdächtig vor?«, versuchte es Tone.
»Sie sind Journalistin, da sind wir besser vorsichtig mit dem, was wir sagen«, meinte er lächelnd. »Es ist zu früh, um Informationen an die Presse zu geben. Sie rücken uns bereits auf die Pelle. Ein Journalist des NRK war in der Leitung, noch bevor wir von dem Lokaltermin zurück waren. Sie haben einen Tipp bekommen«, fügte er kurz hinzu. Es bestand kein Zweifel, wen er bezüglich des Tipps in Verdacht hatte.
»Aber es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis Sie selbst damit an die Öffentlichkeit gehen müssen«, wandte Tone ein.
»Es ist nur so verdammt beschwerlich, Zeit auf aufdringliche Journalisten zu verschwenden, wenn wir alle Hände voll zu tun haben. Und das Einzige, was wir sagen können, ist, dass wir nichts sagen können. Wenn man auf die gleiche Frage hundertmal geantwortet hat, möchte man nur noch den Hörer aufknallen.«
Tone wagte es nicht, die Angelegenheit weiter zu vertiefen.
»Haben Sie jemanden gefunden, mit dem Sie reden können?«, sagte Ruud, jetzt in einem milderen Ton.
»Ich werde mich mit einer Freundin treffen«, antwortete sie.
Mette Hermansen und Tone Tarud waren auf dem Gymnasium Freundinnen gewesen. Nach dem Abitur besuchten beide die Pädagogische Hochschule. Doch während des Studiums wurde Tone von einem Kommilitonen schwanger. Darauf folgten eine schnelle Hochzeit, die Geburt der Tochter Emma und eine ebenso schnelle Scheidung. Tone schrieb sich auf der Hochschule für Journalistik ein und bekam einen Job beim NRK. Die früheren Freundinnen verloren allmählich den Kontakt zueinander. Doch vor ein paar Jahren hatten sie sich zufällig in Lillehammer wiedergetroffen. Wie sich herausstellte, arbeitete Mette an der dortigen Schule als Lehrerin.
Tone fand Mette, wie verabredet, in einem Café in der Storgata. Mit einer Tasse schwarzen Kaffees und einer Zigarette. Wie gewöhnlich. Das war das Problem mit ihr, dass man immer im Raucherbereich sitzen musste. Tone legte ihre Jacke auf einen Stuhl und ging zur Theke, um sich einen Caffè latte zu holen.
»Weißt du, dass das der kalorienreichste Kaffee ist, den es gibt?«, sagte Mette aufbauend, als Tone zurückkam. »Mit der ganzen Milch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis ich das gelesen habe.«
»Es gibt wohl Schlimmeres als ein paar Extrakalorien«, sagte Tone. »Im Moment kreisen meine Gedanken um beunruhigendere Dinge.«
»Ja?«, sagte Mette und gab das Signal, dass sie bereit war. »Am Telefon hast du gesagt, dass du etwas Furchtbares erlebt hast.«
Tone sah sich um, beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Ich habe eine Leiche gefunden. Ich bin am Fluss entlang von Mesnali in die Stadt gegangen. Plötzlich habe ich in einer Felsspalte eine tote Frau entdeckt.«
Mette starrte sie an. »Ein Unfall?« Sie zündete sich eine neue Zigarette an.
»Die Todesursache ist noch unklar. Sie hatte eine große Wunde am Hinterkopf.« Das Bild kam zurück. Plötzlich hatte Tone das Gefühl, auch eine Zigarette gebrauchen zu können. Ohne zu fragen, nahm sie sich eine aus Mettes Päckchen. Es war lange her, seit sie das letzte Mal geraucht hatte.
»Du lieber Himmel.« Mette starrte sie mit großen Augen an.
»Ich muss meine Nerven beruhigen«, sagte Tone. »Ist das okay?«
»Bedien dich«, sagte Mette großzügig. »Ich will genau wissen, was passiert ist.«
»Ich habe natürlich die Polizei informiert«, fuhr Tone fort und nahm einen Zug. Inhalierte tief.
»Was haben die gesagt?«
»Sie wollten alles wissen, ob ich jemanden gesehen habe, Personenbeschreibungen, auf der Polizeiwache haben sie mir dann ein Bild von dem Gesicht der Toten gezeigt ...« Sie zog erneut an der Zigarette. Aber es beruhigte die Nerven nicht. Ganz im Gegenteil, der Körper wurde noch unruhiger. Übelkeit war im Anzug. Sie machte die Zigarette aus und trank einen Schluck Kaffee, aber das machte die Sache auch nicht besser. Sie suchte nach der Toilette. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber es kam nichts heraus.
»Nach so einem Erlebnis ist einem schon etwas sonderbar zu Mute«, sagte Tone, als sie zurückkam.
»Ja, sicher. Du musst doch völlig fertig sein«, sagte Mette verständnisvoll. Dann sah sie auf die Uhr und erklärte, dass sie noch etwas vorhabe. »Ich muss in einer halben Stunde zum Training. Komm mit, dann bekommst du vielleicht ein bisschen Abstand.«
Tone hatte nicht die geringste Lust, ins Fitnessstudio zu gehen, aber sie hatte noch weniger Lust, sich selbst überlassen zu bleiben. Bis zu ihrer Verabredung waren es noch drei Stunden. Wenn sie die nicht absagen wollte, musste sie sich überlegen, was sie solange mit ihrer Zeit anfangen sollte. Sie konnte also ebenso gut Mette begleiten.
Auf der Fahrt zum Strandtorget hinunter erzählte Tone von ihren Plänen für den Abend. Dass sie sich mit einem Mann treffen wollte, den sie noch nie gesehen hatte. Ein Blind Date. Mit jemandem, den sie im Internet kennen gelernt hatte.
»Du scheinst es zu lieben, aufregend zu leben«, sagte Mette und sah sich nach einem freien Parkplatz um.
»Ich arbeite an einer Radiosendung über Menschen, die ihre Partner über das Internet gefunden haben«, erklärte Tone. Das war zumindest ein Teil der Wahrheit. »Ich weiß nur nicht, ob ich nach dem, was heute passiert ist, eine Verabredung durchstehe«, fügte sie hinzu.
Sie gingen langsam auf das Gebäude zu, das einmal eine große Fabrik gewesen war. Tone bat um eine Probestunde. Sie hatte im letzten Jahr mit dem Training aufgehört und deshalb nach Weihnachten ihre Mitgliedschaft gekündigt.
Erst als sie in der Trainingshalle stand und die Stunde begonnen hatte, begriff sie, dass es sich um eine Doppelstunde handelte. Für durchtrainierte Leute. Um sie herum hüpften und schwitzten und amüsierten sich alle. Alles Frauen. Tone amüsierte sich nicht. Am schwierigsten war die Synchronisation von Armen und Beinen, was ihr einfach nicht gelang. Auch die Gedanken spielten nicht mit. Sie wollten hoch in den Wald und sich die Leiche ansehen. Das Erlebnis ließ sie nicht los.
Nach einer halben Stunde verließ sie die Halle. Sie fühlte sich mutlos, schlecht in Form und ein bisschen zu dick. Der einzige Trost war die Sauna.
Sie spritzte so viel Wasser auf den Ofen, dass die Hitze kaum auszuhalten war. Während sie den Schweiß aus allen Poren strömen spürte, entschloss sie sich, ihre Verabredung einzuhalten.