Читать книгу Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi - Magnhild Bruheim - Страница 5

Mesnaelva, Dienstag, 16. Oktober 2001, 12.35 Uhr

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Alles begann mit einem roten Limonadenverschluss. Einem einzelnen Verschluss aus Plastik. Einem kleinen Farbfleck, der in der grauen Landschaft leuchtete. Der Verschluss lag auf dem schwarzen Felsen. Hätte der rote Fleck nicht ihren Blick eingefangen, hätte Tone Tarud die tote Frau sicher nicht gesehen.

Der Farbfleck zog sie an. Ein paar Schritte und sie entdeckte, dass irgendetwas in der breiten Felsspalte einige Meter unter ihr lag. Neugierige Verwunderung führte sie näher. Bis sie sah, was es war. Das heißt, zuerst begriff sie nicht, was sie sah. Deshalb vergingen einige Sekunden, bevor sie reagierte.

Die Frau hatte blondes, halblanges Haar und lag mit dem Gesicht zur Erde. Irgendetwas an ihr kam Tone bekannt vor. Sie trug eine Jacke aus dunklem, grobem Stoff, Wolle vielleicht, und eine dunkle Hose. Ein Arm war unter dem Körper verborgen, der andere nach vorn gedreht. Mitten in dem blonden Haar war ein Fleck in der gleichen Farbe wie der Limonadenverschluss. Vielleicht ein wenig dunkler. Und größer. Rotes, frisches Blut.

Tone nahm die Szene langsam in sich auf. Versuchte, eine logische Erklärung zu finden. Die seltsame Stellung. Das Blut, das am Hinterkopf klebte. Die Frau musste gestolpert und in die Felsspalte gefallen sein. Zwei Meter weiter unten fiel der Felsen steil ab. Es wäre leichter zu verstehen gewesen, wenn sie dort hinuntergefallen wäre.

Tone Tarud griff nach dem Handy in ihrer Tasche. Wie lautete die Nummer der Polizei? 110? 112? 113? Warum konnte sie sich das einfach nicht merken?, dachte sie verzweifelt. Sie bemühte sich, die richtigen Tasten zu finden. Sie versuchte es mit der 112. Und landete bei der Feuerwehr. Die richtige Nummer war die 110. Ihre Stimme ließ sich genauso schwer unter Kontrolle bringen wie ihre Finger, als sie dem Polizisten am anderen Ende erklärte, wer sie war. Bevor sie begriffen hatte, was sie tat, hatte sie versprochen, vor Ort zu bleiben, bis die Polizei eintraf. Sie bereute es sofort.

Hier konnte sie keine Sekunde länger bleiben! Sie wollte hinunter in die Stadt, unter Menschen. Hier war sie ganz allein ... oder? Das rote Blut im Haar. Vielleicht beobachtete sie in diesem Moment jemand durch den Nebel, von einem Versteck im Wald aus? Ihre Brust schnürte sich zusammen. Sollte sie die 110 noch einmal wählen und sagen, dass sie keine Zeit hatte? Wie immer gewann das Pflichtgefühl die Oberhand. Aber da war auch noch etwas anderes: eine neugierige Spannung, die sich nicht leugnen ließ. Was war hier passiert?

Sie wollte nicht auf dem Felsen stehen bleiben. Sie zog sich zurück. Näher zum Weg hin. Hier fand sie einen Sitzplatz, der ihr eine gute Aussicht ermöglichte. Gleichzeitig gab er ihr das Gefühl, nicht ganz so auf dem Präsentierteller zu sitzen. Eine nasse Kälte vermischte sich mit Angst und Neugierde.

Die Gedanken ausschalten. Oder sich mit anderen Dingen beschäftigen. Mit dem Abend. Mit ihrem Blind Date. An diesem Tag, der so gut angefangen hatte. Sie war um 7.30 Uhr aufgewacht und hatte etwas empfunden, was Lebenslust ähnelte. Lust auf den Tag. Lust aufzustehen. Vielleicht war sie endlich auf dem Weg aus dem schwarzen Loch, in dem sie allzu lange gesteckt hatte. Nicht einmal der Anblick des dichten Nebels, der die Landschaft erstickte, hatte sie entmutigen können. Sie hatte einen Plan für den Tag gehabt, der damit begann, dass sie zu Fuß nach Lillehammer gehen wollte. Den ganzen langen Weg von ihrem Haus in Mesnali aus. Das hatte sie erst ein Mal gemacht, seit sie vor fünf Jahren in diese abseits gelegene Gegend gezogen war.

Und jetzt saß sie hier im Wald und fror. Die Bilder kamen wieder und holten sie an den Ort des Geschehens zurück. Rotes Blut in blondem Haar. Gelbes Laub auf schwarzem Fels. Der Limonadenverschluss. Sie bewachte eine Leiche. Bei dem Gedanken an die Frau, die zwanzig Meter unter ihr in der Felsspalte lag, schlug ihr Herz schneller. Wer war sie?

Sollte sie doch die Polizei anrufen und sagen, dass sie nicht warten konnte? Der Boden war feucht und sie saß unbequem. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Der Gedanke an Mord kam ihr in den Sinn. Eigentlich war er sofort da gewesen, als sie die Leiche entdeckt hatte. Doch jetzt kam er näher, wurde aufdringlicher. War die Frau ermordet worden? Oder war ihre Fantasie von dem Projekt, das sie gerade verfolgte, beeinflusst? Sie arbeitete an einer Sendereihe über Morde.

Alles wirkte ganz still, auch wenn die Ohren das Rauschen des Flusses und des Waldes aufnahmen. Falls hier jemand herumschlich, würde sie ihn vielleicht erst bemerken, wenn er ganz nahe war. Wo blieb die Polizei? Auf dem Teil des Weges, den sie einsehen konnte, war kein Zeichen von Leben zu entdecken. Die Uhr zeigte zwei Minuten nach eins. Zwanzig Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen. Dauerte es wirklich so lange, von der Polizeiwache hierher zu fahren, zu parken und vom Parkplatz heraufzukommen? 13.02 Uhr. Wenn sie noch lange warten musste, kam sie zu spät zu ihrem Interview.

Ihr linker Fuß schlief langsam ein. Sie musste aufstehen, die Stellung wechseln. In dem Moment, in dem sie sich erhob, knackte es in den Büschen ein paar Meter unter ihr. Angst überkam sie und sie zuckte zusammen. Rührte sich da unten nicht etwas? Nur eine Sekunde, dann war es vorbei.

Ein Vogel flog auf, ebenso erschrocken wie sie. Sie hatte ihn wohl gestört. Sie musste die Angst vor Geräuschen überwinden, indem sie selbst Geräusche machte. Sie musste jemanden anrufen, reden. Sie hatte das Handy schon in der Hand, als zwischen den Bäumen etwas auftauchte. Erneut spürte sie die Angst, bis sie sah, dass es Polizisten waren. Endlich. Zwei schwarze Uniformen näherten sich, Schritt für Schritt. Ihr Körper war steif, als sie sich erhob, um ihnen entgegenzugehen.

»Høistad.«

»Ruud.«

Die beiden Polizeibeamten stellten sich vor. Beide hatten warme Hände. Tone sagte ihren Namen, wie sie das auch am Telefon getan hatte, und zeigte ihnen die Fundstelle. Sie selbst hielt sich ein wenig auf Abstand. Doch nur so weit, dass sie noch etwas sehen konnte. Wenn sie schon einmal hier war, wollte sie auch alles mitbekommen. Außerdem wusste sie, dass man sie bitten würde zu warten, um sie genauer zu befragen.

Nach einer kurzen Inspektion der Leiche holte einer der beiden sein Handy heraus. Der andere kam zu Tone zurück. »Kennen Sie die Frau?«, fragte er.

»Sie meinen ...?« Sie nickte in Richtung der toten Frau. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Sie haben uns um 12.40 Uhr angerufen. Wann haben Sie sie gefunden?«

»Unmittelbar davor ... natürlich.« Konnte daran ein Zweifel bestehen?

»Gegen 12.35 Uhr also?« Er notierte sich die Zeit auf einem kleinen Block, ohne Tone anzusehen. Sein Haar war leicht gelockt und er hatte eine hohe Stirn. Das Gesicht war rund mit einer etwas platt gedrückten Nase, der Körper mittelgroß und kräftig. Er war jung, kaum über dreißig. »Was haben Sie hier gemacht?«, fragte er.

»Ich war auf dem Weg ... in die Stadt.« Sie stotterte leicht.

»In die Stadt? Von wo aus?«

»Von Mesnali. Da wohne ich.«

»Und da gehen Sie zu Fuß?« Er schien das merkwürdig zu finden. Fast schon verdächtig. Dann fügte er hinzu: »Das ist ein gutes Stück.«

»Mir war nach einem Spaziergang.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«, wollte er wissen.

Tone versuchte zu erklären, dass sie sich vom Weg entfernt hatte, den Felsen hinaufgeklettert war, um die Aussicht zu genießen und eine Pause zu machen. Plötzlich hatte sie den leblosen Körper entdeckt. Sie erzählte auch von dem roten Limonadenverschluss.

Der Polizist machte sich ein paar Notizen. »Während Sie hier gesessen und gewartet haben«, sagte er, »haben Sie da jemanden gesehen oder mit jemandem geredet?«

»Nein«, antwortete sie.

»Wir würden uns später gerne noch eingehender mit Ihnen unterhalten«, sagte der Lockige und steckte das Notizbuch in die Brusttasche. Er sah auf die Uhr. »Können Sie um, sagen wir, zwei auf die Wache kommen?«

»In Ordnung«, sagte Tone und rührte sich nicht vom Fleck. »Ist sie ..., ist sie gestürzt?«, fragte sie, während sie ihren kleinen Rucksack auf den Rücken schnallte. Sie fand, dass die beiden ihr eine Erklärung schuldig waren.

»Es ist noch zu früh, um dazu etwas zu sagen«, antwortete er abweisend. »Sie muss erst genauer untersucht werden«, fügte er hinzu. Als wollte er den abweisenden Ton wieder gutmachen. »Der Krankenwagen ist unterwegs. Aber es ist nicht leicht, hierher zu kommen. Sie müssen mit der Trage durch den Wald.« Er ging zu seinem Kollegen und sagte etwas zu ihm.

Tone zögerte und blieb noch eine Weile stehen. Sie wusste nicht, worauf sie wartete. Auf nichts, eigentlich. Doch irgendetwas hielt sie fest.

Ruud kam zu ihr zurück. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er. Fürsorglich. »Wollen Sie warten und mit uns zusammen hinuntergehen?« Seine Augen waren braun.

»Es ist nicht mehr weit«, antwortete sie. »Wenn das also alles ist?«

»Brauchen Sie jemanden zum Reden?«

Genau das brauchte sie. »Ich rufe Freunde an«, sagte sie.

»Melden Sie sich, falls Sie professionelle Hilfe brauchen.«

Sie bedankte sich höflich und entfernte sich einige Schritte von dem Felsen. Dann folgte sie langsam dem Weg bergab. Kälte und Angst hatten sich im Körper festgesetzt und sie schaffte es nicht, sie abzuschütteln. Ihre Füße begannen wie von selbst zu laufen und blieben erst stehen, als sie unten beim Birkebeiner angekommen war. Hier war sie als Kind einmal in der Jugendherberge gewesen. Der Polizeiwagen stand zusammen mit ein paar anderen Autos auf dem Parkplatz. Ansonsten war weit und breit kein Mensch zu sehen. Ihre Hand griff nach dem Handy in der Tasche. Zeit, jemanden anzurufen. Aber wen? Ihr erster Gedanke galt ihrer Tochter, Emma. Aber die konnte sie nicht anrufen, Emma würde nur Angst bekommen. Besser eine Freundin. Sie hatte Glück und erreichte Mette Hermansen. Mette wohnte in der Stadt und konnte Tone nach der Arbeit treffen. Dann sagte sie das Interview ab, für das sie ohnehin zu spät dran war.

Der Nebel machte keine Anstalten, sich zu lichten. Eher das Gegenteil war der Fall. Er legte sich dichter um sie. Tone ging in ihrem normalen Tempo weiter. Sie hatte noch Zeit für eine Tasse Kaffee, bevor sie auf der Polizeiwache sein sollte. Plötzlich zuckte sie zusammen. An dem künstlich angelegten Badesee bewegte sich etwas. Durch den grauen Nebelschleier konnte sie nicht viel erkennen. Aber da stand jemand. Sie fühlte sich unbehaglich. Blieb stehen. Hatte die Person vor, hineinzuspringen? Zu dieser Jahreszeit war bestimmt nicht viel Wasser in dem Becken. Trotz der schlechten Sicht hatte sie den Eindruck, dass es sich um einen Mann handelte. Er beugte sich vor. Was tat er da?

Nein, hier konnte sie nicht stehen bleiben. Ließ das gerade Erlebte alle Menschen verdächtig erscheinen? Sie beschleunigte den Schritt, bis sie sich dem Stadtzentrum näherte. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, das hiesige Büro des Norsk Rikskringkasting anzurufen und ihnen einen Tipp zu geben. Als Mitarbeiterin beim NRK war sie dazu verpflichtet. Außerdem konnten die Nachrichtenredakteure bestimmt schneller als sie in Erfahrung bringen, was passiert war.

Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi

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