Читать книгу Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi - Magnhild Bruheim - Страница 7
Rica Hotel, Dienstag, 19.10 Uhr
ОглавлениеEr würde in der Bar sitzen. So hatten sie es verabredet. Tone kam zehn Minuten zu spät, er müsste also schon da sein. Sie blieb in der Tür stehen, um einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Bestimmt beobachtete er sie. Sah ihr Zögern, taxierte sie und dachte: Das muss sie sein, sie passt zu der Beschreibung. Blondes Haar, normale Figur, durchschnittlich groß, schwarze Hose mit leichtem Schlag, kurze, schwarze Lederjacke. Sie hatte ihm gemailt, was sie anhaben würde.
In der kleinen Bar saßen nur acht oder zehn Personen, und ihr Blick fiel schnell auf einen Mann, der ihr zuwinkte. Hier bin ich. Komm rüber. Tone ging langsam auf ihn zu und versuchte, sich an den Anblick des Mannes zu gewöhnen, der dort saß. Ihn in sich aufzunehmen und zu akzeptieren. Zu versuchen, den Teil seines Ichs zu finden, den sie bereits kannte.
Der erste Eindruck war enttäuschend. Das ließ sich nicht leugnen. Er stimmte nicht mit dem Bild überein, das sie sich von ihm gemacht hatte.
»Håkon Arfoss.« Er stand auf und gab ihr die Hand.
»Tone Tarud.« Sie lächelte entgegenkommend. Sie mussten offen und positiv sein. Einander eine Chance geben. So lauteten die ungeschriebenen Regeln. Jetzt sollten sie sich erst einmal unverbindlich kennen lernen und herausfinden, ob sie sich miteinander wohl fühlten.
»Was möchtest du trinken?« Er blieb stehen und wartete auf ihre Antwort.
»Ein Glas Rotwein«, sagte sie schnell. Sie wollte keinen unentschlossenen Eindruck machen. Lieber lebhaft und selbstsicher erscheinen.
Mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie sich setzen sollte, während er sich um die Getränke kümmerte. Tone folgte ihm mit den Augen. Jetzt war sie an der Reihe, ihn aus der Distanz zu betrachten. Als Erstes fiel ihr auf, dass sein blondes Haar dünner war, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Beine waren kürzer. Vielleicht war er ein wenig o-beinig. Aber warum mit den Mängeln beginnen? Er war höflich, freundlich, ein Mann, der einem in die Augen sah. Aus den E-Mails wusste sie, dass sie gemeinsame Interessen hatten. Er hatte Kontakt zu ihr aufgenommen, nachdem er ihr Profil gelesen hatte.
Tones Chataktivitäten hatten mit der Idee zu einer Sendereihe begonnen. Sie wollte eine Reportage über die verschiedenen Methoden der Partnersuche von Singles machen. Eine davon war das Internet. Sie loggte sich in einen Chatroom ein und erstellte ihr Profil. Ehe sie sich versah, wurde sie mit E-Mails von unbekannten Männern überschwemmt. Warum nicht einen Schritt weiter gehen?, dachte sie. Warum nicht einen oder zwei der Männer treffen und sehen, was passiert?
Mit einem von ihnen war sie jetzt verabredet. In den Mails war sie forsch aufgetreten, hatte geschrieben, dass sie Herausforderungen liebe. Dass sie sich für Bergsteigen, Gletscherwanderungen und Wildwasserfahrten interessiere, aber niemanden habe, mit dem sie diese Sportarten betreiben könne. Er hatte geantwortet, dass er gerne mitmachen wolle. Im Laufe des Abends sollte sich zeigen, wie risikobereit sie wirklich waren.
Håkon Arfoss kehrte dem Bartresen den Rücken und kam mit einem Weinglas auf sie zu. Tone versuchte, die Gedanken an die tote Frau aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie konnte jetzt nicht über sie reden, nicht mit einem Fremden. Die Lokalnachrichten um 18 Uhr hatten berichtet, dass die Polizei das Gebiet um den Fundort der Leiche abgesperrt hatte. Das konnte nur bedeuten, dass etwas an ihrem Tod verdächtig war. Vielleicht konnte sie den Vorfall ganz beiläufig erwähnen. Sagen, dass sie zufällig im Radio davon gehört hatte.
»Prost, auf unsere Verabredung!«, Tone hob ihr Weinglas. Der Wein war sauer. Billiges Gesöff, dachte sie.
Er antwortete, indem er das Pilsglas hob, das er schon zur Hälfte geleert hatte. »Findest du die Situation eigentlich merkwürdig?«, fragte er.
»Natürlich ist sie irgendwie merkwürdig«, sagte Tone und begegnete seinem festen Blick. Seine Augen schienen grau zu sein, doch konnte das Licht in der Bar auch täuschen. »Sehr merkwürdig«, antwortete sie und versuchte sich an einem Lachen.
»Hast du dich schon mit vielen Männern getroffen?«, fragte er direkt. In den Mails hatten sie darüber nichts geschrieben.
Eigentlich kann ich auch ehrlich sein, dachte sie und sagte: »Mit drei oder vier.«
»Drei oder vier?«
»Mit dir sind es vier. Und du?«, fragte sie schnell zurück.
»Zwanzig, dreißig«, lachte er. Tone lachte nicht. »Das war etwas übertrieben«, fügte er hinzu und lächelte. Seine Zähne waren gerade und schön. »Ungefähr so wie du. Vier oder fünf vielleicht.«
»Wie lange machst du das schon?«
»Bald ein halbes Jahr. Ohne die Richtige gefunden zu haben.« Es war schwer zu sagen, ob er versuchte, einen Scherz zu machen, oder ob er es ernst meinte. »Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und du?«
Und sie? Was sollte sie darauf antworten? Sie hatte ihm nichts von der Sendereihe erzählt. »Mit einigen habe ich immer noch E-Mail-Kontakt«, sagte sie ausweichend. »Mehr nicht.« Tone hatte keine Lust, über die anderen zu reden. Das war privat. »Hast du wenigstens Leute gefunden, mit denen du ein paar Touren machen kannst?«
»Doch schon, ich war ein paarmal unterwegs«, sagte er ohne Begeisterung. Vielleicht war es nicht der große Erfolg gewesen? Ihr kam der Gedanke, dass er nicht gerade wie ein hartgesottener Bergsteiger aussah. Dass er nur eine große Klappe hatte, genau wie sie. Vor dem PC sah alles so einfach aus.
Das Handy in ihrer Handtasche unterbrach die schleppende Unterhaltung. Es war das Lokalradio. Tone entschuldigte sich und ging nach draußen. Eine Mitarbeiterin des NRK wollte sie live in der Morgensendung haben. Tone hatte die Leiche gefunden und jetzt sollte sie den Hörern von ihrem Erlebnis erzählen.
»Weißt du etwas Neues – ich meine, weil die Sache jetzt im Radio kommt?«, fragte Tone.
»Der Todesfall ist verdächtig. Die Polizei ermittelt«, sagte die Journalistin. »Das haben sie gerade bestätigt.«
Tone war schwindelig, sie musste sich an die Wand lehnen. Sie hatte es die ganze Zeit geahnt, doch es in klaren Worten bestätigt zu bekommen, war etwas anderes.
»Hallo, bist du noch da?«
»Das hat mich jetzt erst einmal umgehauen«, brachte Tone hervor. Im Moment hatte sie nicht die geringste Lust, im Radio über ihr Erlebnis zu berichten. Sie müsse darüber nachdenken, sagte sie. »Außerdem kann ich morgen früh nicht«, fügte sie hinzu.
»Wir können jetzt eine Aufnahme machen«, sagte die Journalistin eifrig.
»Ich bin gerade bei einem Geschäftsessen«, schwindelte Tone, da ihr nichts Besseres einfiel. Es war albern, sie ging nie zu Geschäftsessen. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass es nichts brachte, mit Zweifeln zu argumentieren.
»Das muss ein schreckliches Erlebnis gewesen sein«, lockte sie die Journalistin voller Verständnis.
»Ich war geschockt«, sagte Tone, froh, darüber reden zu können. »Ich habe ja nur einen Waldspaziergang gemacht ... und plötzlich stand ich vor einer Leiche.« Unversehens war sie mitten in einem längeren Bericht.
»Du schilderst das sehr lebendig«, sagte die Journalistin, nachdem sie mehrere Minuten miteinander geredet hatten. »Kannst du das nicht einfach für eine Aufnahme wiederholen? Es dauert auch nicht lange.«
»Leider nicht«, sagte Tone bestimmt. Sie musste die Eindrücke sortieren, bevor sie im Radio einfach drauflosplapperte. »Ich rufe dich an, wenn ich hier fertig bin. Falls es nicht zu spät wird.«
»Was war dein erster Eindruck, als du mich heute Abend gesehen hast?«, fragte er, als sie später im Restaurant saßen und auf ihr Essen warteten.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie ruhig ehrlich sein konnte: »Dass du keine Ähnlichkeit mit dem Bild hast, das ich mir von dir gemacht habe.«
»Hattest du einen Robert-Redford-Typen erwartet?«, fragte er und lächelte.
»Brad Pitt trifft es eher«, sagte sie schnell. Sie fühlte sich langsam wohler, weil sie merkte, dass er nicht ganz ohne Charme war. »Und du? Hast du gehofft, eine Julia Roberts zu treffen?«
»Daneben. Sie ist nicht mein Typ«, antwortete er. »Aber ich gebe zu, dass ich mir dich ... ein bisschen anders vorgestellt habe.«
»Dunkel und geheimnisvoll?«
Er lachte wieder. »Ich wusste, dass du blond bist, das hast du erzählt. Aber da du geschrieben hast, dass du dich für Risikosport interessierst und Herausforderungen liebst, hatte ich mir dich nicht ... so feminin vorgestellt, ja, vielleicht ist es das. Aber ...«, er hob das Glas, um ihr zuzuprosten, »feminine Blondinen gefallen mir am besten.« Er machte einen selbstsicheren Eindruck, selbstsicherer, als sie zuerst gedacht hatte.
»Du meinst dumme Blondinen?«, rutschte es ihr heraus.
»Ganz im Gegenteil. Blondinen können äußerst klug und gefährlich sein«, sagte er und zwinkerte ihr zu. »Was dich angeht, halte ich dich für eine Frau mit unterschiedlichen Seiten. Die womöglich etwas zu verbergen hat. Etwas, das sie nicht erzählen will.«
Tone kam sich irgendwie interessant vor. Fast hätte sie ihm von ihrem Erlebnis im Wald erzählt. Das Gespräch mit der Journalistin ging ihr durch den Kopf. Die Polizei hielt den Todesfall für verdächtig. War es Mord? Sie griff nach ihrem Glas und versuchte, etwas zu sagen, was mit all dem nichts zu tun hatte. »Ich musste gerade an eine Sendung denken, an der ich arbeite«, sagte sie.
»Apropos Sendung ..., ist deine Sendung über die Tanzveranstaltung für Singles schon ausgestrahlt worden?«
»Sie kommt am Freitag.«
»Wenn ich kann, höre ich sie mir an«, sagte er. »Du hast einen interessanten Job.«
»Und du?«, sagte sie. »Findest du deine Arbeit nicht interessant?« Er hatte ihr erzählt, dass er in einer EDV-Firma arbeitete. Soweit sie sich erinnerte, hatte er sie gegründet. »Im EDV-Bereich gibt es doch laufend Neuentwicklungen.« Bessere Fragen fielen ihr zu dem Thema nicht ein.
Die Bedienung brachte das Essen, das Gespräch verstummte und ihre Gedanken schweiften erneut ab. Zu dem Radiointerview am nächsten Morgen. Sollte sie zusagen? Es war ihre Geschichte, ihr Erlebnis, deshalb war es nur richtig, dass sie darüber sprach. Solche Augenzeugenberichte kamen gut im Radio. Die Formulierungen bildeten sich mühelos in ihrem Kopf. Sie würde den Limonadenverschluss erwähnen. Die Geschichte dramatisieren. Sagen, dass sie sofort an ein Verbrechen gedacht habe. Oder war das zu weit hergeholt?
»Ich habe heute eine schöne Waldwanderung gemacht«, sagte Håkon Arfoss, als sie später wieder in der Bar saßen. Er sah Tone gespannt an. »Ich war schon früh in der Stadt und habe am Vormittag etwas für meine Kondition getan.«
Warum erzählte er ihr das? Konnte Arfoss der Spaziergänger sein, dem sie begegnet war? Der Gedanke kam so plötzlich, dass sie etwas Wein auf dem Tisch verschüttete. Sie bekam kein Wort heraus. Es passte einfach zu gut. Jetzt hatte sie auch das Gefühl, ihn wiederzuerkennen.
»Apropos Wanderung«, sagte er und sein Blick ließ sie nicht los. Waren seine Augen grau oder blau? »Du hast gesagt, dass du dich für Bergsteigen interessierst. Ich habe mir gedacht, dich am nächsten Wochenende zur ersten Lektion einzuladen.«
Sie drehte das Glas und starrte in den Wein. »Ach ja?«, sagte sie geistesabwesend. Sie stellte das Glas ab und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen.
»Ich will nach Lom«, antwortete er. »Da gibt es eine gute Kletterwand.«
»Braucht man dafür keine Ausrüstung«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen.
»Das lässt sich arrangieren.«
»Können wir später darüber reden? Ich muss zur Toilette«, sagte sie und stand auf.
Ihr Körper fühlte sich steif und ihr Gang unnatürlich an. Im Spiegel begegnete sie ihren eigenen erschrockenen Augen. Ihr Gesicht musste sie verraten haben! Sie blieb einige Minuten auf der Klobrille sitzen, um sich eine Entschuldigung auszudenken.
Auf dem Weg zurück in die Bar hatte sie Gelegenheit, ihn einige Sekunden aus der Distanz zu studieren. Sie hätte es sofort sehen müssen. Arfoss glich immer mehr dem Bild, das sie von dem Mann im Wald hatte. Der Beschreibung, die sie der Polizei gegeben hatte.
»Ein verlockendes Angebot«, sagte sie und versuchte, zu lächeln. »Ich weiß nur nicht, ob ich Zeit habe.« Sie griff nach der Handtasche und holte ihren Terminkalender heraus. Für diese Woche hatte sie nichts eingetragen. »Es sieht leider so aus, als hätte ich schon eine Verabredung«, sagte sie leise. »Aber ich kann versuchen, sie zu verschieben.« Sie klappte den Kalender zu und steckte ihn zurück in die Tasche. »Ich schicke dir eine Mail, wenn ich das geklärt habe.«
»Was ist mit dem Wochenende danach?«, sagte er eifrig.
»Wie gesagt, es wäre schön ...«, sagte sie und fragte sich, wie sie aus der Situation herauskommen sollte. Wie konnte sie herausfinden, ob es Arfoss war, den sie gesehen hatte? Sollte sie ihm von ihrer Vermutung erzählen? Aber vielleicht ging es ihm genau darum. Er könnte sie gesehen haben und jetzt testen, ob sie ihn auch bemerkt hatte! »Lass mich erst klären, was mit dem nächsten Wochenende ist, dann sehen wir weiter ...«, fügte sie ungeschickt hinzu.
Saved by the bell. Das Handy unterbrach ihr Gespräch. »Entschuldigung, ich hätte es ausschalten sollen«, sagte sie erleichtert und erhob sich. »Ich gehe nach draußen.«
Es war noch einmal die Journalistin vom NRK. Sie war auf dem Sprung nach Hause und hatte das Live-Gespräch am nächsten Morgen vorbereitet. Da sie nichts von Tone gehört hatte, rechnete sie mit ihrem Okay. »Du wirst kurz nach sieben angerufen«, teilte ihr die Journalistin unbekümmert mit.
»Nein, das ist nicht okay«, protestierte Tone. Sie konnte sich jetzt nicht öffentlich in die Sache reinziehen lassen.
»Warum nicht?«
»Weil ..., ich mag nicht darüber reden. Es war ein schreckliches Erlebnis.«
»Es geht dir vielleicht besser, wenn du erst einmal darüber geschlafen hast. Kannst du mit deiner Entscheidung nicht bis morgen früh warten?«
Tone schaffte es nicht, ihr zu widersprechen. Sie kannte die Überredungskünste der Journalisten. Deshalb ließ sie sich widerstrebend darauf ein und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie auch am nächsten Morgen niemand dazu zwingen könnte.
Als sie zurück in die Bar kam, meinte Håkon Arfoss, dass es vielleicht an der Zeit sei, den Abend zu beenden. Tone war erleichtert, gleichzeitig aber auch überrascht. Sie hatte den Eindruck gehabt, als hätte er sich auf einen langen Abend eingestellt. Er war kurz angebunden und reserviert, als er sagte: »Morgen ist auch noch ein Tag.« Dann trank er aus. »Und du hast es weiter nach Hause als ich«, sagte er. Er wollte im Hotel übernachten, da er sechzig Kilometer entfernt wohnte.
Vor der Tür gaben sie sich die Hand und bedankten sich für den Abend. Tone wahrte den Schein und sagte, dass es nett gewesen sei und dass sie sich wegen des Wochenendes melden werde.
Es regnete, als sie durch die herbstlich dunklen Straßen zum Bahnhof bummelte, um sich ein Taxi zu nehmen. Er hatte nicht versucht, sie auf sein Zimmer einzuladen. Ein gutes Zeichen. Aber es erstaunte sie auch ein wenig. Auf dem ganzen Nachhauseweg nagte die Frage an ihr, ob sich Håkon Arfoss den ganzen Abend darüber im Klaren gewesen war, dass sie sich im Wald begegnet waren. Aber warum hatte er dann nichts gesagt?