Читать книгу Tausche Pumps für ein Stück Himmel - Maja Christ - Страница 11
7
ОглавлениеKerstin saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich zu konzentrieren. Immer wieder ertappte sie sich jedoch dabei, dass ihre Gedanken nicht bei ihrem Projekt waren. Stattdessen ging ihr der gestrige Flug durch den Kopf. Und das, was Hanne gesagt hatte. Sie sei zum Fliegen geboren oder so ähnlich. Klar, Hanne war Fluglehrerin und ihrem Vater gehörte die Flugschule. So etwas sagte sie wahrscheinlich zu jeden, der ihr einigermaßen sympathisch war, um neue Flugschüler zu bekommen. Aber toll war es wirklich gewesen. Und so schlecht hatte sie sich tatsächlich nicht angestellt. Auch wenn sie schon mal geflogen war – das war immerhin mehr als 25 Jahre her und so viele Flüge waren es damals ja auch nicht gewesen. Sollte sie wirklich versuchen, einen Flugschein zu machen? Aber von welchem Geld? Und woher sollte sie die Zeit nehmen? Die war doch jetzt schon knapp.
Sie stand auf, um sich erst einmal einen Kaffee zu holen. Hier kam sie gerade nicht weiter. Und wo blieb eigentlich ihr Chef? Er gehörte doch zu der »Frühaufsteher-Fraktion«.
Gestern auf der Rückfahrt vom Flugplatz hatte Kerstin Martin und Jonas noch einmal genau von ihrem Flug erzählt. Dann hatte Judith angerufen, um sich zu erkundigen, wie ihr Geburtstagsgeschenk nun nach Einlösen des Gutscheins angekommen war. Und Kerstin hatte auch der Schwester vom Erlebten vorgeschwärmt. Am Abend hatten Kerstin und Martin auf der Terrasse gesessen. Zunächst hatten sie geschwiegen und in Gedanken versunken den Flammentanz der Kerzen auf dem Tisch beobachtet. Dann hatte Martin sie plötzlich ganz komisch angesehen und »Schlag es dir aus dem Kopf, Kerstin« gesagt. Kerstin hatte zu einem »Aber, ich hab doch gar nichts …« angesetzt, aber Martin kannte sie einfach zu gut. Dann hatten sie eine Weile hin und her diskutiert, bis Kerstin schließlich gefragt hatte, ob Martin es bereute, ihr den Schnupperflug geschenkt zu haben.
»Nein, natürlich nicht. Trotzdem habe ich befürchtet, dass du Blut lecken würdest, als Judith mich fragte, ob ich mich beteilige. Aber sie hätte dir den Flug ja so oder so geschenkt.« Dann fügte er hinzu: »Meinetwegen kannst du gerne irgendwann wieder fliegen. Wenn wir ein bisschen mehr vom Haus abbezahlt haben. Wenn die Kinder etwas größer sind. Ich denke einfach, dass es jetzt gerade ungünstig ist. Es läuft dir ja nicht weg.«
Kerstin hatte nichts mehr entgegnet, sondern geschwiegen. Sie hatte sich nicht streiten und den Tag kaputt machen wollen. Und Martin hatte ja schließlich recht. Oder? Es lief nicht weg. Aber es war so schön gewesen.
»Kerstin, dein Telefon klingelt!«
Kerstin schreckte aus ihren Gedanken hoch. Ihre Kollegin Leyla war in die Teeküche gekommen.
»Danke«, antwortete Kerstin und sputete los. Noch im Stehen nahm sie etwas atemlos den Hörer ab. An der anderen Leitung war Hans. »Hallo, Hans. Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst. Was ist denn los?«
Hans antwortete: »Mir ist etwas dazwischengekommen und ich kann heute nicht mehr reinkommen. Möglicherweise kann ich auch nächste Woche nur sporadisch vorbeischauen. Ich wollte dich fragen, ob du bitte solange mein Projekt übernehmen kannst. Ich weiß, dass du in einer Woche Urlaub hast. Aber du hast das die letzten Tage mit Jule gut gemacht. Du hast sie zügig eingearbeitet. Außerdem kannst du auch etwas delegieren. Leyla und Rieke und die anderen haben jetzt im Sommerloch sicher auch ein paar Kapazitäten frei. Übernächste Woche bin ich wieder da.«
»Ähm. Ja. Klar kann ich das übernehmen«, antwortete Kerstin.
Hans erklärte ihr, wo sie die nötigen Unterlagen fand und wie sie an seinen Rechner kam, um Zugang zu seinen E-Mails zu bekommen. Die Dateien mit den Projektdaten lagen sowieso auf dem gemeinsamen Server. Er beendete das Gespräch mit den Worten: »Vielen Dank. Du machst das schon. Du hast nächste Woche den Chef-Hut auf. Ich schicke gleich eine Mail an die anderen, damit sie Bescheid wissen. Und keine Sorge: Dein Urlaub ist nicht in Gefahr.«
Konnte er Gedanken lesen?
Auf jeden Fall war Kerstins gedankliche Abwesenheit wie weggeblasen. Sie trommelte das Team zusammen, um alle davon in Kenntnis zu setzen, dass Hans die nächsten Tage ausfallen würde und er sie gebeten hatte, sich um seine Projekte zu kümmern. Dann verteilte sie einige der anstehenden Aufgaben. Rieke murrte etwas. Wahrscheinlich war sie enttäuscht, dass Hans nicht sie gebeten hatte, die Chef-Vertretung zu übernehmen. Sie gab zwar gerne den Ton an, verzettelte sich aber auch leicht mal. Kerstin hatte gehört, dass ein Kunde mit der Zusammenarbeit nicht besonders zufrieden gewesen war. Er hatte sich erst zu einem Folgeprojekt entschließen können, nachdem Hans ihm zugesichert hatte, es persönlich zu betreuen und auch im Urlaubsfall nicht Rieke hinzuzuziehen, sondern Leyla oder Kerstin.
Den restlichen Freitag verbrachte Kerstin damit, sich in Hans’ Projekt einzuarbeiten und alles Nötige zu organisieren. Hatte sie am Morgen noch daran gedacht, heute etwas früher Schluss zu machen, kamen nun sogar noch ein paar Überstunden hinzu. Als sie gerade dabei war, ihren Computer hinunterzufahren, rief Jonas an. Er wollte wissen, wann sie nach Hause kommen und was es zum Essen geben würde.
»Papa kommt auch gleich. Er hat eben angerufen, ob er noch was mitbringen soll und hat sich gewundert, dass du noch nicht hier bist«, sagte er vorwurfsvoll.
Kerstin entschuldigte sich. »Was hältst du davon, wenn wir heute bei Luigi Pizza essen gehen? Wenn du Papa sofort zurückrufst, fängst du ihn vielleicht rechtzeitig ab, dass er nicht zweimal fahren muss?«
Dem Freudenschrei am anderen Ende der Leitung nach zu urteilen war ihre Idee auf Jonas’ Zustimmung gestoßen.
Eine halbe Stunde später saßen die drei im Biergarten ihres Lieblingsitalieners. Kerstin berichtete von ihrem Tag und Jonas erzählte vom Skaten in der Halfpipe. Kerstin wollte das lieber gar nicht so genau wissen. Sie hatte Angst, dass er sich irgendwann einmal alle Knochen brach, behielt ihre Bedenken jedoch für sich. Jonas war groß genug.
***
Am Wochenende fuhr Kerstin nach Heidelberg, um Nele, Leon und Luis nach Erlangen zurückzuholen. Leon und sein Cousin waren für die kommende Woche bei einer Sommerfreizeit auf einem Bauernhof in der Fränkischen Schweiz angemeldet. Nele und Jonas würden mit dem Kletterverein ebenfalls in der Fränkischen Schweiz zelten. Leon war erst beleidigt gewesen, dass er nicht dabei sein durfte, weil der Kurs erst ab 10 Jahren war. Aber dann hatte er einfach Luis überzeugt, mit ihm zum Bauernhof zu kommen.
Für Kerstin verging die nächste Woche praktisch wie im Fluge. Sie hatte unglaublich viel Arbeit. Zwar verteilte sie einige der Aufgaben auch an die anderen Kolleginnen und Kollegen, aber es blieb genug zu tun. Sie war froh, dass sie abends etwas länger im Büro bleiben konnte und nicht nach Hause musste, um sich um die Kinder zu kümmern. Ans Fliegen dachte sie nicht mehr. Dafür blieb keine Zeit.
Dann war endlich wieder Freitag. Hans war zweimal vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Am Dienstag war er schnell wieder gegangen, nachdem er gemerkt hatte, dass alles gut zu funktionieren schien. Nun nahm er sich eine Stunde am Nachmittag und ließ sich von Kerstin und den anderen auf den Stand der Dinge bringen. Warum er nicht zur Arbeit gekommen war, sagte er nicht und Kerstin hakte auch nicht nach. Er würde schon etwas erzählen, wenn ihm danach sein sollte.
Kerstin warf einen letzten Blick in ihr elektronisches Postfach, aktivierte ihre Abwesenheits-E-Mail, stellte noch ein paar Kekse aus ihrer Notreserve in die Teeküche und verabschiedete sich, um endlich ihren wohlverdienten Urlaub anzutreten.
Sie war heute mit dem Auto gekommen, um direkt zum Bauernhof zu fahren und die beiden Achtjährigen wieder abzuholen. Die erzählten die gesamte Heimfahrt begeistert von ihrer Ferienfreizeit und machten erst eine Pause, als sie das Auto verließen, um ins Haus zu rennen.
Kerstin schnappte sich die Taschen der Kinder und folgte ihnen. Sie war vollkommen erledigt und froh, dass sie nun endlich drei Wochen am Stück mehr oder weniger entspannen konnte. Zunächst stapelte sich jedoch die Dreckwäsche von vier Kindern, die eine Woche draußen in der Natur verbracht hatten, inklusive verschwitzten Schlafsäcken. Auf Luis’ Isomatte war irgendein klebriger Saft ausgelaufen, den es auch noch wegzuputzen galt.
Die nächsten Tage verbrachte die Familie mit einer Fahrradtour, Schwimmbadbesuchen und viel Nichtstun. Die Zeiten, in denen Kerstin und Martin vom ersten bis zum letzten Urlaubstag unterwegs sein wollten, waren vorbei. Sie genossen es, ein wenig in den Tag hineinleben zu können, im Garten zu liegen und zu lesen. Martin hatte sich einige Romane aus der Bücherei ausgeliehen, die er nun einen nach dem anderen verschlang. Kerstin tat es ihm gleich. Der Haushalt war zwar trotzdem zu erledigen, aber jetzt machte es ihnen wieder Spaß, sich gemeinsam in die Küche zu stellen und etwas Leckeres zum Essen zu zaubern. Meist grillten sie jedoch einfach auf der Terrasse.
Inzwischen hatten sie sich auch darauf geeinigt, wohin sie zum Zelten fahren wollten. Die Wahl war auf die Ardeche in Frankreich gefallen. Sie liehen sich zwei Paddelboote von Freunden aus, schnallten sie auf das Dach ihres voll beladenen Bullis, luden Luis in Heidelberg aus und fuhren weiter gen Frankreich.
Es war entspannt wie schon lange nicht mehr. Obwohl es voller war als die Jahre zuvor. Viele der Lieblingsplätze, an denen Kerstin und Martin in den letzten Jahren Urlaub gemacht hatten, waren nicht mehr so ruhig wie am Anfang. Die Zeiten, in denen sie einfach hatten »drauflosfahren« können, waren anscheinend vorbei. Inzwischen musste man selbst bei den einfachen Campingplätzen vorher abklären, ob es ein Plätzchen für Zelt und Bulli gab.
Aber sie hatten auf dem Campingplatz noch ein nettes Plätzchen für ihr großes Familienzelt ergattert. Sogar zwei freie Bäume für die Hängematte hatte es gegeben. Die Kinder hatten schnell bei anderen Kindern und Jugendlichen Anschluss gefunden.
Irgendwann fiel Kerstin auf, dass sie sich gar nicht so oft stritten, wie sie es in den letzten Jahren meist irgendwann im Urlaub getan hatten.
In der zweiten Woche kippte die Stimmung dann doch noch: Nele war von Leon genervt, Leon vom langen Weg zu den Toilettenhäuschen, Martin hatte sich beim Klettern den Knöchel verstaucht und ärgerte sich nun maßlos darüber und Jonas hatte sowieso die Nase voll von Familienurlaub. Außerdem vermisste er seinen Computer. Kerstin versuchte zunächst noch, sich ihre gute Laune davon nicht verderben zu lassen, aber dann schimpfte auch sie irgendwann an allem herum.
Eine Familie aus Hannover, mit der sie in den letzten Tagen häufiger zum Klettern unterwegs gewesen waren, kam glücklicherweise mit einer Flasche Wein, Baguette und einem Korb voller Aprikosen vorbei. Sie luden zu einem letzten Boule-Spiel vor ihrer Abfahrt ein und es dauerte nicht lange, bis die schlechte Stimmung wie weggeblasen war.
Dann stand auch die Rückfahrt nach Erlangen an. Am letzten Abend saßen sie zusammen vor dem Zelt und ließen den Urlaub Revue passieren.
»Also, mir hat es super gefallen«, erklärte Nele von der Hängematte aus. »Wir können gerne bald wieder hierher kommen.«
»Oh ja!«, stimmte Leon zu. »Mit den Paddelbooten. Und wir nehmen Luis und Judith mit!«
Jonas zuckte mit den Schultern: »Ja, passt schon.«
Kerstin deutete das als ausreichend großes Lob von einem Dreizehnjährigen, der auf Internet hatte verzichten müssen. Martin hatte sich auf den Boden gelegt, mit dem Kopf auf Kerstins Schoß. Sie lehnte mit dem Rücken gegen einen Baum, schaute zu den Wolken und kraulte mit ihren Finger durch seine angegrauten Haare. Er genoss es sichtlich. Über ihnen schossen Schwalben durch die Luft, auf der Suche nach Insekten. Die Grillen zirpten. Bald konnte man schon die ersten Sterne erahnen, obwohl es noch nicht ganz dunkel war.
Kerstin schloss die Augen und lauschte dem Wind, der die Blätter der Pappeln zum Rascheln brachte. Doch, sie würde gerne wieder fliegen. Und Ultraleichtflugzeuge waren perfekt. Leise, wenig Verbrauch und vergleichsweise niedrige Flugkosten. Irgendwie würde sie es schaffen. Es würde nicht dieses Jahr gehen und nächstes vielleicht auch nicht. Erst müsste sie sparen. Wäre es nicht auch langsam Zeit, mit Hans eine Gehaltserhöhung zu verhandeln? Sie übernahm doch inzwischen deutlich mehr Verantwortung als früher. Nächste Woche würde sie ihn darauf ansprechen.