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Kerstin saß im Zug. Sie war bereits auf der Heimfahrt von ihrem Kundentermin. Das Treffen war gut verlaufen und sie war zufrieden. In zwei Stunden würde sie wieder in Erlangen sein. Ins Büro musste sie heute nicht mehr. Jetzt war Feierabend. Kerstin hatte ihre Ohrstöpsel in die Ohren gesteckt und hörte Musik. Sie hatte die Augen geschlossen, die Pumps abgestreift und die Füße über den freien Nachbarsitz gelegt. Und sie versuchte, abzuschalten. Aber es ging nicht. Die Geräusche um sie herum nervten. Irgendwo hinter ihr waren zwei ältere Damen angeregt in ein Gespräch vertieft und tauschten ihre halbe Lebensgeschichte aus. Dabei hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Nachdem die eine Dame in Frankfurt eingestiegen war. Inzwischen kannten wahrscheinlich alle Fahrgäste im Wagen die Ziele ihrer letzten Urlaubsreisen, ihre Wehwehchen und sämtliche Lebensmittel-Unverträglichkeiten, die die beiden Damen sich teilten.

Kerstin hatte erst versucht, den Roman zu lesen, den sie extra für die Rückfahrt eingesteckt hatte. Aber als sie eine Seite zum vierten Mal angefangen hatte, ohne etwas davon aufgenommen zu haben, hatte sie entnervt aufgegeben. Vor allem die eine Frau lachte immer wieder in hohen Tönen auf. Normalerweise ließ Kerstin sich von so etwas nicht aus der Ruhe bringen. Aber gerade jetzt hätte sie lieber etwas mehr Ruhe gehabt. Würde sie auch einmal so werden wie diese alten Damen? Kerstin dachte nach. Ihre Mutter unterhielt sich auch gerne auf Zugfahrten mit wildfremden Leuten, aber nicht in dieser Lautstärke. Ihr Vater war eher still und zurückhaltend. Was Unterhaltungsgewohnheiten auf Reisen betraf, kam Kerstin eher nach ihm. Noch.

Aufgewachsen war Kerstin in der Nähe von Mannheim. Sie hatte eine Schwester. Judith war vier Jahre jünger als Kerstin, Lehrerin in Heidelberg und alleinerziehend. Ihr Sohn Luis war in Leons Alter. Ab und zu trafen sie sich übers Wochenende in der Fränkischen Schweiz zum Klettern, manchmal auch in der Pfalz. Mit dem Klettern hatten sie in Spanien angefangen. Damals, in den 90ern. Eine Ewigkeit war das her. Mit 15 war Kerstin mit ihrer Familie nach Valencia gezogen. Ihr Vater hatte von seiner Firma das Angebot bekommen, dort eine Zweigstelle aufzubauen. Für Kerstin war zunächst eine Welt zusammengebrochen. Der Grund war: Sie hatte gerade ihre erste Liebe kennengelernt – zumindest hatte sie damals geglaubt, dass es die ganz große Liebe hätte werden können. Das war auf dem Segelflugplatz in der Nähe ihres Wohnorts gewesen.

Schon als Kind hatte sie die Flugzeuge ab und zu über ihrem Haus kurven gesehen. Einmal waren sogar zwei Piloten auf dem Acker hinter ihrem Grundstück gelandet. Später hatte sie erfahren, dass es sich um ein zweisitziges Schulungssegelflugzeug gehandelt hatte. Sie hatte gedacht, dass das Flugzeug abgestürzt sei und einen gehörigen Schreck bekommen. Da war sie nicht die Einzige gewesen: Die alte Frau vom Ende der Straße hatte sofort Feuerwehr und Rettungswagen benachrichtigt und die waren mit Blaulicht und großem Tamtam gekommen. Es hatte sich dann herausgestellt, dass gar nichts passiert war und die Anwohner hatten erfahren, dass es für Segelflieger ganz normal war, auf einem Acker zu landen, wenn sie es nicht zum Flugplatz schafften, weil sie keine Aufwinde mehr fanden.

Auf jeden Fall war Kerstin sofort Feuer und Flamme gewesen, als sie das Flugzeug aus der Nähe gesehen hatte. Ganz genau hatte sie es sich angesehen und alles erklären lassen. Als andere Piloten mit einem Anhänger gekommen waren, um das Flugzeug abzubauen und wieder zum Flugplatz zurückzufahren, hatte sie gleich mitgeholfen. Danach hatte Kerstin ihren Eltern so lange in den Ohren gelegen, bis sie einen Gastflug hatte mitmachen dürfen. Als Resultat war sie nicht mehr zu halten gewesen. Anstatt wie ihre Freundinnen auf dem Reiterhof abzuhängen, war sie ab ihrem 14. Geburtstag jedes freie Wochenende durch die Lüfte »geritten«. Im Frühjahr des darauffolgenden Jahres hatte sie sich »freigeflogen«, also ihre ersten Alleinflüge gemacht. Von da an hatte sie ganz allein fliegen dürfen. Solange ein Fluglehrer am Platz gewesen war. Wenn sie allein in der Luft gewesen war, auf der Suche nach einem Aufwind, der sie höher bringen sollte, hatte sie lauthals die Wolken angesungen. Großartig hatte sie sich dann gefühlt. So erwachsen und frei. Auf jeden Fall war es eine sehr intensive und schöne Zeit gewesen. Mit den anderen Jugendlichen am Flugplatz hatte sie eine Menge Spaß gehabt. Und dann war da ja schließlich auch noch dieser junge Segelflieger gewesen. Immer wenn sie zum Flugplatz gefahren war, hatte sie Herzklopfen bekommen. War er auch da? Würde er wieder mal mit ihr herumblödeln? Hatte das überhaupt etwas zu bedeuten? Sie war wirklich schwer verliebt gewesen.

Und dann, kurz bevor Kerstin das Gefühl gehabt hatte, dass er ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken schien, eröffneten Kerstins Eltern ihren Kindern, dass sie zum Schuljahreswechsel nach Valencia ziehen würden. Es war im ersten Moment furchtbar gewesen, dass sie nicht mehr fliegen konnte. Und dass ihre große Liebe ihre Gefühle anscheinend nicht geteilt hatte und sie gar nicht zu vermissen schien.

In Spanien hatten Judith und Kerstin erst einmal die Sprache lernen müssen. Dann hatte Kerstin einen jungen Spanier kennengelernt, der mit seinen Kumpels häufig in den umliegenden Gebirgen klettern ging. Später hatte auch Judith die Wochenenden mit der Clique verbringen dürfen. Sie waren ein richtig gutes Team gewesen und kletterten gar nicht schlecht. Und so – die Tage in den Wänden hängend, die Nächte am Fels unter freiem Sternenhimmel verbringend, am Lagerfeuer mit Gitarre und frisch gepflückten Orangen – hatte Kerstin Deutschland und ihren Schwarm vom Flugplatz gar nicht mehr vermisst. Auch nicht die Fliegerei. So etwas wie Fliegen konnte sie beim Klettern ja ebenfalls. Auch wenn es etwas anderes war, von einer Wand abzufallen und im Seil zu hängen.

Nach der Schule war Kerstin zunächst ein Jahr nach Mittelamerika gegangen, hatte gejobbt und war durch Länder wie Costa Rica und Bolivien getrampt, auf der Suche nach dem Weg, den das Leben für sie vorgesehen hatte. Danach hatte es sie nach Deutschland zurück verschlagen. Sie hatte Chemie studiert und nach dem Studium eine Doktorandenstelle an der TU Darmstadt bekommen. Dort hatte sie schließlich Martin kennengelernt. Er stammte aus dem Rheinland. Seine Mutter hatte eine kurze Affäre gehabt und war mit Martin schwanger geworden. Martins Vater hatte sich jedoch damals dafür entschieden, bei seiner Ehefrau und seiner kleinen Tochter zu bleiben. So hatte Martins Mutter ihren Sohn allein aufgezogen. Sie war früh gestorben und zu seinem Vater hatte Martin bis heute kein besonders gutes Verhältnis.

Martin war gerade mit seiner Promotion fertig geworden und begann als Postdoktorand in der Nachbararbeitsgruppe, als Kerstin in Darmstadt anfing. Er kletterte genauso gerne wie Kerstin. Schnell hatten die beiden entdeckt, dass sie auch sonst gut zueinander passten.

Kurz vor dem Ende ihrer Doktorarbeit war Kerstin dann mit Jonas schwanger geworden. Das war zwar nicht geplant gewesen, aber irgendwann – das hatten sie bereits beschlossen gehabt – wollten sie sowieso gemeinsam Kinder haben. Kerstin hatte nun zwar nicht mehr ins Labor gedurft, aber da sie eigentlich genügend Ergebnisse für die Abschlussarbeit gesammelt hatte, konnte sie genauso gut zusammenschreiben. Jonas war allerdings sechs Wochen zu früh dran gewesen und auf die Welt gekommen, bevor sie ihre Prüfung abgelegt hatte. Es war eine harte Zeit für alle gewesen, aber sie hatten sie gemeistert. Was sie nicht auseinandergetrieben hatte, hatte sie mehr zusammengeschweißt. Kerstin hatte dann doch noch ihre Doktorprüfung machen können. Und wen interessierte hinterher noch die Note?

Gut zwei Jahre später war Nele geboren, diesmal geplant. Kerstin hatte sich in der Zwischenzeit damit über Wasser gehalten, an der Uni die Austausch-Studenten zu betreuen und Artikel für verschiedene Wissenschaftszeitschriften zu schreiben. Dann hatte Martin eine Stelle in Nürnberg bekommen und die kleine Familie war nach Franken gezogen. Da sie sowieso immer viel Zeit in der Fränkischen Schweiz zum Klettern verbracht hatten, war das perfekt für sie.

Leon war schließlich in Erlangen auf die Welt gekommen. Als er in den Kindergarten gekommen war, hatte Kerstin sich eine Anstellung gesucht. In die Wissenschaft wollte sie nicht zurück. Die Stelle in der Agentur, in der sie auch heute noch arbeitete, war genau richtig für sie. Sie konnte Teilzeit arbeiten. Zuerst waren es 40 Prozent gewesen. Inzwischen waren es 75 Prozent. Und sie hätte jederzeit weiter aufstocken können, wenn sie gewollte hätte. Aber das kam derzeit überhaupt nicht infrage.

Inzwischen hatte die Familie sich ein Haus im Westen von Erlangen gekauft. Der Garten war gerade groß genug zum Erholen, aber nicht zu groß, um viel Arbeit zu machen. In der Nähe gab es Wald zum Radfahren, Felder zum Spazierengehen und den ein oder anderen Hofladen. Und im Nullkommanichts waren sie im Herzen der Fränkischen Schweiz. Was wollte man mehr?

»Sehr verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Würzburg«, ertönte die Durchsage des Zugführers. Kerstin hörte, wie die beiden Damen ihre Telefonnummern austauschten und sich lautstark voneinander verabschiedeten. Dann wurde es deutlich ruhiger im Wagen. Puh, endlich, dachte Kerstin und atmete auf.

Sie war glücklich. Auf jeden Fall. Und ändern wollte sie eigentlich auch nichts. Martin und sie liebten sich. Sie hatten regelmäßig Sex, häufiger als andere gleichaltrige Paare, wie sie sich aus manchem Gespräch mit der einen oder anderen Freundin hatte ausrechnen können. Die Kinder waren inzwischen schon viel selbstständiger als noch vor ein paar Jahren. Kerstin konnte immer mal wieder in den Wald radeln und sich ihre Auszeiten nehmen. Am Wochenende gingen sie ab und zu klettern und zelteten dann auch mal im nahegelegenen Trubachtal.

Dennoch hatte Kerstin das Gefühl, dass die Zeit vorne und hinten nicht reichte, um sich zu erholen. Dass etwas fehlte. Sie wollte ja nicht tauschen, aber manchmal wünschte sie sich, sie könnte ihr jetziges Leben zumindest kurz anhalten. Wie einen Zug, der einen ungeplanten Zwischenstopp einlegt. Bei dem die Zeit außerhalb der Haltestelle quasi zum Stillstand kommt. Man steigt aus, sieht sich um, erlebt etwas anderes, um dann erfrischt und mit neuer Kraft wieder einzusteigen und am Ziel anzukommen, ohne dass dort jemand merkte, dass man ausgestiegen war. Weil für die anderen die Zeit gar nicht anders verlaufen war. Ohne Konsequenzen. Aber da so etwas nicht ging, schloss Kerstin noch einmal die Augen, genoss, dass niemand mehr hinter ihr plapperte und konzentrierte sich auf ihre Musik. »Stop this train« sang John Mayer gerade.

Das vibrierende Telefon riss sie aus den Gedanken. Ihre Freundin Steffi hatte eine Nachricht geschickt: »Lebst du noch? Habe seit Ewigkeiten nichts von dir gehört. Heute Abend radeln? Muss dir dringend eine Neuigkeit erzählen. Machst du was an deinem Geburtstag? Ich bringe auch Tiramisu mit, das mit ohne Kalorien!«

Kerstin musste lächeln. Steffis »Tiramisu mit ohne Kalorien« war lecker, auch wenn es natürlich nicht ohne Kalorien war. Anstelle von Mascarpone verwendete die Freundin Pudding oder Vanille-Joghurt. Oder war es eine Mischung von beidem gewesen? Kerstin konnte es sich nicht merken. Aber lecker war die Kreation auf jeden Fall. Sie tippte eine Antwort: »Ja. Ebenso. Passt. Bin gespannt. Ja. Prima.«

Steffis Sohn Paul war in der Grundschule in die gleiche Klasse wie Kerstins Tochter gegangen und die beiden Kinder waren eine Zeitlang unzertrennlich gewesen. Irgendwann hatten sie keine Lust mehr gehabt, miteinander zu spielen. Anfangs war Kerstin traurig gewesen, dass die Kinder sich nicht mehr verabreden wollten. Schließlich hatte sie die Nachmittage mit Steffi immer sehr genossen. Aber dann hatte sie verstanden, dass sie ihre Tochter eigentlich gar nicht brauchte, um sich mit Steffi zum Quatschen oder zum Radeln zu treffen. Oder zu beidem. Das ließ sich nämlich prima kombinieren und war doppelt gesund: Sport für den Körper und Balsam für den Geist, wenn man sich einfach mal alles von der Seele reden konnte, was einen belastete.

Kerstin prüfte noch einmal, ob sie alle Fragen beantwortet hatte, verstaute das Telefon in ihrer Tasche und schloss erneut die Augen. In einer halben Stunde würde sie in Nürnberg umsteigen müssen. Genügend Zeit für ein kurzes Nickerchen.

***

»Hallo, wie geht es dir? Mann, siehst du fertig aus«, begrüßte Steffi ihre Freundin drei Stunden später.

»Na, danke für das Kompliment«, erwiderte Kerstin. »Was ist los? Spuck es aus, du kannst es ja kaum erwarten, es mir zu erzählen!«

Steffi umarmte Kerstin und drückte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Dann platzte sie heraus: »Ich sag nur so viel: An deinem Geburtstag stoß ich mit dir bloß mit was Alkoholfreiem an.«

»Nein?«, staunte Kerstin. »Nicht wahr.«

»Doch. Dreizehnte Woche«, lächelte Steffi.

»Na dann: Herzlichen Glückwunsch! Richtung Dechsendorfer Weiher und so?«

»Ja, gerne, da waren wir lange nicht. Aber nicht so schnell, ich bin total fertig.«

Die beiden Frauen schwangen sich auf ihre Räder und machten sich auf den Weg. Kerstin fragte: »Ach, du auch? Ich war heute in Frankfurt, gestern habe ich Leons Elternabend fast verschwitzt und dann bin ich zu spät ins Bett gekommen.«

Steffi fuhr dichter an Kerstin heran und fragte: »Warum hat der Elternabend so lange gedauert? Was hattet ihr denn zu bereden?«

»Nee, der Elternabend war vor neun vorbei«, zwinkerte Kerstin. Steffi verstand sofort und lächelte verschwörerisch.

»Ich wusste gar nicht, dass ihr es noch einmal probieren wolltet«, rief Kerstin hinter sich, nachdem sie eine Weile schweigend hintereinander hergefahren waren. Sie verringerte den Abstand zu Steffi.

»War auch nicht geplant. Nach der Fehlgeburt wollte ich es eigentlich nicht mehr versuchen, aber jetzt ist es halt passiert. Ich habe erst nichts erzählt, weil ich nicht sicher war, ob das kleine Mäuschen dieses Mal bei mir bleiben möchte, aber jetzt ist es immer noch da und wenn es bleiben möchte, bleibt es. Wenn nicht, wird es einen Grund dafür haben. Ich warte einfach mal ab. Aber freuen tu ich mich natürlich trotzdem sehr.«

»Und Georg?«

»Na, der umso mehr. Er wollte immer noch ein zweites Kind. Jetzt wird der Altersunterschied zu Paul zwar ziemlich groß sein, aber das ist halt so.«

Kerstin dachte nach. Noch mal so ein kleines Baby im Haus? Schlaflose Nächte, keine Energie, an das Kind gefesselt? Nein, danke. Noch einmal wollte sie das nicht durchmachen. Es war bei jedem ihrer Kind wunderschön gewesen, auf eine ganz besondere Art und Weise. Aber es war auch jedes Mal eine harte Zeit gewesen. Darum würde sie Steffi nicht beneiden.

Tausche Pumps für ein Stück Himmel

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