Читать книгу Tausche Pumps für ein Stück Himmel - Maja Christ - Страница 5
1
ОглавлениеIn der Ferne plätscherte ein Bach. Blätter flüsterten im Wind. Es schien fast, als würden sie sich unterhalten. Durch die Baumwipfel fielen Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht. Sie spürte das Moos unter ihren Füßen. Ganz weich war es. Ein Vogel zwitscherte. Bei dem Lärmpegel musste es ein Zaunkönig sein. Waren die Kleinsten nicht immer am lautesten? Irgendwo in der Ferne krachte etwas.
»Maaammmaa! Jonas lässt mich nicht in sein Zimmer!«
Kerstin schlug die Augen auf. Der Wald war weg, ebenso das Vogelgezwitscher. Vor ihr stand Leon und schaute sie fordernd an: »Er lässt mich nicht rein! Ich will auch mitspielen!«
Kerstin seufzte und schaute auf ihre Füße. Ihre Zehen spielten noch mit dem Flor des Teppichs. Kein Moos. Kein Wald. Keine Ruhe. Schade.
»Leon, sieh mal. Jonas hat Besuch von seinem Freund. Dann möchte er auch mal allein mit dem quatschen. Ohne seinen jüngeren Bruder. Das weißt du doch.«
»Aber sie quatschen gar nicht. Sie spielen mit dem Tablet. Ich will auch Tablet spielen«, beharrte Leon.
»Hast Du überhaupt schon deine Hausaufgaben fertig?«, fragte Kerstin.
Das war definitiv die falsche Frage gewesen, denn Leon jaulte auf und schoss mit einem »Och, Mama!« die Treppe hoch. Kerstin hörte nur noch eine Tür knallen.
Leon war acht. Er verstand es selten, dass sein fünf Jahre älterer Bruder auch mal seine Ruhe haben wollte. Kerstin konnte hingegen gut verstehen, dass Jonas auch Zeit ohne Leon verbringen wollte. Schließlich hatte sie auch eine jüngere Schwester. Und sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sie ihr damals Streiche gespielt hatte, um endlich in Ruhe mit ihrer Freundin über Dinge sprechen zu können, die kleine Schwestern nichts angingen.
Am liebsten hätte Kerstin sich jetzt ihr Fahrrad geschnappt und wäre in den Wald geradelt. Sie war vor einer halben Stunde von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte erst einmal das gröbste Chaos im Wohnzimmer beseitigt. Auf dem Esstisch hatte noch das Geschirr vom Frühstück gestanden. Zumindest das von Jonas und ein unbenutzter Teller von Nele. Die elfjährige Tochter hatte das Frühstück anscheinend wieder einmal ausfallen lassen. Kerstin konnte ihr nicht einmal einen Vorwurf machen. In Neles Alter hatte sie morgens vor der Schule auch nie etwas essen können.
Kerstin seufzte erneut. Wald und Fahrrad mussten warten. Es gab weder Brot noch Milch im Haus, der Wäschekorb im Bad quoll über und Leon brauchte dringend etwas Zuneigung. Und Starthilfe bei den Hausaufgaben. Es war Dienstag, Nele war beim Leichtathletik. Die Tochter konnte sie demnach nicht bitten, einkaufen zu gehen. Also schnappte Kerstin sich den Wäschekorb, brachte ihn in den Keller und warf die erste Waschmaschinenladung an. Es würden mindestens noch zwei weitere dazu kommen, wenn sie sich den Berg so ansah, den sie auf dem Fußboden der Waschküche aufgetürmt hatte.
Als die Waschmaschine gemütlich vor sich hinbrummte, machte Kerstin sich auf den Weg in den ersten Stock des Hauses. Leons Zimmer war am Ende des Ganges. Seine Tür war zu. Aus Jonas’ Zimmer drang laute Musik, die aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Computerspiel stammte. Kerstin klopfte kurz, steckte den Kopf durch die Tür und begrüßte Jonas und seinen Kumpel: »Puh, ihr solltet mal lüften. Hier riecht es wie Löwenkäfig!«
»Mama, Leon nervt mal wieder voll. Der bollert ständig an die Tür und will rein. Wann kriege ich endlich einen Schlüssel für mein Zimmer?«
Kerstin öffnete das Fenster, ignorierte die Frage und sagte stattdessen: »Noch eine halbe Stunde, dann machst du bitte auch deine Hausaufgaben, wenn du sie noch nicht fertig hast, okay?«
Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie aus dem Zimmer und klopfte an Leons Tür.
»Ich bin nicht da!«, kam Leons Antwort.
»Leon, ich bin es. Willst du mit mir einkaufen gehen und dann schauen wir uns deine Hausaufgaben an?«
»Hausaufgaben sind doof. Die sind voll öde. Die Schule ist auch doof! Und einkaufen ist langweilig. Ich will Tablet spielen«, konterte Leon. Das konnte ja heiter werden.
Zwei Stunden später saß Kerstin auf dem Sofa. Sie hatte es geschafft, Leon davon zu überzeugen, die Hausaufgaben fertig zu machen, die er in der Schulbetreuung nicht fertig bekommen hatte. Jonas und Nele hatten versichert, ebenfalls alles angefertigt zu haben, was es bis zum nächsten Tag anzufertigen gab. Kerstin hatte zwei Ladungen Wäsche aufgehängt, die dritte Maschine lief gerade noch. Brot und Milch hatte Martin mitgebracht. Kerstins Mann war heute relativ pünktlich von der Arbeit gekommen. Und er hatte sogar von unterwegs angerufen, um zu fragen, ob er noch etwas vom Hofladen mitbringen sollte, an dem er auf dem Weg vom Bahnhof immer vorbei radelte.
Sie hatten gegessen, Nele hatte sich gefreut, dass sie einen Teller weniger hatte decken müssen. Sie hatte ja ihr Gedeck vom Morgen recyceln können. Nur Leon hatte kurz gemault, weil Jonas ihm das letzte Stück seiner Lieblingswurst vor der Nase weggeschnappt hatte.
Aber jetzt war Feierabend. Kerstin konnte endlich ihre Beine hochlegen. Martin drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ein Glas Rotwein in die Hand. Sie lächelte und vergaß für einen Moment, wie geschafft sie war.
»Kinder, wer noch duschen muss: ab ins Bad! Wer nicht mehr duschen muss: auch ab ins Bad, Zähneputzen!«, kommandierte Martin lachend.
Leon protestierte, weil er noch fernsehen wollte. Kerstin erklärte, dass er trotzdem Zähneputzen und duschen könnte, da es garantiert nichts mehr zu essen gab. Wie jeden Abend.
Kerstins Handy vibrierte. Martin runzelte die Stirn und sagte: »Mach das Ding doch aus, dann setzen wir uns noch gemütlich in den Garten. Es ist herrlich draußen.«
Leon hatte sich jedoch schon das Telefon geangelt und hielt es seiner Mutter nun in einem Abstand von etwa fünf Zentimetern vor die Nase, sodass ihr ganz schwindlig wurde.
»Mama, eine Nachricht von Miriam. Sie schreibt: ‚Der Elternabend hat vor zehn Minuten angefangen. Ich sitze hier mit drei Eltern. Interessiert sich sonst keiner für die Belange der Klasse?‘ Mama, was sind Belange?«
Kerstin verschluckte sich fast an ihrem Rotwein. Der Elternabend! Den hatte sie komplett vergessen. Fluchend drückte sie ihrem Mann das Glas in die Hand, sprang auf, zog sich die Schuhe an und warf sich die Handtasche über die Schulter.
»Kinder, ich habe den Elternabend von Leon vergessen. Hört auf euren Papa! Ciao, mein Schatz, bis nachher«, sagte sie, drückte dem etwas erstaunt dreinblickenden Martin einen kurzen Kuss auf die Lippen und lief hinaus. Nicht ohne ihrem Rotweinglas noch einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen. Zum Glück war die Schule von Leon nicht weit weg. Sie schwang sich auf das Fahrrad und hechtete los. Na ja, zwar nicht in den Wald, aber jetzt komme ich immerhin noch einmal aufs Rad, dachte sie.
Als sie zehn Minuten später in den Klassenraum huschte wie eine verspätete Schülerin, waren immerhin schon sechs Eltern und der Klassenlehrer anwesend.
»Ach, Frau Frei ist auch schon da! Das ist ja schön«, begrüßte er sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Eine Entschuldigung murmelnd setzte Kerstin sich auf Leons Platz und nahm dankbar das Glas Wasser entgegen, das Miriam ihr kopfschüttelnd reichte.
Nach Kerstin trudelten schuldbewusst noch drei weitere Väter und Mütter ein, die die Nachricht von Miriam ebenfalls erreicht hatte. Mehr kamen nicht. So ließen sich immerhin alle Belange und Beschlüsse schnell über die Bühne bringen, weil es kaum Einwände gab. Bereits eine Stunde später konnte Kerstin sich verabschieden und den Heimweg antreten.
Die Kinder waren bereits im Schlafanzug in ihren Zimmern, als sie nach Hause kam: Leon mit einem Buch in seinem Bett, Jonas mit Kopfhörern und Smartphone in seinem Sessel und Nele fand sie mit irgendeinem Schulbuch vor der Nase auf dem Bauch auf dem Fußboden liegend. Nachdem Kerstin allen eine Gute Nacht gewünscht hatte, setzte sie sich zu Martin und ihrem Rotweinglas auf die Terrasse. Ihr Mann war frisch geduscht und hatte es sich im Pyjama gemütlich gemacht.
»Der Wein hatte jetzt zwar genug Zeit zum Atmen, aber leider ist eine Obstfliege darin ersoffen«, grinste er, als er ihr das Glas reichte.
Kerstin lehnte sich zurück und legte ihre Beine auf Martins Schoß.
»Wie war dein Tag sonst so?«, fragte Martin. Er hatte angefangen, Kerstins Füße zu massieren.
»Ach, frag lieber nicht«, antwortete Kerstin und versuchte, die Fliege aus ihrem Glas zu fischen. Ersoffen war sie nicht und nun versuchte sie, sich die Flügel zu trocken und davon zu krabbeln. Diese Viecher waren wirklich zäh. Martin sah sie fragend an.
»Dieses Projekt, von dem ich dir erzählt habe, macht mich fertig. Mein Chef spinnt jetzt total, ständig wechselt er seine Meinung. Immer wenn ich gerade alles soweit für den Kunden fertig habe, kommt er und will es wieder umstellen. Seit seine Frau wieder bei ihm eingezogen ist, ist er etwas durch den Wind.«
»Du bist vielleicht zu gutmütig«, erwiderte Martin. »Lass dir nicht alles gefallen.«
»Ach, du hast gut reden«, stöhnte Kerstin. »Lass uns nicht von der Arbeit reden.«
»Okay«, sagte Martin und wollte noch etwas Wein nachgießen.
»Danke, für mich nicht mehr«, wehrte Kerstin ab. »Ich muss morgen früh raus. Ich habe doch den Termin in Frankfurt.«
Den hatte Martin ganz vergessen. Aber wieso sollte er auch ihre Termine im Kopf haben? Sie jedoch musste alle Termine der Familie im Kopf behalten: Zahnarzttermine, die Müllabfuhrtermine, Neles Wettkämpfe, Jonas’ Trainingstage, Leons nächste U beim Kinderarzt und natürlich die Elternabende. Heute war einer durchgerutscht. Was ja auch kein Wunder war. Wer setzte schon so kurzfristig vor den Ferien noch einen Elternabend an?
Kerstin wollte wieder aufspringen, weil ihr gerade eingefallen war, dass sie die letzte Wäsche noch in der Maschine hatte. Aber Martin hielt sie zurück: »Ist schon erledigt, war hoffentlich alles für den Trockner geeignet?« Eher nicht. Aber Kerstin war trotzdem dankbar, dass sie sich wieder setzen konnte.
»Was machen wir eigentlich im Urlaub?«, wechselte Kerstin das Thema. Bald fingen die Sommerferien an. Martin und Kerstin hatten sich die letzten drei Ferienwochen frei genommen, um mit den Kindern gemeinsam etwas unternehmen zu können. In den letzten Jahren waren sie immer spontan in irgendein Klettergebiet gefahren und hatten ihr Familienzelt auf einem der Campingplätze aufgeschlagen, auf die man ohne Voranmeldung hatte kommen können. Manchmal waren sie zusammen mit Freunden oder mit Kerstins Schwester Judith gefahren, einige Male war auch einfach eine Freundin von Nele oder ein Freund von Jonas mitgekommen.
»Letztes Jahr waren wir in der Provence und davor in den französischen Alpen. Vielleicht mal wieder in die Ardeche?«, überlegte Martin. »Haben die Kinder schon Andeutungen gemacht, wo sie hinwollen?«
»Nele will nach Frankreich, Jonas am liebsten nach Spanien zu den Großeltern, aber nur, wenn sein Kumpel mitkommen kann, und Leon will nicht weit fahren müssen«, zählte Kerstin die Wünsche auf, die sie noch in Erinnerung hatte.
Martin stöhnte auf: »Mir ist Spanien im August auf jeden Fall zu heiß. Und deine Eltern kommen sowieso bald vorbei.«
»Und wohin dann?«, fragte Kerstin.
»Hauptsache, zwei Wochen am Stück weit weg von Computern und Handys, dafür nah an geilen Felsen, gutem Wein und schönen Frauen«, grinste Martin und verzog das Gesicht, als Kerstin ihn protestierend mit ihrem Fuß gegen das Bein kickte.
»Okay, hier kommen wir nicht weiter. Da muss der Familienrat tagen.«
Nachdem Martin eine Weile andächtig auf die Hecke gestarrt hatte, fragte er: »Mir fällt noch etwas ein: Du hast bald Geburtstag. Willst du was Besonderes machen? Eine Feier mit Freunden? Georg und Steffi waren doch lange nicht mehr da. Und Simone und Karsten haben wir auch schon länger nicht mehr getroffen.«
Daran hatte Kerstin noch gar nicht gedacht. Ihr Geburtstag war immer ein Anlass gewesen, Freunde einzuladen, die sie lange nicht gesehen hatten. Und dieses Jahr fiel der Tag sogar auf einen Samstag.
»Klar, warum nicht? Wäre schön. Jeder bringt was fürs Buffet mit anstelle von Geschenken. Ich muss nichts kochen und darf mich überall durchfuttern. Klingt gut.«
Martin sah ihr tief in die Augen und fing an, ihre Beine zu streicheln.
»Wünscht du dir was Bestimmtes?«, fragte er.
»Na ja, wenn Du so fragst, ich habe hier so eine fiese Verspannung im Nacken und die müsste noch dringender massiert werden als meine Füße«, grinste Kerstin.
Martin hob die rechte Augenbraue: »Hier und jetzt oder erst zum Geburtstag?«
Kerstin stand auf, nahm die Gläser vom Tisch und hauchte ihm, ein Gähnen unterdrückend, ins Ohr: »Wie wäre es mit gleich oben? Wenn du Glück hast, kann ich mich nach dem Duschen noch eine halbe Stunde wach halten.«
Das ließ Martin sich nicht zweimal sagen. Er nahm ihr die Gläser ab und brachte sie in die Küche, während Kerstin sich auf dem Weg ins Bad machte.
Das Duschen tat gut. Kerstin freute sich auf ihre Massage und auf das, was nach der Massage folgen würde. Schade nur, dass sie so müde war und der Ausklang des Abends wahrscheinlich nicht ganz so leidenschaftlich ablaufen würde, wie sie es sich gewünscht hätten. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass sie unter einem Wasserfall stand, irgendwo in der Karibik.