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Kapitel 2
ОглавлениеDr. Robinson muss sich einfach irren! Natürlich hat er sich vertan! Er hat einfach eine Null am Ende vergessen! Zehn bis zwanzig, wollte er sagen und das war schon verdammt wenig. Ich weiß, es ist wohl niemals genug aber zehn bis zwanzig Jahre klingt in jedem Fall besser als eins bis zwei.
Kapitän Efraim Rodriguez senkte den Kopf und löste den Gürtel an der Schnalle ein wenig, um sich etwas Platz zu verschaffen. Danach berührte er mit den Daumenkuppen die Unterseite seines Brustkorbes. Was für ein Quacksalber, dachte er. Ein Jahr gibt er mir noch, ein verdammtes Jahr! Das Zweite hatte er schnell angehängt, als er bemerkte, dass es mich beinahe umhaute. Natürlich hat er die Null am Ende nicht vergessen. Es gibt sie einfach nicht!
Nachdenklich verließ er die Arztpraxis seines langjährigen Hausarztes in El Limonar, einem noblen Wohnviertel von Malaga. Krebs lautete das niederschmetternde Urteil des Doktors. Dazu kam das vernichtende Wort „unheilbar“.
Vor einigen Jahren hatte es angefangen. Zunächst waren es nur leichte Beschwerden im Unterleib gewesen. „Die Bauchspeicheldrüse macht dir Probleme“, hatte Doktor Robinson prognostiziert. Was dann folgte, waren unzählige medizinische Behandlungen und eine Operation, wobei man ihm die bereits befallene Stelle entfernt hatte. Für eine kurze Zeit war eine gewisse Besserung eingetreten, aber dann kamen sie wieder, diese Ausfälle. Meist nur für ein paar Stunden, denn er hatte gelernt entsprechende Medikamente schmerzstillend einzusetzen. Aber auf scharf gewürztes Essen hatte er trotzdem nicht verzichtet.
Am Paseo Limonar bestieg er ein Taxi, das ihn zum Hafen bringen sollte. Der Fahrer hatte einen Latinosender eingeschaltet, doch die fröhlichen Rhythmen aus dem Radio nahm er kaum war, da er ganz in Gedanken versunken aus dem halbgeöffneten Seitenfenster blickte. Was er sah, waren jene vertraute Objekte, die ihn jetzt beunruhigten: Das Licht überflutet Hospital Vithas mit dem anliegenden Park San Antonio, das prächtige Hotel Las Vegas, die Plaza Jardin de San Nicolas, die Plaza de Malagueta, die Plaza de Torros und schließlich die Marina selbst, mit der neuen, pompösen Hafenanlage. Sie schienen sich verändert zu haben, seit er das letzte Mal an ihnen vorbeigekommen war. Oder kam ihm das nur so vor, weil er sich jetzt alles viel intensiver anschaute? Eine Gruppe Schuljungen zog lachend und lebendig durch die Straßen. Alles war wie immer und würde auch noch weiterhin bestehen bleiben, während es für ihn keine Zukunft mehr gab.
Das Taxi passierte die Festung Alcazaba, an deren Fuß seine alte Schule lag. Dort hatte er sich vor langer Zeit mit Seefahrtskunde beschäftigt. Die lockenden Lichter des Paseo Maritimo machten ihn traurig und selbst der alte Leuchtturm auf der anderen Seite des Hafenbeckens bekam für ihn eine erschreckende Bedeutung. Er war auch ein Element der Vergangenheit. Nach und nach mischten sich Neid und Wut in seine Trauer. Warum wird mir dieser schöne Planet streitig gemacht? Wenn es wenigstens etwas wäre, dass alle betrifft. Vielleicht eine Naturkatastrophe. Ich würde jenes kosmische Ereignis bedauern und mich meinem Schicksal fügen. Aber so lagen die Dinge leider nicht. Es gab keine neuerliche Eiszeit oder so etwas Ähnliches. Wenigstens noch nicht so bald.
Der Fahrer hielt kurz vor dem Pier. Efraim gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Er hörte noch, wie sich der Fahrer bedankte und mit seinem Taxi davonbrauste. Jetzt war er wieder allein. Er machte sich auf den Weg zur Anlegestelle der Kreuzfahrtschiffe. Dabei kam ihm jede Wahrnehmung wie etwas nie zuvor Erlebtes vor. Selbst die salzige Luft des Meerwassers und die stinkenden Diesel der Barkassen im Hafenbecken, bedeuteten für ihn eine traurige Realität. Sie würden bleiben, während er gehen musste.
Erst als er sein strahlend weißes Schiff sah, wurde er ruhiger. Die Muelle 2, an der es lag, war noch abgedunkelt. Er ging zur Gangway und blickte an der Bordwand des Schiffes zunächst nach links, danach nach rechts. Irgendwie schien der Bug der Marilu überhaupt kein Ende zu nehmen. Die Nachtwache grüßte ihn und ließ ihn an Bord gehen. Oben wäre er beinahe mit Rubén zusammengestoßen. Rubén stammte aus Kuba und sorgte für die musikalische Unterhaltung an Bord der Marilu. Er war ein verdammt guter Gitarrist. Efraim mochte ihn und bewunderte ihn heimlich wegen seiner hervorragenden Spieltechnik. Immerhin versuchte er sich manchmal selbst an der alten Schlaggitarre, die in seiner Kabine lag, obwohl dabei nicht viel heraus kam. Rubén war allerseits beliebt, galt als humorvoll und hilfsbereit. Auch diesmal grüßte er freundlich und hielt seinem Kapitän die Tür zum Oberdeck auf. Efraim bedankte sich mit wenigen Worten und ging direkt in seine Kabine. Hier schloss er die Tür von innen ab, entledigte sich seiner Jacke und legte sich auf sein Bett. Das an Bord gehen war für ihn so etwas wie nach Hause kommen. Vielleicht lag es daran, dass er keine Familie hatte. Er war allein auf der Welt, denn bei Frauen hatte er niemals zu Hause sein wollen, sondern nur Gast. Das war ihm immer ehrlicher vorgekommen. Nur einmal wäre er beinahe bei einem Mädchen gestrandet. Damals im Norden. Bei der süßen Milagros, mit der er mehrere Tage und Nächte verbracht hatte. Aber ein paar Nächte sind noch nicht das ganze Leben. So war er aber immerhin in A Coruña zu einer Tochter gekommen. Eine Tochter, die er bisher noch nie persönlich gesehen hatte. Er war nun einmal auf dem Schiff zu Hause und diesmal war es eine verdammt traurige Heimkehr geworden. Es gab niemanden, dem er von seiner veränderten Situation hätte erzählen können.
Das Leben leben, als sei jeder Tag der letzte, sagt man doch, dachte er und seufzte. Bei mir wird es nur noch ein Jahr sein und das hört sich absolut nicht gut an. Vielleicht...wenn ich das Jahr in Stunden und Minuten umrechne... Immerhin, jetzt kommt doch noch ein ganz schöner Wert dabei heraus...Ach was! Die werden sich ziemlich schnell verbrauchen. Morgen laufen wir aus. Dann stehe ich auf der Brücke und sehe hinüber zu den Kaimauern des Hafenbeckens. Verdammt, dann sind schon wieder etliche Minuten vergangen. Und so wird es dann weitergehen. Nach der Rückkehr aus der Karibik, sind es noch einmal weniger geworden. Ein paar Reisen verbleiben mir dann noch, aber die Minuten werden immer schneller vergehen. Scheiße! Was ist das für eine hinterhältige Rechnung, die ich da aufmache? Am besten ich bleibe bei dem einen Jahr. Das klingt in jedem Fall viel besser.
Er stand wieder auf und zog den Gitarrenkoffer unter seinem Bett hervor. Als er ihn öffnete und die Saiten anschlug, hörte er, dass die Gitarre noch gestimmt war. Er klimperte ein paar Akkorde vor sich hin, dann legte er die Gitarre wieder zurück in den Koffer. Irgendwie war ihm nicht nach Musik zu Mute. Ihn dünkte nach etwas härterem. Tequilla! Die Flasche stand in seinem Eisschrank. Er füllte sich ein Glas, trank es, schüttete wieder nach und trank. Dann stellte er die Flasche auf die Seite. Es fing wieder an. Allerdings diesmal zu einer ungewohnten Zeit. Für gewöhnlich meldete sie sich erst Stunden nach einer Mahlzeit. Vielleicht hing das jetzt mit seiner veränderten Lage zusammen. Efraim ging ins Bad. Wenn sich das Leiden einmal eingestellt hatte, war er mit der Vorgehensweise vertraut. Zuerst kommt die Phase, die noch keine Schmerzen mit sich bringt, sondern nur Übelkeit und Schüttelfrost.
Er knöpfte sich das Hemd auf und fuhr mit seiner Hand über die kleine Narbe, die von der zurückliegenden Operation stammte. Vielleicht würde er ohne den damaligen Eingriff bereits schon nicht mehr leben. Er war ein großer, schlanker Mann von noch nicht einmal fünfzig Jahren, dem man an gesunden Tagen sein Alter nicht ansah. Wenn ihn allerdings die Attacken überfielen, wirkte er alt und verbraucht, und sein Gesicht war grau und voller tiefer Falten. Geübt setzte er sich die Morphium Spritze und bereits fünf Minuten später begann das Brennen langsam nachzulassen. Er fühlte sich seltsam befreit und plötzlich hatte er einen Einfall.
„Jetzt weiß ich es! Ich werde nach dieser Fahrt Schluss machen und einen ausgiebigen, langen Urlaub nehmen. Gespartes habe ich genug und ich werde das Geld mit vollen Händen ausgeben und jede noch mir verbleibende Minute genießen. Einige Freunde und Bekannte werde ich mit kleinen Geschenken beglücken. Ich werde fremde Länder bereisen, die ich bisher noch nicht gesehen habe und anschließend eine lange Zeit in dem kleinen aber feinen Hotel an der Playa Manuel Antonio in Costa Rica verbringen. Vielleicht könnte ich sogar Valeria meine Tochter besuchen. Sie hat immerhin ein Recht darauf ihren Erzeuger kennenzulernen. Doch zuerst sollt es Costa Rica sein.
Ganz ruhig, und entspannt lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. Etwa alle zwölf Stunden kamen die Attacken nun. Manchmal dauerte es auch länger aber das bedeutete für ihn schon puren Luxus. Die Ärzte hatten es ihm oft genug gesagt. Vor einiger Zeit hätte man dank neuer Erkenntnisse in der Krebsforschung vielleicht noch etwas machen können. Nun war es allerdings zu spät. Neben der Bauchspeicheldrüse waren bereits auch andere seiner inneren Organe befallen. Trotzdem wollte er nicht an sich herumexperimentieren lassen. Wie makaber, dass Doktor Robinson ihm von einer neuartigen Heilungsmethode erzählte, obwohl sie für ihn nicht mehr infrage kam. Das eine Jahr galt nun als Tatsache, mit der er zu leben hatte. Ein Urlaub bis an das Ende seiner Tage wäre ganz gewiss eine sinnvolle Kompensation, vielleicht sogar die Einzige. Er konnte nur hoffen, dass der stufenweise Niedergang noch auf sich warten ließ. Er wollte von jetzt an jede Minute seines letzten Jahres genießen. Gleich nach der Rückkehr aus der Karibik, wollte er seinen Dienst quittieren. Kein Sterbenswörtchen würde er über seine Krankheit fallen lassen, sondern sich ganz einfach nach all den Dienstjahren eine Auszeit gönnen. Und die unsagbar schöne Bucht von Playa Manuel Antonio war das Beste, was ihm dazu einfiel.