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Kapitel 3

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Am anderen Morgen waren sie da. Mehr als tausend Passagiere in roten Rettungswesten standen in kleinen Gruppen auf den Decks zusammen und folgten den vorgetragenen Sicherheitshinweisen. Kurze Zeit später ertönte das laute Signal zur Abfahrt und Kapitän Efraim Rodriguez setzte den weißen Koloss in Bewegung. Stetig aber sicher entfernte sich die Silhouette des Hafens von Malaga aus seinem Blickfeld.

Melba, Luis und Claudio begutachteten ihre Kabinen. Sie waren geräumig und pastellfarbig in toskanischem Stil gehalten. Alles war vorhanden: Schrank, Doppelbett, Duschbad, Minibar, Spiegelkommode mit Schreibpult und ein Plasma-Fernseher, auf dem man die genaue Position und die Fahrroute des Schiffes mit verfolgen konnte. Auf dem Schreibpult lag der Cruise Kompass, ein Merkblatt, das täglich verteilt wurde, um die Passagiere über sämtliche Aktivitäten an Bord zu informieren.

„Seid ihr schon fertig?“ tönte es von der gegenüberliegenden Kabine zu den beiden Freunden hinüber. Melba dachte gar nicht daran, zuerst ihren Koffer auszupacken. Sie war voller Neugierde auf das riesige Kreuzfahrtschiff und wollte möglichst sofort sein aufregendes Innenleben inspizieren.

Die Kabinen der Passagiere befanden sich auf Deck zwei und drei. Auf Deck vier lagen das sogenannte Zentrum mit dem Schalter des Kundenservice, die Champagner Terrasse, der Spiel Salon, mit unzähligen, einarmigen Banditen, sowie dem unteren Teil des McBeth Speisesaals.

Deck fünf bestand aus einer einzigartigen Einkaufsstraße, der Royal Promenade mit kleinen Boutiquen, Cafés, Eissalon, Pizzeria, Friseursalon, sowie einem typischen dunklen englischen Pub. Daneben befanden sich: Der zweite Teil des großen McBeth Speisesaals und der Eingang zum Alhambra Show Theater. Auf dem sechsten Stockwerk waren die Passagier-Suiten, Bibliothek, Konferenzräume, Showboat Lounge, Internetcafe, Bildergalerie mit Auktionsraum sowie die Kreuzfahrtberatung.

Fehlten noch Deck acht mit dem Wellnessbereich, diversen Pools, Solarium, Fitnessraum, sowie Deck neun mit Laufparcour, Golf, Tischtennis oder Ballspiel und letztendlich das Oberdeck zehn, mit der Viking-Lounge Bar und der Diskothek.

„Ist es hier nicht einfach umwerfend?“ meinte Melba entzückt, nachdem sie mit ihren beiden männlichen Begleitern mehrere Stunden das Innenleben des prachtvollen Schiffes durchforstet hatte.

„Nun lasst uns aber hinunter in den Speisesaal gehen, ich habe großen Appetit und bin schon auf die Menüauswahl gespannt.“


Sie nahmen an der ersten Essenssitzung um neunzehn Uhr teil und standen aufgeregt vor dem ganz in rotem Plüsch gehaltenen, pompös wirkenden Speisesaal.

„Tisch vierundsechzig bitte!“ Ein ganz in bordeauxrot gekleideter Kellner führte sie durch den Irrgarten von Tischen, Stühlen und Buffets. Ein goldenes Schild wies ihn als Francesco Orlando aus. Er war zweifelsfrei Italiener. An einem ovalen, auf Hochglanz polierten Tisch blieb er stehen. Der war für zehn Personen gedeckt. Kaum, dass sie sich gesetzt hatten, entstand auch schon eine Art Small Talk. Die Gäste stellten sich einander vor, während Claudio und Luis das Schmunzeln und die zweideutigen Blicke einiger Mitreisender nicht entging. Eine bildhübsche, junge Dame, die mit zwei Herren verreiste, was mochte wohl dahinter stecken? Mit wem war sie zusammen?

Als man Claudio nach seinen Beruf fragte, entschloss er sich dafür sein schwerstes Gesprächsgeschütz zu platzieren. „Ich bin Schriftsteller“ antworte er freundlich und nippte dabei an einem Weinglas welches ihm in der Zwischenzeit gereicht worden war. Vorherige Erfahrungen hatten ihm gezeigt, dass die Erwähnung seines Berufes einer Gruppe von Fremden gegenüber oftmals Reaktionen von Erstaunen bis hin zur Bewunderung auslöste. Manchmal wurde ihm auch bis ins kleinste Detail von obskuren, ja mysteriösen Autoren erzählt, die jahrelang Manuskripte bei zig tausenden Verlagen einreichten, jedoch niemals die Chance auf eine Veröffentlichung bekamen. Diese Taktik funktionierte fast immer um ein Abendessen in eine Art gemütliches Gesellschaftsspiel zu verwandeln, wobei ihm dann meistens der Part des Verlierers zugedacht war. Den letzten noch verbliebenen freien Platz an ihrem Tisch nahm dann eine etwas skurrile Persönlichkeit ein: Ein Weltenbummler, der sich schon etliche Tage nicht mehr gewaschen, geschweige denn gekämmt oder rasiert zu haben schien. Er trug ein verblichenes Flanellhemd zu einer abgenutzten und löchrigen Jeanshose. Auch so etwas gab es heutzutage auf einem Kreuzfahrtschiff.

In der Tat war das Leben an Bord eines solchen Ozeanriesen eine Welt für sich. Schnell hatten sich die Reisenden an die Fotoshooting Mentalität gewöhnt. Schiffseigene Fotografen waren überall anzutreffen. Für Fotos wurde posiert, was das Zeug hielt. Beim Abendessen oder zu besonderen Veranstaltungen, mit dem Kapitän, oder mit den Kellnern und Künstlern, beim Verlassen des Schiffes, bei der Champagne Begrüßung, dem Gala Abend und bei was es nicht sonst noch so alles gab. Die Fotos wurden dann im Gang zum Speisesaal nebeneinander aufgereiht und für den Verkauf ausgestellt.

Ein ausgedehntes Duschbad erweckte die Lebensgeister, während der eifrige Room-Service bereits die feuchten Handtücher, die Claudio zum trocknen über den Stuhl vor der Spiegelkommode gelegt hatte, geschickt austauschte. Über Lautsprecher wurde noch einmal auf die Aktivitäten des Abends hingewiesen. Eine Eisshow sollte die Hauptattraktion sein und ab 23 Uhr spielte ein kubanischer Musiker Rockoldies in der Viking-Lounge. Das alles geschah während die Marilu Kurs auf die kanarischen Inseln nahm.


Efraim hatte sich eine Spritze gesetzt und fühlte sich jetzt besser. Die drohenden Schmerzen waren zunächst abgewehrt. Kurzerhand nahm er eine frische Uniform aus seinem Schrank und schlüpfte hinein. Es war halb elf, als er seine Kabinentür entriegelte und nach dem Steward läutete. Er bekam ein Abendessen serviert, welches Doktor Robinson mit Sicherheit sofort in die Toilette gekippt hätte. Nach dem Essen ging er hinauf in die Viking-Lounge Bar. Er wusste, dass Rubén ab Elf hier Rockoldies von Santana zum Besten gab. Und Rubén legte los wie der Teufel. Nach „Oye como va, Samba Pa Ti und Europa folgte Black Magic Woman. Efraim hatte sein Problem vollkommen vergessen. Er bewunderte Rubéns Spieltechnik. In der Pause gesellte sich der Musiker zu ihm. Die beiden Männer waren schon öfters miteinander zur See gefahren. Daher gingen sie eher freundschaftlich miteinander um. Sie rauchten, tranken Kaffee und sprachen über den ersten Reisetag. Efraim fand, dass Rubén müde und abgespannt aus sah. Der Rock `n Roll scheint seine Spuren zu hinterlassen, dachte er.

„Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, mein Lieber“, sagte er auch prompt zu Rubén.

„Vielleicht rauche ich zu viel, dazu schlafe ich nicht gut“, bekam Efraim als Antwort zu hören.

„Mm...ich habe mir schon gedacht, dass etwas nicht mit ihnen stimmt. Sie sind in Malaga die ganze Zeit an Bord geblieben, während sich ihre Kollegen an Land vergnügten. Was ist denn los mit ihnen?“

Diesmal antwortete Rubén nicht sofort. Er überlegte eine Weile, dann stellte er seinem Kapitän eine Gegenfrage: „Sind Sie eigentlich schon einmal verheiratet gewesen, Senor Capitan?“

Efraim musste nicht lange überlegen, obwohl ihn diese persönliche Frage einigermaßen überrascht hatte. „Nein, ich bin immer Junggeselle geblieben, aus eigener Überzeugung sozusagen, warum fragen sie?“

Es folgte eine lange Pause in der keiner der beiden Männer ein Wort von sich gab. Plötzlich zog Rubén ein zerknittertes Foto aus seiner Hosentasche und legte es vor Efraim auf den Bartisch. „D...das ist meine Verlobte“, sagte er. Efraim sah sich das Foto an.

„Eine sehr schöne Frau“, sagte er, dachte aber insgeheim: Armer Kerl! Sie ist doch viel zu schön für einen Musiker, der andauernd unterwegs ist. An seiner Stelle würde ich gut auf sie aufpassen.“

Und dann sprudelte es auch schon wie von selbst aus dem armen Rubén heraus. Er berichtete seinem Kapitän, dass er seine Verlobte schon zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der Kontakt zu ihr sei quasi abgebrochen, als damals klar war, dass er nicht nach Kuba zurückkehren würde. In Gedanken sah er vor sich, wie er Daynais kennengelernt hatte:

Natürlich machen wir weiter. Die Musik ist schließlich unser Leben. Und wir haben Fans und Freunde. Sogar in der UJC (Vereinigung junger Kommunisten). Durch sie finden wir Fürsprechung und Unterstützung.

Ich drehe mich auf dem schäbigen Hocker der Cantina herum und blicke sehnsüchtig zur geschlossenen Tür de la Sectorial Provincial de Cultura. „Wann fängt der Beamte endlich an zu arbeiten?“ Eigentlich habe ich keine Lust mehr zu warten, doch ich bin extra hergekommen. Also starre ich weiter auf die geschlossene Tür. Und da – wie durch ein Wunder, sie öffnet sich. Das Mädchen mit dem langen, schwarzen Haar, das aus der Tür tritt, ist höchstens zwanzig Jahre alt. Sie hat eine reife, frauliche Figur, die durch den engen Rock, den sie trägt, vorteilhaft betont wird. Sie wirkt adrett und nett. Mit einer elastischen Bewegung, zieht sie die Tür hinter sich zu. Ich springe von meinem Hocker und laufe auf sie zu. „Bitte, Senorita, wann öffnet die Oficina de la cultura?“, frage ich sie. „Ich habe eine Verabredung, aber es ist schon weit über die Zeit.“

Sie fährt überrascht herum und sieht mich mit ihren großen dunklen Augen an.

„Oh, das tut mir leid“, sagt sie. Der Genosse Pérez ist noch nicht aufgetaucht.“

„Waren sie die ganze Zeit da drin“, frage ich.

„Ja“, antwortet sie. Dabei sieht sie mich an, als erwarte sie eine weitere Erklärung.

Ich sehe sie gespannt an und habe den Beamten für einen Augenblick vergessen. Sie ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Ich bleibe stumm vor ihr stehen. Sie lächelt, greift in ihre Handtasche und holt einen Schlüssel hervor.

„Kommen sie, ich lasse sie rein“, sagt sie freundlich.

Vielen Dank, sie arbeiten hier?“, frage ich überrascht. Sie nickt mit dem Kopf.

„Ich komme wegen des Lokals“, sage ich. „Senor Pérez hat versprochen, sich darum zu kümmern. Wegen der Instrumente.“

„Instrumente?“

„Ja, ich bin Musiker.“

„Salsa oder Rumba?“

„Nee, Rock!“

„Wie bitte?“

„Ich meine, ich bin Gitarrist in einer Rockband.“

„Und so etwas gibt es bei uns in Kuba?“

„Und ob. Wir benötigen einen Ort zum Unterstellen der Musikinstrumente. Das tägliche auf,-und abbauen, sowie der lästige Transport, sie verstehen?“

Noch ehe sie antworten kann, erscheint hinter ihr ein Mann im Türrahmen. Er trägt eine Offiziersuniform, was ihn mächtig wichtig erscheinen lässt.

„Ah, der Musiker“, begrüßte er mich. „Gut, dass sie kommen. Ich habe da vielleicht etwas für sie, aber kommen sie doch bitte mit nach oben. In meinem Büro spricht es sich leichter.“ Er behandelt mich zuvorkommend und korrekt. Was er mir anbietet, ist ein Kellerraum, der so aussieht wie eine Grotte. Er soll uns als Probe,- und Unterstellraum für die Instrumente dienen. Ich bedanke mich und verspreche sein Angebot mit den anderen zu besprechen. Beim Verlassen der Oficina treffe ich das Mädchen wieder. „Hey, wie wär`s“, frage ich. „Wollen wir am Abend etwas trinken gehen?“

Sie dreht sich um, geht zu einem Wandschrank, holt eine Mappe heraus und kommt dann zurück. „Ich weiß nicht so recht“, antwortet sie.

„Ach kommen sie schon. Oder haben sie einen Freund?“

„Nein, im Moment nicht.“

„Na sehen sie. Ich verspreche ihnen auch ganz artig zu sein.“

Sie überlegt. Dann sagt sie: „ Also gut, warten sie nach Feierabend auf mich.“

„Ja“, sage ich, „gern“. Sie dreht sich um und will zurück in ihr Büro.

„Halt rufe ich schnell. Ich weiß ja nicht mal ihren Namen.“

„Wie bitte“, fragt sie.

„Den Namen, wie heißen sie?“

„Oh“, sie kichert.

„Na, wie heißen sie denn?“

„Daynais!“ sagt sie und entfernt sich schnell.

So war es damals gewesen mit Dayanis. Der Proberaum sollte übrigens für fünf lange Jahre unser Domizil bleiben. Und das trotz tausender Insekten und Gerüchen nach Fäulnis und Fäkalien, die uns von nun an ständig begleiteten.

„Apropos Kuba, können sie nicht wenigstens auf einen Besuch in ihre Heimat zurück kehren?“, unterbrach der Kapitän Rubéns Gedankengänge.

„Auf keinen Fall. Republikflucht ist ein sehr schweres Delikt.“

„Aber Fidel ist doch gar nicht mehr an der Macht. Es soll sich doch sehr viel verändert haben in ihrem Land?“

„Nach außen hin vielleicht, aber drinnen sitzen noch immer die gleichen Gesinnungsgenossen am Ruder. Die würden mich sofort einbuchten.“

„Und ihre Freunde und Verwandte?“

„Die gibt es selbstverständlich noch! Meine Verlobte, meine Schwester, mein Vater, ein paar Vettern und Cousinen, und natürlich meine Freunde und frühere Studienkollegen leben noch auf der Insel. Ihnen ist der Kontakt zu mir strengstens untersagt worden.“

„Das heißt, sie haben ihre Leute seit damals nie mehr wiedergesehen?“

„Leider nein. Es gibt keine Möglichkeit, da sie ja nicht reisen dürfen.“

„Mm...“

„Stellen sie sich vor, sie träumen von der Südsee, möchten einmal unbedingt dort hin. Aber sie können nicht, sie dürfen einfach nicht. Es gibt Menschen, die nur einmal rüber nach Mexico wollten oder auf einen Sprung nach Miami. Viele haben den Versuch bereits mit dem Tod bezahlt. Das System ist einfach unmenschlich.“

„Das ist wirklich schrecklich“, entfuhr es dem Kapitän anhand Rubéns Schilderung.

Für einen Moment lang herrschte ein tiefes Schweigen zwischen den beiden, welches nur von den leisen Tönen der Hintergrundmusik unterbrochen wurde. Dann deutete Rubén auf seine Gitarre.

„Ich muss wieder auf die Bühne. War nett mit ihnen zu plaudern Capitan.“

„Die Freude ist ganz meinerseits Rubén, aber ehe ich es vergesse, von der nächsten Reise an hat die Marilu einen anderen Kapitän!“

Der Kubaner erschrak und versuchte zu ergründen, ob diese Mitteilung nur als Scherz gemeint war.

„Es stimmt wirklich“, sagte Efraim. „Ich nehme mir Urlaub auf unbestimmte Zeit. Hab da hier und dort noch etwas zu erledigen und mit fünfzig möchte ich mir auch einige Träume verwirklichen.“

Rubén schluckte laut. „A...aber, sie kommen doch wieder Senor Capitan?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich habe für ein paar Jahre Privatleben gespart und möchte mir einfach diese Auszeit gönnen. Mit Sicherheit besteige ich so schnell kein Kreuzfahrtschiff mehr! Vielleicht kaufe ich mir sogar ein Haus, irgendwo im Süden, wo es sich gut leben lässt.“

„Na, ob ihnen das nicht zu langweilig wird?“

„Ich denke nicht. Ich habe mir das Ganze gut überlegt und möchte noch so Einiges nachholen. Außerdem werde ich einmal anders reisen. Nicht immer nach der Uhr fahren und die Verantwortung für einen Haufen Passagiere tragen.“

„Mm...und wer übernimmt dann die Marilu?“

„Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe erst einen Tag vor dem Auslaufen die Reederei verständigt.“

Damit war der Erklärung genug abgegeben fand der Kapitän. Er ging zu den Aufzügen, während sich Rubén nachdenklich die Gitarre umschnallte.

Endstation Sehnsucht

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