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Kapitel 4

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Kapitän Efraim Rodriguez war noch ein Schiffsführer der alten Stunde. Er fühlte sich als Kaufmann, Richter, Arzt und Seelsorger in einer Person und am liebsten stand er selbst auf der Brücke, schmeckte das salzige Seewasser, während er sein widerspenstiges Schiff bändigte. Die hightec Welt mit seiner ständig wachsenden Bürokratie war ihm zuwider, auch wenn er auf technische Errungenschaften wie das weltweite Ortungssystem zum Beispiel ungern verzichten mochte. Seine Vorstellung von einem idealen Kapitän stammte aus einer fast dreißigjährigen Erfahrung in der Seefahrt. Bereits in jungen Jahren hatte er kleinere Handelsschiffe auf kurzen Strecken im Mittelmeer befehligt. Dann hatte er sein Glück bei einer der größten Kreuzfahrtgesellschaften versucht und sich schon recht bald jenen vertrauensvollen Posten erworben, den er bis zum heutigen Tage inne hatte. Automation hin oder her, er wusste am besten wie und wann einer bevorstehenden Gefahr zu begegnen war.

Für die über tausend Schiffspassagiere war der Kapitän ein wichtiger Bestandteil der Seereise. Fast gehörte er in den Werbeprospekt wie die Unterkunft, die Verpflegung oder auch die Landausflüge. Daher war das erste Abendessen für die meisten Passagiere eher eine Enttäuschung. Der Kapitänsplatz war leer geblieben. Schon tauchten Fragen auf wie: „ Wo ist er, wie sieht er überhaupt aus, und wie alt mag er sein?“

Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hegte Efraim eine richtige Abneigung gegen den gesellschaftlichen Teil seines Berufes. Menschlich gesehen war ein bisschen Spröde, was aber der Beliebtheit bei seiner Mannschaft keinen Abbruch tat.

„Können sie mir nicht die Kapitänsgala abnehmen Alvaro?“ fragte er deshalb am dritten Abend seinen ersten Offizier.

„Alles, nur das nicht“, entgegnete der mit einem breiten Lächeln. „Da müssen Sie leider selbst durch. Wenn der Schwindel auffällt, dann wirft mich die Meute eigenhändig über Bord. Warum hegen sie eigentlich eine so ausgeprägte Abneigung gegen Passagiere?“

„Ach was, das stimmt doch gar nicht. Sie interessieren mich nur nicht besonders, was ich auch gerne zu gebe.“

„Na wenn die das wüssten“, scherzte Alvaro. Jetzt musste auch Efraim grinsen. Er wusste ganz genau, er würde der Gala und dem Posieren nicht entkommen können. Daher fügte er sich seinem Schicksal.


Luis und Claudio waren den ganzen Morgen zusammen mit Melba über den Laufparcour gerannt. Jetzt wollten sie ihre sportlichen Aktivitäten langsam ausklingen lassen und nur noch die Sonne am Pool genießen. Sie schafften es noch der fragwürdigen Kunstauktion in der Showboat Lounge auf Deck sechs aus dem Weg zu gehen. Von dem Kauf so genannter originaler Kunstwerke auf einem Kreuzfahrtschiff hatte man ihnen dringend abgeraten. Dem formalen Abendessen mit der großen Kapitänsgala hingegen konnten sie nicht entkommen. Im Gegensatz zu Melba, die sich bereits voller Vorfreude zum Umziehen in ihre Kabine zurückgezogen hatte, standen die beiden Freunde der bevorstehenden Kleiderauswahl eher etwas skeptisch gegenüber.

Gemäß dem Aussehen manch anderer Kreuzfahrtteilnehmer an jenem Abend, schien es den meisten Reisenden nicht viel besser zu gehen. Aufgetakelt bis zum äußersten stöckelten unförmige und in die Jahre gekommene rundliche Damen in kaum enden wollenden High Heels über die Royal Promenade auf Deck fünf, vorbei an Sorrentos Pizza, dem Cafe Promenade, Jerrys Ice Cream Shop, dem Friseursalon und der Squeeze Juice Bar in Richtung MacBeths Speisesaal.

Claudio hatte sich für eine helle Leinenhose und ein elegantes, dunkles Hemd, mit dazu passender Weste entschieden, bevor er sich auf den Weg in Richtung Speisesaal auf Deck vier machte. Beim Eintreffen am Tisch vierundsechzig waren die Neunzehn Uhr bereits um einiges verstrichen, denn er hatte noch vorher eine Tasse Kaffee in einem der zahlreichen Cafés auf dem Promenadendeck genossen und seine Augen nicht von den neusten Modetrends lassen wollen. Die hätte er sich allerdings getrost sparen können, denn beim Anblick der zurechtgemachten Melba blieb ihm glatt die Spucke weg. Sie war wirklich eine Göttin und der Star des Abends in dem prallgefüllten Speisesaal.

Kapitän Efraim Rodriguez ließ noch auf sich warten. Wie er solche Anlässe hasste. Nicht nur weil er sich in den engen, schwarzen Smoking zwängen musste. Ihm graute vor der geballten Aufmerksamkeit, den belanglosen Gesprächen und den vielen Fototerminen. Viel lieber würde er jetzt in seiner Kabine hocken und ein paar Akkorde auf der Gitarre klimpern, aber was sein musste, musste eben sein.

Der Empfang war grenzenlos, der Applaus wollte gar nicht aufhören, als er geflankt von seinen beiden Offizieren den Speisesaal betrat. Tisch fünfundsechzig stand auf einer leichten Anhöhe und war für drei Personen gedeckt. Efraim stand auf, erhob sein Glas und hielt die übliche Begrüßungsrede. Alles war reine Routine und schon viele Male vollzogen worden. Die Blitzlichter der Kameras leuchteten auf und dann war es auch schon fast wieder vorbei. Francesco Orlando brachte die Menükarte und nahm die ersten Bestellungen für die Vorspeise auf. Wie zufällig fielen die Augen des Kapitäns auf den Nachbartisch und blieben an jemand ganz Besonderem hängen. Seine Pupillen öffneten sich weit und seine Augen glänzten als er in das perfekt geschnittene Gesicht von Melba Gonzales Martinez schaute. Für einen kurzen Moment hatte sie seinen Blick erwidert und es hatte ihn beinahe umgehauen.

„Was für eine Schönheit!“ Er konnte sich gar nicht satt sehen an der jungen Dame, musste allerdings in Ausübung seiner Stellung, die Fassung wahren, denn immerhin war er die Obrigkeit an Bord. Außerdem war er kein Mann schneller Gefühle und Emotionen. Auch Luis konnte seinen Blick nicht von Melba lassen, die ihm zu allem Überfluss auch noch genau gegenüber saß. Ihr Aussehen war einfach perfekt und selbst die anwesenden Damen blickten neidisch, aus den Augenwinkeln, zu ihr hinüber. Dabei war sie längst nicht so aufgetakelt wie die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Nur das eben alles an ihr stimmte. Sogar die kleine goldene Spange, die sie sich in ihr langes Haar gesteckt hatte.

Während der Nacht passierte die Marilu die kanarischen Inseln. Der dritte Reisetag begann recht trübe. Der Himmel war Regenverhangen und dazu gab es Windböen bis Stärke acht. Das weiße Schiff wiegte sich über Backbord und Steuerbord und tauchte zusätzlich mit Heck und Bug in die hohen Wellen ein. Dieses bei den meisten Passagieren gar nicht beliebte „Schlingern“ dauerte bereits einige Stunden an und wenn die Marilu einmal aus ihrem Rhythmus ausbrach, dann gab es gleich einen harten Schlag gegen die Außenhaut des Schiffes. Für viele Reisenden bedeutete dieser Moment ein akrobatisches Turnen über die Decks während andere leidend in ihren Kojen lagen und sich der Vorstellung hingaben, dass die von Francesco Orlando servierten, exklusiven Mahlzeiten in ihren Mägen dieselben, wilden Sprünge machten, wie alles andere auf dem riesigen Schiff. Sie litten bis hin zur Selbstaufgabe unter der Zwangsweisen Teilnahme an einem Schauspiel, dem sie nicht entrinnen konnten.


Efraim öffnete frühmorgens die Schiebetür auf der Backbordseite und betrat das Oberdeck. Die tückischen Bewegungen der Wellen schien seinem Körper überhaupt nichts aus zumachen. Er gesellte sich zu einem der Matrosen, der dort die angeketteten Liegestühle kontrollierte, und peilte mit dem Fernglas die Lage. Auf der anderen Seite der Reling entdeckte er eine einzelne Gestalt in einer blauen Öljacke.

„Nanu“, sagte er zu seinem Seemann: „Haben wir noch eine Unerschrockene hier draußen?“

„In der Tat. dem war so, nur das die Person nicht nur unerschrocken sondern auch das hübscheste weibliche Wesen an Bord der Marilu war. Efraim zündete sich einen Cigarillo an und meinte: „ Die Dame habe ich bereits gestern in einem Abendkleid bewundern können. Sie sieht wirklich umwerfend aus.“

Der junge Matrose nickte ihm schweigend zu, während er seiner Arbeit nach ging. Jetzt blickte die junge Dame im Regenmantel zu ihnen herüber. Efraim nickte kurz zurück. Es war nicht mehr als eine freundliche Geste, dann ging er in seinen Salon und griff zu der angefangenen Flasche Tequilla. Er dachte an die Langeweile: „Sollte sie wirklich aufkommen? In diesem Fall hätte ich noch nicht einmal mehr dieses eine Jahr verdient, das Doktor Robinson mir noch gibt. Aber, sie wird sicher nicht kommen! Ich habe mich noch niemals gelangweilt. Und ganz besonders im Bewusstsein, dass es nur noch ein Jahr dauert, müsste eigentlich jede Sekunde zu einer spannenden Sache werden.“

Gegen Abend war der Sturm dann vorbei und das „normale“ Leben an Bord nahm wieder seinen Lauf: Die niemals enden wollenen Buffets, Restaurationen, Animationen, Sport und Unterhaltungsveranstaltungen während sich das Schiff dem Äquator näherte. Roger schlenderte vom Speisesaal kommend vorbei am Studio B, der Karaoke Bühne und dem Spielsaal mit den unzähligen einarmigen Banditen. (Jemand hatte ihm erzählt, dass mit den Automaten ähnliche Umsätze erzielt werden wie mit dem gesamten Fahrkartenverkauf aller Kreuzfahrtteilnehmer ).

Dann folgte er der halbrunden Treppe hinauf auf Deck fünf und marschierte über die elegante gläserne Brücke schnurstracks zum Kunden-Informationsschalter. Dort wartete er geduldig in einer Schlange hinter amerikanischen Touristen, die nörgelnd ein unwichtiges Reiseproblem lösen wollten und trug sein Anliegen vor.

Er hatte seine Identitätskarte verlegt und auf einem Kreuzfahrtschiff bedeutete der sogenannte Seepass nun einmal alles.

Die kleine Plastikkarte erlaubte das Betreten und Verlassen der Kabine, das An und Von Bord Gehen des Schiffes und sie war absolut notwendig für jegliche Einkäufe die man an Bord tätigen wollte. Und wenn es sich nur um eine einfache Tube Zahnpasta handelte. Ist man auf einem Kreuzfahrtschiff ohne den Seepass, so gibt es einen praktisch gar nicht. Das Problem wurde jedoch schnell gelöst und er nahm sich vor nach dem Abendessen wieder einmal die gute Musik des bordeigenen Musikers zu genießen. Blues und Rockballaden aus den 60er und 70er Jahren waren genau das, wonach ihm an jenem Abend der Sinn stand, da seine Versuche bei Melba zu landen mehr als ins Stocken geraten waren. Wo war sie überhaupt? Er hatte sie den ganzen Tag noch nicht gesehen. Luis unterhielt sich an der Bar des Zwischendecks ausgiebig mit dem Weltenbummler über Wassersport, Tauchen und Bootsführerscheine. Anscheinend war der so gammlig aussehende Mann ein Ass in diesen Dingen, denn bereits seit mehreren Stunden hockten die beiden nunmehr ununterbrochen zusammen und plauderten.

Das Wetter hatte sich schlagartig gebessert und die lauwarme Luft über dem tiefblauen Atlantik war für die Reisenden an Bord so etwas wie eine besondere Festtagsspeise. Rubén gab wie immer sein bestes. Dazu wurde getrunken, gegessen, getanzt und gesungen. Auch auf den geräumigen Außendecks. So sehr den Passagieren tagsüber das Wetter noch zugesetzt hatte, so gut tat ihnen die wohlige Brise der Nacht. Einzeln oder in Gruppen standen sie an der Reling und atmeten die weiche Luft ein. Auch Melba stand wieder an der Reling und wiegte sich im Klang der coolen Rockmusik. Dabei starrte sie über das von bunten Lampions erleuchtete Bootsdeck und versuchte in der Menschenmenge ein bekanntes Gesicht ausfindig zu machen.

Efraim, der kurz an Deck gekommen war und sie dort stehen sah, ging auf sie zu. Als sie seine Schritte vernahm, drehte sie sich um. Er beobachtete, wie sie ein ein Taschentuch hervorzog und sich leicht über die Stirn wischte.

„Das ist der Preis den man in diesen Breitengraden zahlen muss. Es ist die hohe Luftfeuchtigkeit und dazu das salzige Wasser“, sagte er.

„Mir liegt dieses Klima“, entgegnete Melba sanft. Sie war nur wenig überrascht darüber, dass er sie angesprochen hatte. Efraim griff nach seinen Zigaretten und bot ihr eine an. Sie kam dichter an ihn heran und während er ihr Feuer gab, war sie ihm so nah, dass er den Duft ihres weichen Haares wahrnehmen konnte.

„Aloe Vera“ sagte er als sie sich lachend eine Strähne aus dem Gesicht strich.

„Wow, für einen kühlen Seemann besitzen Sie aber ein feines Gespür“, antwortete sie.

„Sie stammen aus Malaga?“, fragte er.

„Nein, eigentlich aus Asturien. Ich lebe allerdings schon seit etlichen Jahren an der Costa Blanca. Waren sie schon einmal in Panama?“ Melba deutete auf die blau-weiß rote Fahne am Bug des Schiffes.

„Ja, zweimal. Ist ein verdammt schönes Land“, antwortete Efraim. Die Flagge der Reederei sagt allerdings schon längst nichts mehr über die Nationalität der Besatzung aus. Zwischen dem Service-Team gibt es hier an Bord eine eindeutige Rangordnung. Die meisten einfachen Seeleute, die Basisarbeiten verrichten, stammen aus dem fernen Osten. Es handelt sich um Chinesen oder Koreaner. Der Kabinen Service, die Küchenhilfen und das Personal am Buffet stammen von den Philippinen oder aus Indien. Im Speisesaal besteht das Service Team zum größten Teil aus Lateinamerikanern, der Oberkellner und der Chefkoch sind jedoch Europäer. Das junge Volk in den weißen Uniformen, welches hinter den Informationsschaltern oder an den Kassen der Boutiquen, Bars und Geschenkartikelläden arbeitet sind Engländer oder Amerikaner und das gleiche gilt für das Animationsteam. Mein persönliches Team mit den ranghohen Offizieren ist eine Mischung aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Ich hoffe, ich langweile sie nicht mit meinen Ausführungen?“

„Aber nein.“

„Gut. Was halten sie übrigens von einem Cocktail?“

„Au fein“, erwiderte Melba. „„Hier an Deck oder in den geheiligten Gemächern des Kapitäns?“

„Wo es ihnen beliebt“, antwortete Efraim und dachte an seinen geräumigen Salon mit der beigefarbenen Ledergarnitur und dem bequemen Ohrensessel auf einem hellen, weichen Spannteppich. Dann war da noch die ganz mit Kirschbaumholz vertäfelten Wände, die geräumigen Einbauschränke, die hochwertige Stereoanlage, seine private Bibliothek, sowie die kleine aber stets gut gefüllte Hausbar. An sein Bett dachte er in diesem Moment nicht. Für die Schlafstätte war sein Schlafzimmer da. Außerdem gab es noch ein separates Arbeitszimmer mit einem wuchtigen, antiken Schreibtisch. Dazu konnte er jeder Zeit auf einen Knopf drücken und der Steward würde kommen und ihn nach seinen Wünschen fragen. Er konnte sogar zu jeder Tages und Nachtzeit auf den Knopf drücken und immer würde jemand erscheinen und sich nach ihm erkundigen. Allerdings hatte er bisher noch niemals einer Dame erlaubt, sein Heiligtum zu betreten. Noch nicht einmal einer Schönheit vom Kaliber Melbas.

Sie bemerkte sein Zögern und sagte: „Während der ersten Tage sah es so aus als hätte dieses Schiff überhaupt keinen Kapitän, beziehungsweise hatte ich angenommen Passagiere stünden bei ihnen nicht besonders hoch im Kurs und jetzt wollen Sie sich mit mir abgeben?“

„Das stimmt nun auch wieder nicht! Ich stille meinen Durst auch viel lieber zu zweit als allein.“

„Und jetzt haben sie ihn also, den Durst?“

„Nun ja...“

„Gut, dann lassen sie uns einfach in die Viking Lounge Bar gehen“, schlug Melba vor. Dort waren sie allerdings nicht mehr allein, doch Rubéns erstklassige Rockmusik war mehr als eine Entschädigung.

Endstation Sehnsucht

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