Читать книгу Dass im Herzen die Sonne wieder scheint - Malie Griebe - Страница 10

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Kapitel 4

In den folgenden Ferientagen gehe ich mit zwei Freundinnen des Öfteren schwimmen. Außerdem übe ich fleißig Klavier. Seitdem auch noch die bestellten Romane angekommen sind, lese ich fast ununterbrochen bis in die Nacht.

Eines Tages koche ich zum Mittagessen für alle Nudeln und kreiere mit Papa dazu eine Tomatensoße. Als wir jedoch gerade anfangen wollen zu essen, klingelt eine Frau vom Rundum-Service an der Tür. Sie will sich erkundigen, was es alles bei uns zu tun gebe. Schon zweimal hatten wir bisher eine Haushaltshilfe, die uns besonders beim Essenkochen und Putzen unterstützte.

Die Frau heute bekomme ich allerdings nicht zu Gesicht, weil sie sich nur mit Papa in der Küche unterhält und ich mit meinen Geschwistern im Esszimmer die Nudeln esse. Wir unterhalten uns, scherzen und lachen. Doch normalerweise essen wir alle gemeinsam sowohl mit Papa als auch mit Mama.

Der Anblick der langsam kaltwerdenden Nudeln auf Papas Teller und der seines freien Platzes sind traurig. Auch Mamas Sitzplatz ist leer. Sie befindet sich bereits seit fünf Tagen im Krankenhaus. Jeden Tag allein im Krankenzimmer essen, wo man doch sonst täglich eine Familie um sich hat, ist sicherlich einer der vielen Gründe, das Zuhause sehnlichst zu vermissen.

Was ich aus diesem Tag machen möchte, weiß ich noch nicht. Daher setze ich mich nach dem Mittagessen aufs Sofa und fange wieder an zu lesen. Dies führe ich lange Zeit fort, bis sich Papas ungewohnt bekümmerte Präsenz im Wohnzimmer bemerkbar macht. Ich weiß, dass er erst vor einigen Minuten Mama im Krankenhaus besucht hat. Es passt nicht zu ihm, nur so kurz zu bleiben und ungewöhnlich schnell aus dem Krankenhaus zurückzukehren.

Des Weiteren besorgt mich sein Befinden, welches sich durch einen langsamen Gang sowie seine rundherum tiefrot angelaufenen und gläsernen Augen ausdrückt. Es ist schwerlich zu übersehen, dass er geweint hat. Doch was ist der genaue Auslöser?

Ich blicke ihn fragend und mitgefühlsvoll an. Währenddessen setzt er sich neben mich auf das Sofa. Eine kurze Zeit des Schweigens folgt. Vermutlich muss er sich erst fassen und bemüht sich, Worte zu finden. In Gedanken ziehe ich bereits in Anbetracht, dass Mama gestorben ist. Doch ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, wäre dies der Fall, würde Papa noch viel bestürzter und trauriger reagieren.

Er erklärt mir schließlich, dass er im Krankenhaus nur die Bettnachbarin meiner Mutter angetroffen habe. Diese habe erzählt, dass die Krankenschwester bei meiner Mutter gewesen sei. Sie habe Mama berichtet, dass sich erneut keine Besserung durch die Chemotherapie gezeigt habe. Folglich hätten sich die Metastasen in ihrem Körper immer weiter ausgebreitet. Und schlimmer noch, es habe sich ein weiterer Tumor im Darmausgang gebildet. Dies bedeutet, sofern dieser noch weiter und größer wachse, werde er die Ausscheidung blockieren, sodass diese nicht mehr möglich sein werde…

Aufgrund dessen unternehme Mama gerade unter Tränen einen Beruhigungsgang mit einer Pflegerin ums Krankenhaus. Demzufolge hat Papa Mama in ihrem Krankenzimmer auch nicht anfinden können und beschlossen, frühzeitig nach Hause zu gehen, um etwas später wiederzukommen.

Nach Papas letzten Satz in seinem Bericht über Mamas Zustand lässt auch er seine Tränen fließen. Ich merke, wie wenig leicht es ihm fällt, überhaupt über dieses Thema zu sprechen. Dass er vor mir weint, ist vermutlich seiner schwindenden Kraft zu begründen, die den Kloß im Hals nicht länger halten kann.

Eltern weinen zu sehen, finde ich überaus schmerzlich. Es tut mir so leid, dass ich gar nicht mehr weiß, was in so einem Moment das Beste sein könnte, um sie zu trösten. Mir selbst bleiben die Worte nämlich aus. Ich bin selbst längst melancholisch in meine eigene Gedankenwelt vertieft. Daher rücke ich näher zu meinem Vater und nehme ihn stillschweigend in den Arm. Viele Worte gibt es sowieso nicht. Und wenn doch, bleiben sie mir entschwunden.

Papa hat bereits seine Mutter verloren, weshalb er die Ernsthaftigkeit am realistischsten betrachten kann. Er weiß, was es bedeutet, einen geliebten Menschen ungewollt für immer gehen lassen zu müssen. Und jetzt ist es seine Frau, die wahrscheinlich nicht mal mehr mehrere Monate leben wird.

Etwas später, nachdem Papa mir das Neueste über Mamas Zustand berichtet hat, ruft sie selbst per Telefon zu Hause an. Ich gehe ran. Sie erzählt, dass sie noch ein paar Dinge ins Krankenhaus benötige.

Diese suche ich zusammen und mache mich auf den Weg zu ihr: Station 16, Zimmer 6.

Dort angekommen spricht sie nicht über das Ereignis von vor wenigen Stunden. Ich traue mich allerdings auch nicht, das Thema anzusprechen, denn wer weiß, wie sie reagiert hätte. Stattdessen bringe ich ihr brav die Dinge von zu Hause, die sie sich noch gewünscht hat.

Unter anderem erklärt sie mir, dass sie seit sechs Tagen keinen Stuhlgang mehr habe und dagegen nun Medikamente bekomme. Deshalb müsse sie nun Windeln tragen, weil sie den dadurch kommenden Ausfluss nicht mehr regulieren könne.

Es tut mir alles so leid. Doch umso froher bin ich, sie an diesem Tag gesehen zu haben. Unsere Zweisamkeit tat gut. Ihre Lebendigkeit erfüllte mein Herz.

Für die kommende Zeit nehme ich mir vor, regelmäßig zu ihr zu gehen. Ganz besonders, wenn sie eben wie jetzt hauptsächlich im Krankenhaus oder zu Hause im Bett liegt. Auf diese Weise werde ich am Ende nicht bedauern, sie nur so selten gesehen zu haben. Denn ich möchte das schlechte Gewissen, nicht viel Zeit mit ihr verbracht zu haben, vorbeugen. Stattdessen wird es mir so noch möglich sein, mir neue Erinnerungen zu schaffen und mir diese, so gut es geht, einzuprägen.

Am späten Abend sitze ich auf der Fensterbank und lasse meine Beine nach draußen baumeln. Dabei spüre ich einen sanften Wind an mir vorüberwehen. Er fühlt sich an, als wäre da jemand, der mir beisteht, der nicht mit Worten, aber mit einer unmerklichen Berührung bei mir ist und Kraft spendet.

Folgendes schreibe ich in mein Tagebuch, das ich mittlerweile immer regelmäßiger führe:

15.04.2019

Mama ist gefangen in ihrem eigenen Körper. Sie kann nichts mehr dagegen tun. Die letzte Chemotherapie gab uns allen noch Hoffnung auf Besserung. Doch diese ist nun ausweglos missglückt. Aber wie schlimm mag es wohl für Mama sein, dies zu erfahren? Es ist die grausame Bestätigung, dass die letzten Wochen des eigenen Lebens gezählt sind.

Sie erhält starke Schmerzmittel, wodurch es ihr bis jetzt oftmals einigermaßen gut ging. Und dennoch muss sie nun mit dem furchtbaren Gedanken leben, ihre Familie und ihre Freunde auf ewig verlassen zu müssen. Damit kann man ihr Leben leider nur noch als einzige Warterei auf die Erlösung bezeichnen. Dies macht es für sie umso schwerer, die Lebensfreude auch noch in den letzten Tagen beizubehalten.

Ich glaube, sie bedauert am meisten, dass sie viele gemeinsam gedachte Jahre mit uns, ihrer Familie, verpassen wird. Sie kann nicht mehr für uns da sein. Sie wird nicht mehr miterleben, wie wir uns entwickeln. Sie wird nie wissen, was aus mir oder meinen Geschwistern später einmal wird. Auch wird sie nie erfahren können, ob sie Oma wird, geschweige denn ihre Enkelkinder kennenlernen. Ein Hochzeitskleid muss ich wohl ohne sie finden.

Wieso schreibe ich sowas eigentlich gerade? Immer wenn ich so viel darüber nachdenke, blicke ich so sehr in die kummervolle Realität einer Zukunft ohne Mutter, dass mir beim Tagebuchschreiben die Tränen fließen. Ich habe mich infolge meiner eindringlichen und erdrückenden Gedanken selbst zum Weinen gebracht.

Viele bezeichnen den Tod als eine Erlösung. Ja, auf der einen Seite wird Mama durchaus von den vielen Schmerzen erlöst. Doch ich frage mich immer, wieso muss es überhaupt so weit kommen, dass man ihren Tod als letzten Weg zur Befreiung der Qualen sieht? Gesundheit wäre doch so viel schöner. Wieso muss sie sterben? Wir wollen doch, dass sie am Leben bleibt.

Für mich ist der Tod daher nicht direkt eine Erlösung, sondern vielmehr ein unvermeidbarer, ewiger und damit vermeintlich glücklicher Ausweg aus den Schmerzen und dem großen Leid. Es ist die traurige Wahrheit, dass das Leben eines bestimmten Menschen zu Ende gehen wird. Erlösung ist schlichtweg ein Euphemismus des Todes.

Uns Menschen fällt es schwer, Negatives einfach so hinzunehmen. Daher suchen wir uns oftmals Ausreden, Gründe oder eben harmonierende Erklärungen, die uns schmerzerfüllende Tatsachen besser ertragen lassen. So können wir selbst mit uns besser in Einklang leben. Den Tod als Erlösung zu bezeichnen, hilft vor allem als Trost, um sich selbst ein wenig aufzumuntern, dass es wohl das Beste für den Verstorbenen sein wird und man selbst bei diesem Gedanken demzufolge nicht mehr allzu traurig ist. Diese morbide Zukunftsaussicht muss man hinnehmen, weil sich die Wahrscheinlichkeit, für Mama weiterhin am Leben zu bleiben, dramatisch verringert.

Doch soeben erkenne ich, dass ich es bin, die diese Tatsache noch nicht hinnehmen will. Ich will es nicht verstehen und wahrhaben. Das ist der Grund, weshalb ich an dem Wort Erlösung so wenig Gefallen finde.

Es bedeutet, wenn man an die Erlösung glaubt, hat man mit der Hoffnung auf Genesung abgeschlossen und versucht jetzt, das Beste in der Situation zu suchen. Ganz recht. Ich verstehe das. Nenne mich naiv, aber ich will es nicht. Ich will damit nicht abschließen und akzeptieren, dass Mama schon bald stirbt. Ich hasse diese Vorstellung. Ich will ihre Gesundheit, nicht ihren Tod. Doch dies ist eine leider unrealistische Träumerei. Es gibt keine Möglichkeit mehr, zwischen den beiden zu wählen. Es ist viel zu schwer zu akzeptieren!

0:04 Uhr: Nun kann auch das Schreiben nicht mehr verhindern, dass mir die Augenlider zufallen. Ich bin dankbar, gesund einschlafen zu können. Viel zu häufig vergessen wir, dass Gesundheit das größte Glück ist.

Dass im Herzen die Sonne wieder scheint

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