Читать книгу Dass im Herzen die Sonne wieder scheint - Malie Griebe - Страница 12
ОглавлениеKapitel 6
Am letzten Ferientag besucht uns Oma. Gegen Mittag befinde ich mich demnach mit ihr und meiner Mutter in der Küche. Dort fragt mich Mama auf einmal, wo sie sein werde, wenn sie nicht mehr da sei. Weil ich nicht daran denken möchte, dass sie stirbt, antworte ich mit »im Hospiz«, obwohl ich weiß, dass es nicht das ist, worauf sie hinauswill.
»Und wenn ich da nicht mehr sein werde?«, fragt sie mich weiter. Voller Ehrlichkeit und Überzeugung erkläre ich ihr daraufhin, dass sie natürlich für immer in meinem Herzen bleiben wird. Sie wird für mich zwar auch im Himmel sein, doch dieser ist bei weitem nicht so nah wie mein Herz. Außerdem habe ich Zweifel. Was ist, wenn der Körper doch einfach nur verwest? Manchmal weiß ich nicht, woran ich glauben soll. Daher bevorzuge ich die sichere Vorstellung, dass sie in meinem Herzen sein wird.
Oma entgegnet, dass ich auch nach Mamas Tod zu jeder Zeit mit Mama sprechen könne. Ich müsse nur beten und an die Liebe, die uns verbinde, glauben.
Gerne hätte ich Oma offen zugestimmt, ihr gesagt, dass dies ein sehr schöner Gedanke ist. Doch stattdessen bin ich nicht mehr fähig, einen Ton zu äußern. Ich lehne mich etwas weg, so sehr stehe ich vor den Tränen und bemühe mich, diese zu unterdrücken.
Im Nachhinein frage ich mich, warum ich nicht vor den beiden geweint habe. Doch es ist mir zu dieser Zeit noch ungewöhnlich, so häufig weinen zu müssen und dies vor anderen zuzugeben.
Als die Schule wieder anfängt, wartet vor dem Klassenraum, ohne dass ich eine Ahnung hatte, ein Freund von mir auf mich. Er überreicht mir als nachträgliches Geburtstagsgeschenk eine riesige Schokolade mit Schleife. Meine Lieblingsschokolade. Diese Geste ist zu süß, aufmerksam und freundlich von ihm, dass ich gar nicht weiß, wie mir geschieht. So verblüfft und heiter bin ich darüber. Entsprechend häufig bedanke ich mich bei ihm.
Doch auch wenn dieses überraschende Geschenk meine Stimmung erheblich aufhellt, denke ich im folgenden Unterricht an Mama. In Gedanken spekuliere ich während dieser Schulstunde schon wieder, wie es sein wird, wenn sie nicht mehr lebt. Wie werde ich dann in der Schule sein?
Ich komme zu der Überlegung, dass ich mich im Unterricht so wie vorher verhalten werde. Denn habe ich wirklich den Mut, offen vor allen Klassenkameraden zu weinen oder überhaupt preiszugeben, was mit mir los ist?
Dies sind zwei meiner vielen unbeantworteten Fragen. Noch habe ich die fälschliche Annahme, dass ich mich nach ihrem Tod so verhalten könne, als sei nie etwas geschehen.
Einige Tage später an einem Nachmittag, als ich gerade meinen Rucksack vom Schwimmtraining im Bad ausräumen möchte, gehe ich dafür am Zimmer meiner Eltern vorbei.
»Mila?«, höre ich meine Mutter rufen. »Könntest du bitte kurz zu mir kommen?«
Ohne viele Gedanken schlendere ich die wenigen Schritte zu ihr. Sie liegt im Bett, richtet sich aber bei meinem Öffnen der Tür auf. Dann beginnt sie, mit mir das erste Mal weitestgehend ernst über ihren Tod und seine Folgen zu sprechen. Schlagartig wird mir bewusst, dass dieses Gespräch tiefgründig und traurig wird. Daher setze ich mich neben ihr auf die Bettkante und lausche ihrer Stimme.
»Weißt du, ich werde vom Himmel immer auf euch aufpassen. Sollte euch etwas geschehen, werde ich euch allen Schutzengel schicken. Ich möchte doch so gern weiterhin für dich und die anderen da sein.«
Ein schwerer Kloß festigt sich in meinem Hals. Auf einmal wird mir kalt. Ich spüre nur noch Mamas Wärme neben mir, die mich vom umliegenden Schneesturm auftaut.
»Ich werde mich auf Wolke 34 befinden!«, verkündet sie mir stolz.
»Warum hast du dich genau für diese Zahl entschieden? Hat sie etwas zu bedeuten?«
Sie lächelt mich munter an und entgegnet:
»Ich finde, es ist eine schöne Zahl!«
»Versprich mir Mila, dass, wenn es dir sehr schlecht geht, du dir auf jeden Fall Hilfe suchen gehst! Sei es beim Therapeuten, bei Papa, bei anderen aus der Familie oder Freunden. Versprich mir, dass du deinen Kummer nicht mit dir ganz allein ausmachst!«, fleht sie mich an. Erst, als ich sie überzeugen kann, dass ich mein folgendes Versprechen ernst meine und verinnerlicht habe, ist sie beruhigt.
Mich erstaunt, wie psychisch gefasst sie in der Lage ist, mit ihrem nahestehenden Tod umzugehen. Denn sie erzählt:
»Wenn Gott sagt, ich müsse gehen, wird das seine Gründe haben und wir werden die Wege finden.«
Unsere Unterhaltung endet damit, dass wir uns beide weinend in den Armen liegen. Ich will sie nicht gehen lassen. Ich will das alles nicht wahrhaben.
29.04.2019
Bisher hat es mir nichts ausgemacht, in der Schule über Mamas Zustand zu reden, sofern ich drauf angesprochen wurde. Doch heute bin ich von Anne gefragt worden, wie es meiner Mutter gehe. Sie bestellte ihr schöne Grüße. Dieses Mal ähnelte diese Frage einem Stich ins Herz. Bis auf Jane und Grace habe ich meinen Freunden noch nichts von dem erzählt, was sich alles in den Osterferien und während der nachfolgenden Tage zugetragen hat. Vor allem nichts von dem erzählt, wie sehr sich Mamas Situation verschlechtert hat. Dementsprechend sind sie noch auf dem Stand der Hoffnung, dass die Chemotherapie anschlagen und sich eine Besserung zeigen würde.
Im Unterricht habe ich nicht an dieses Thema denken müssen, doch durch Annes Frage wurde ich erinnert. Sofort überkamen mich alle Gedanken und Emotionen darüber, wie es wirklich um Mama steht. Ich war so dicht vorm Losweinen, wie ich in der Schule noch nie zuvor den Drang dazu erlebt hatte. Trotzdem gelang es mir, mich zu beherrschen und bedächtig zu antworten. Ich erzählte ihr alles. Die ungeschmückte reine Wahrheit.
Dennoch überwältigt und erstaunt es mich, wie schnell ich mittlerweile vor den Tränen stehen kann. In letzter Zeit geschieht mir dies so viel öfter, weil ich zunehmend realisiere, dass mir und auch allen anderen nicht mehr viel Zeit mit Mama bleibt.