Читать книгу Dass im Herzen die Sonne wieder scheint - Malie Griebe - Страница 8
ОглавлениеKapitel 2
Warme Sonnenstrahlen fallen auf meine Haut. Gemächlich schlage ich meine Augen auf und blicke in ein hell erleuchtetes Zimmer. Ich fühle mich wohl. Mein Schlaf war tief und ich hatte einiges geträumt. Am Ende der Bettkante entdecke ich mein noch aufgeschlagenes Tagebuch und am Boden den Stift, der über Nacht runtergefallen sein musste. Als erstes spiele ich mir eine Audio über pure Motivation für den Tag ab. Vielleicht hilft es ja. Erst danach raffe ich mich langsam auf, ziehe mich an und gehe ins Bad.
An diesem Tag erwartet mich jemand, der mir helfen soll, mich von meinen mentalen Schmerzen zu befreien. Sie zumindest zu mildern. Eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.
Ich fahre mit meinem Vater zu ihr. Die Autofahrt verläuft ohne viele Worte. Wir bevorzugen es, stumm der aus dem Radio ertönenden Musik zuzuhören. Jeder ist beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken.
Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt sind wir angekommen. Ich sitze im Wartezimmer. Nichts Bedeutendes geht mir durch den Kopf, völlige Leere. Lediglich lausche ich der ruhigen Melodie, die von meinen Kopfhörern im Ohr erklingt.
Plötzlich vernehme ich die Stimme meines Vaters, der mich aus dem Dahinvegetieren weckt. Es hätte wohl nicht mehr viel Zeit in Anspruch genommen und ich hätte mich völlig meiner Melancholie hingegeben.
Papa befindet sich neben mir und wartet gemeinsam auf den Moment, an dem mich die Psychotherapeutin aufruft. Mit ihr soll ich ein Gespräch bezüglich meines Empfindens führen. Ich bin zugegebenermaßen ein wenig aufgeregt, denn ich habe Sorge, dass ich vor ihr in Tränen ausbrechen werde. Aus irgendeinem Grund will ich ihr nämlich zeigen, dass ich stark bin. Vielleicht drunter leide, aber die Schwäche nicht zulasse. Warum? Weil ich es bisher nicht gewohnt bin, Trauer zu offenbaren und noch nicht verstehe, dass genau das, nämlich alle seine Gefühle zuzulassen, die Stärke ist!
Denn, wie fühlt es sich schon an, einen Menschen, der einem seit seiner Geburt immer nahestand, geliebt, umsorgt und geprägt hat, auf einmal zu verlieren? Es ist die Person, zu der man eine so enge Bindung besitzt, dass es unerträglich scheint, wenn diese für immer von dir geht. Würde es überhaupt einen Trost für solch einen Schicksalsschlag geben?
Es ist meine Mutter, die ich zu verlieren drohe. Damals war ich zwölf Jahre alt, als alles begann. Meine Mutter erhielt die Diagnose Darmkrebs. Es war ein kaum aushaltbarer Schock, der meine Eltern, meine Geschwister und mich noch alle prägen sollte. Doch wir versicherten ihr, dass wir immer an ihrer Seite bleiben werden und sie – so viel wir können – unterstützen werden. Komme, was wolle, wir werden für dich da sein, Mama!
Als ich von ihrer Diagnose erfuhr, setzte ich mich noch am selben Abend an den Laptop. Ich wollte mich über Darmkrebs informieren. Zu dieser Zeit ging ich erst in die siebte Klasse. Mir war nicht einmal genau bewusst, was Krebs für eine Krankheit ist. Erst beim Recherchieren verstand ich zunehmend, wie es meiner Mutter wohl gehe und was sie jetzt in den nächsten Monaten, ja sogar Jahren durchleiden müsse. Damals ahnte ich allerdings nichts von der langen Zeit, über die sich die Krankheit strecken sollte. Ich dachte, nach höchstens ein paar Wochen ist alles wieder vorbei. Hinzu kam, dass meine Mutter bevorzugte, ihre tatsächlichen Schmerzen und Sorgen vor uns Kindern nicht jedes Mal auszusprechen.
Vielleicht war mir deshalb das Ausmaß der Krankheit lange Zeit nicht sehr bewusst gewesen. Besonders am Anfang hatte ich eigentlich keine Zweifel, dass sie wieder gesund werden würde. Denn jung und noch recht unerfahren, wie ich war, dachte ich mir nicht besonders viel dabei. Wie konnte ich denn auch? Genau genommen kann man sich gar nicht richtig in die Schmerzen, die ein anderer Mensch erleiden muss, einfühlen, sofern man sie selbst noch nie erlebt hat. Ich konnte gar nicht wissen, wie schlimm es tatsächlich war. Zudem gilt Darmkrebs als eine heutzutage im Vergleich zu anderen relativ gut heilbare Krebserkrankung. So gesehen verspürte ich Hoffnung auf Besserung, ja auf Heilung.
Nach eineinhalb Jahren Kampf schaffte es meine Mutter sogar auch. Es folgte ein halbes Jahr, in dem sie ein letztes Mal gesund das Leben genießen durfte. Dann kehrte der Krebs jedoch zurück. Sie bekam erneut Darmkrebs diagnostiziert. Doch nun ist es fürchterlicherweise ein bösartiger Darmtumor, der in die Lunge gestreut hat. Heute befinden sich daher immer mehr Metastasen in ihrem Körper verteilt. Es ist kaum zu übersehen, dass meine Mutter erheblich leidet. Keiner der Ärzte kann sagen, wie viel Zeit ihr noch bleibt.
Die Hoffnung auf Mamas Heilung verweilt in mir allerdings noch immer. Ablenkung von dem Thema bezüglich ihres Todes hilft mir, meine traurigen Gefühle zu überspielen. Dadurch muss ich nicht allzu sehr an die Last denken, die diese elendige Krankheit mit sich bringt.
Aus diesem Grund fühlt es sich für mich merkwürdig an, am heutigen Tag über ihren bevorstehenden Tod zu sprechen. Auf diese Weise wird mein Wunsch, auf das Beste zu hoffen, viel zu sehr infrage gestellt oder bleibt gar unbeachtet. Doch ausgerechnet jetzt soll ich geradewegs mit diesem Thema konfrontiert werden?! Es ist nicht leicht, dabei unberührt zu bleiben.
Auf einmal höre ich, wie man die Tür des Gesprächszimmers öffnet und ich in diesen Raum gebeten werde. In ihm befinden sich ein Schreibtisch und zwei sich gegenübergestellte Stühle mit Polster. Ein kurzer Blick der Unsicherheit, auf welchen ich mich denn hinsetzen soll, huscht über mein Gesicht. Schließlich zeigt mir die Psychotherapeutin meinen Sitzplatz. Soll ich hier tatsächlich die nächsten Minuten ausgefragt werden, wie genau es mir geht?
Zutiefst eingeschüchtert sitze ich nun da und überlege, was wohl gleich passieren wird. Ich habe Angst, nicht zu wissen, wie ich auf ihre Fragen antworten soll. Meine Absicht, möglichst selbstbewusst zu erscheinen, habe ich bereits beim Eintreten in den Raum aufgegeben. So sehr ergreifen mich Anspannung und Unbehagen. Wenigstens beklemmt mich nicht der Druck, etwas falsch machen zu können. Dennoch verlangt jedes meiner Wörter unglaubliche Kraft. Es fällt mir äußerst schwer, diese ohne ein Weinen herauszubringen. Zu eindringlich werde ich mit dem Zustand meiner Mutter, dessen Auswirkungen zu Hause und den damit verbundenen Gefühlen ihres Verlustes konfrontiert. Eigentlich will ich auch gar nicht so intensiv darüber sprechen. Mich mit ihrem Tod überhaupt so absichtlich zu befassen, wo ich doch noch hoffe, ist besonders schmerzlich.
Während des Gesprächs weiß ich oft nicht, wo ich hingucken soll. Mir ist bewusst, dass ihre Augen stets auf mich gerichtet sind. Doch umso schwerer fällt es mir, diesen Blick zu erwidern. Ich weiß, dass dieses Verhalten meinerseits nur Unsicherheit präsentiert. Es ist mir egal.
Zugleich bewundere ich, wie viel Verständnis, Einfühlungsvermögen und Wohlwollen diese Psychotherapeutin mir gegenüber aufbringt. Wie zugewandt und hilfsbereit sie sich verhält. Ein verständnisvolles Nicken und ein ermutigendes Lächeln ihrerseits sind keine Seltenheit. Auch ist ihr Gesicht sehr lieblich und von freundlichen Gesichtszügen geprägt. Ihr Lächeln lässt sie nur noch warmherziger erscheinen.
Eine von ihr gestellte Frage lautet, ob ich das Gefühl hätte, dass sich meine Schulnoten aufgrund meiner seelischen Schmerzen verschlechtert hätten. Mit einem »Nein« beantworte ich diese Frage, obwohl sich durchaus eine geringe Verschlechterung feststellen lässt. Dennoch sehe ich es nicht ein, meine schlechtere Leistung mit meiner privaten Situation zu begründen. Ich will die Schuld nicht auf den bevorstehenden Tod meiner Mutter schieben. Es hat sicherlich andere Gründe, an denen ich selbst schuld bin. Trotz dessen denke ich noch einige Zeit über diese Frage nach. Wäre ich erfolgreicher in der Schule, wenn ich diesen Schicksalsschlag nicht erleben würde?
Oder könnte es vielleicht sein, dass das erst der Anfang ist? Noch lebt meine Mutter. Meine Schulnoten sind noch in Ordnung. Aber wird sich das ändern? Es stehen so viele Fragen und Befürchtungen offen, die keiner genau beantworten kann. Diese Ungewissheit fühlt sich an, als würde man die Tage nur noch abwarten, bis etwas passiert. Ich will es nicht aussprechen, aber vielleicht sollte ich anfangen wahrzuhaben, dass die Tatsache, dass ihr Herz nicht mehr lange Zeit weiterschlagen wird, unabänderlich ist. Es gliche einem Wunder wenn doch.
Anschließend fragt mich die Psychotherapeutin, ob ich Freunde hätte, mit denen ich über meinen Kummer spreche. Und ja, die habe ich durchaus. Jane, Anne und Grace sind meine engsten Freundinnen, denen ich vieles anvertraue. Sie begleiten mich und, wenn ich mal zu tief sitzen sollte, ziehen sie mich wieder hoch, damit ich wieder aufgemuntert ins Leben blicken kann.
Anhand wie ich von meinen Freunden spreche, merkt sie, dass ich durch diese bereits gute seelische Unterstützung bekomme. Außerdem ist ihr noch wichtig zu wissen, ob ich mich schlecht fühlen würde, wenn ich mal keine Tränen für Mama aufbringen könne oder auch länger nicht weine. Viele seien der Ansicht, dass es der Verstorbene verdiene, dass man um ihn trauere und man daher weinen müsse. Aber so denke ich nicht. (Noch nicht!) Bisher versuche ich, wenn ich glücklich bin, dieses Glück zu genießen und mich nicht mit Absicht wieder der Trauer hinzugeben. Mein hauptsächlicher Trost und warum ich noch so viel Freude erlebe, liegt allerdings auch darin, dass meine Mutter noch am Leben ist. Noch kann ich jederzeit zu ihr und ihre Herzensgüte an mir spüren. Tränen – meine Tränen – würden nichts gegen ihren morbiden Zustand auslösen können. Daher verurteile ich mich nicht, wenn ich meine Zeit dennoch halbwegs glücklich verbringe. Aber um Himmels Willen mag ich mir nicht vorstellen, wie es bloß sein wird, wenn ihr Lächeln gänzlich verflogen ist und ihr Ausdruck einem farblosen Standbild gleicht. Wie werde ich mich dann fühlen?
Die Psychotherapeutin erkennt jedenfalls, dass ich zurzeit ganz gut zurechtkomme. Komme ich das? Daher vereinbaren wir keinen weiteren Termin. Allerdings gibt sie mir noch ihre Visitenkarte, falls doch noch mal etwas sein sollte und ich mich mit meinen schlimmer werdenden Gefühlen nicht zurechtfinde. Zuletzt verabschiede ich mich freundlich von ihr und gehe aus dem Gesprächszimmer. Daraufhin fahren mein Vater und ich nach Hause.
Hat mir dieses Gespräch etwas gebracht? Es ist sehr lieb gemeint gewesen, doch leider hat es mich nur traurig gestimmt, weil mir die tragische Wahrheit so sehr ins Bewusstsein geführt wurde. Andererseits, vielleicht ist es gerade das, was ich nötig habe.