Читать книгу Dass im Herzen die Sonne wieder scheint - Malie Griebe - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5
Das Schöne an Ferien ist, dass man voll und ganz Zeit hat, sich seinen Hobbys hinzugeben und sich mit Freunden zu treffen. Nichts Anderes unternehme ich in diesen Osterferien. Meine Tätigkeiten wechseln zwischen Freunde treffen, schwimmen oder laufen gehen, lesen und Klavierspielen. Hier übe ich mittlerweile ein neues Stück ein. Dieses klingt deutlich melancholischer als das vorige. Außerdem schmücke ich den Busch auf der Terrasse mit Ostereiern, um wenigstens ein bisschen in Osterstimmung zu kommen.
Mama wurde an Karfreitag aus dem Krankenhaus entlassen und ist wieder bei uns zu Hause. An diesem Tag genieße ich die gemeinsame Zeit mit Grace. Wir spazieren durch den Wald und die Felder. Es ist schön, sich wiederzusehen, sich fortlaufend zu unterhalten und dabei die Sonne zu genießen. Doch am Abend bemerke ich, dass ich am Nacken einen leichten Sonnenbrand bekommen habe.
»Die Vorstufe von Hautkrebs«, wird halb scherzhaft, halb scharfzüngig mit einem Hauch von Tadel zu mir gesagt.
Am nächsten Tag schlafe ich lange aus und frühstücke entspannt mit der ganzen Familie. Es ist ein wundervoller Samstagmorgen. Einige Stunden später mache ich mich in Sportklamotten und mit meinem Fahrrad auf den Weg zu einem Lebensmittelladen. Hier treffe ich mich mit Jane. Gemeinsam kaufen wir uns Himbeeren, Weintrauben und eine kleinere Wassermelone für das spätere Picknick im Wald. Daraufhin fahren wir mit dem eingekauften Obst zum Sportplatz, wo ich mehrere Runden laufe, um mein Intervalltraining zu erledigen.
Jane hat es sich währenddessen auf einem schattigen Plätzchen auf dem Sportplatz gemütlich gemacht und genießt diese Zeit für sich. Ab und zu ermuntert sie mich, noch länger durchzuhalten.
Meinen Füßen geht es nach dem Laufen erstaunlich gut. Es haben sich durch die neuen Schuhe keine weiteren Blasen gebildet. Zwar blutet meine Verse, jedoch ist dies lediglich die wieder aufgegangene Wunde von der letzten längeren Laufeinheit.
Im Anschluss begeben sich Jane und ich zu mir nach Hause. In der Zeit, in der ich mich frischmache, wäscht sie das Obst und schneidet die Melone. Sobald wir fertig sind, radeln wir weiter zum Wald. An einer Lichtung breiten wir auf der dortigen Wiese unsere Picknickdecke aus. Hier berühren die letzten Sonnenstrahlen des Tages unsere Haut. Wir picknicken und unterhalten uns über alles Mögliche. Derweil erklingt im Hintergrund leise eine Sommer Playlist. Bei Einbruch der Dämmerung legen wir uns auf die Decke und spähen zum Himmel und der untergehenden Sonne. Es ist ein wunderschöner Moment mit Jane. Wenn sie in 84 Tagen ihr Auslandsjahr beginnen wird, wird sie mir sehr fehlen, befürchte ich.
Zuletzt fahren wir mit den Fahrrädern weiter und machen Halt beim Osterfeuer des Nachbardorfes. Auch schießen wir von uns beiden ein Erinnerungsfoto, um diesen Tag noch lange Zeit festhalten zu können.
Als Jane jedoch nach Hause fährt und ich zurück ins Haus gehe, bemerke ich, dass Papa und Mama nicht da sind. Sie machen einen Spaziergang im Park. Wie ich außerdem feststelle, haben wir für Ostern, außer dass ich Ostereier draußen aufgehangen habe, nichts vorbereitet. Daher gehe ich in die Küche, um Eier zu färben. Es ist zwar schon halb neun, doch gefärbte Eier sollen zu Ostern nicht fehlen.
Nicht lange und meine Eltern kommen zurück. Mama setzt sich zu mir an den Küchentisch und erklärt mir alles Wichtige zum Eierfärben. Im Grunde ist es nichts Kompliziertes. Doch unbeholfen, wie ich auch sonst in der Küche bin, weiß ich eigentlich kaum, was ich machen soll. Strebsam befolge ich demzufolge der kurzen Anleitung meiner Mutter. Während sie mir beim Eierfärben zusieht, beginnt sie zu weinen. Ich lege meinen Arm um sie und versuche Mama zu trösten. Aber was kann ich ihr denn schon sagen? Was sagt man einer unheilbar kranken Krebspatientin, um ihren Kummer zu besänftigen? Ihre einzigen Worte, die sie in den vielen Tränen zu mir sagt, lauten:
»Das ist doch kein Leben.«
Nein, das ist es nicht. Niemand möchte Krebs haben und das durchstehen, was sie gerade erleiden muss. Ihre tieftraurige Stimme werde ich so schnell sicher nicht mehr vergessen.
Sie hätte sehr gerne mitgeholfen, Eier zu färben und eigentlich auch noch Osterhasen aus Hefeteig zu backen, wie wir es sonst die Jahre machten. Dies lässt ihr Körper jedoch nicht mehr zu.
Etwas später entscheidet sie sich, erschöpft ins Bett zu gehen. Da bin ich nun. Allein in der Küche, allein am Eierfärben für die morgige Ostersuche. Musik hilft mir, mich von meinen trauriger werdenden Gedanken abzulenken.
Am Ende lachen mich ganze 18 gefärbte Eier an. Vielleicht ein bisschen zu viele, aber diese Ablenkung habe ich gebraucht. Ich konnte mich nicht aufhalten, diese Beschäftigung zu unterbrechen.
Zuletzt mache ich die Küche sauber und schlürfe die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Dort werfe ich mich ins Bett und stöbere meine Nase durch die letzten Seiten des ersten der beiden bestellten Romane über Trauer und Vermissen. Es ist bereits mitten in der Nacht, als ich ihn durchgelesen wieder zuschlage.
Ich denke, Wörter reichen nicht immer aus, den unsagbaren Schmerz zu erfassen, aber dennoch lohnt es sich, es zumindest zu versuchen. Auch wenn es uns schwerfällt, exakt zu beschreiben, wie es uns wirklich geht, was wir durchmachen und wie wir dabei fühlen, sollten wir es wagen. Einfach reden. Einfach schreiben. Das hilft.
Auch ich habe in meinem Tagebuch zu heute versucht, mein Empfinden und meinen Wunsch in Worte zu fassen. Ich habe Mamas mentalen Zustand für mich beschrieben, um für mich eine Erklärung für all das Leid zu finden:
20.04.2019
Die Metastasen breiten sich unaufhörlich aus und richten sich wie eine unumstößliche Gefängnismauer um Mamas Muskeln, um ihre Organe, ja vor allem auch um ihre Lunge. Sie zerstören ihren Darm und umschlingen zu guter Letzt ihre Seele.
Die Psyche schreit nach Tatendrang und Lebenslust, nach Energie, die Freude an jedem Tag zu erleben. Aber solche Emotionen sind gefesselt und hinter der gnadenlosen Mauer an Krebszellen gefangen. Es gibt nichts mehr, das diese zerstören könnte und ihr Glück befreit, damit dieses hinausfliegen und ein Strahlen verbreiten kann.
Ich wünsche mir so sehr, dass das Lächeln meiner Mutter wieder häufiger wird. In der gesamten Zeit, in der der Krebs bereits immer schlimmer wird, ist vor allem am schrecklichsten mitzuerleben, wie sie leidet und wie verzweifelt und traurig sie ist. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie zumindest ein paar Stunden lang wieder glücklich ist und irgendwie ihre letzten Wochen freudig betrachten kann.
Mein erster Gedanke, als ich am folgenden Tag aufwache: Heute ist Ostersonntag! Es ist Zeit für die Ostereiersuche im Garten. Zwar fühle ich mich noch schwach und müde aufgrund des kurzen Schlafes, jedoch steigt die Vorfreude beim Gedanken an das Osterfest. Besonders, als Papa in mein Zimmer kommt und ankündigt, dass der Osterhase bereits aktiv gewesen sei und er nur noch Brötchen holen gehe, kann ich es kaum noch abwarten. Demzufolge ignoriere ich meine plötzlichen Kopfschmerzen und ziehe mich an.
Meine Brüder und ich müssen nicht lange warten, bis wir schließlich suchen dürfen. Die Suche ist eigentlich nichts Besonderes, doch wir haben jedes Mal wieder Freude beim Finden der gefärbten Ostereier, der Osterhasen aus Schokolade und anderer kleinerer Dinge. Zumal wir daraus immer einen spaßigen Wettbewerb machen, wer der beste Detektiv ist und am meisten findet. Meine Brüder und ich teilen den unterhaltsamen Ansporn, besser als der jeweils andere zu sein. Dadurch, dass wir die Dinge am Ende gerecht aufteilen werden, ist es auch nicht tragisch, sollte man nicht viel finden.
Nach der Eiersuche setzen wir uns gemeinsam an den Küchentisch, um zu frühstücken. Mama jedoch geht eher und beendet ihr Frühstück, weil es ihr nicht gut geht. Sie legt sich wieder in ihr Bett und mein Vater, meine Geschwister und ich bleiben ohne sie am Essenstisch zurück. In diesem Moment sagt niemand mehr etwas. So habe ich mir das Osterfrühstück nicht vorgestellt. Mir tut es plötzlich leid, dass ich beim Suchen vorhin so viel Spaß hatte. Ich kann es nicht ertragen, dass ich die Möglichkeit habe, mein Leben zu genießen, meine Mutter hingegen nur Elend erfährt. Sie konnte es weder genießen bei der Ostersuche mitzuhelfen, noch konnte sie es schmerzfrei genießen, ihren Kindern dabei zuzusehen.
Papas Gesichtsausdruck wird zunächst ernst, denn die fröhliche Stimmung ist sowieso gekippt, wodurch auch über das Thema Mamas Gesundheitszustand gesprochen werden kann. Dann weint er. Er berichtet uns, dass sich die Metastasen in ihrer Lunge soweit verteilt hätten, dass sie dadurch immer schlechter Luft bekomme. Aufgrund dessen benutze sie nun seit Längerem schon eine stärkere Stufe bei ihrem Sauerstoffgerät. Doch selbst damit habe ich feststellen müssen, kann sie teils nur schweratmig und nur mit vielen Pausen sprechen. Lange und intensive Konversationen kann ich schon nicht mehr mit ihr führen.
Damit wir uns alle im Klaren sind und über die Realität Bescheid wissen, betont Papa, dass man nichts mehr machen könne und sie mittlerweile lediglich noch Schmerzmittel zu sich nehme, um diese intensiven Schmerzen zu lindern. Die Chemotherapie werde nicht weiter fortgesetzt. Außerdem sei ihr letzter Wunsch, in ein Hospiz zu kommen, weil sie dort von ausreichend Pflegekräften zu jeder Zeit umsorgt sei.
In ihrem linken Bein hat Mama eine Thrombose. Dies bezeichnet sie selbst erstaunlich humorvoll als »Elefantenbein«. Überhaupt bewundere ich ihre Kraft, die sie während dieser Zeit so häufig an den Tag legt und wie vergleichsweise groß ihr Wille ist, sich nicht vollständig von der Krankheit runterreißen zu lassen. Doch natürlich ist es unumgänglich, dass sie auch oft traurig ist. Man bemerkt diese Veränderung in ihrem Gemüt. Mamas Ziel ist, so grotesk es auch klingen mag, bei der Konfirmation meines kleinen Bruders in zwei Wochen noch am Leben zu sein.
Wieso muss sie so gewaltiges Leid erfahren? Sie hat es in keinster Weise verdient! Das Leben ist unberechenbar und vor allem nicht gerecht.
Am Nachmittag klingelt Besuch an der Haustür. Vor dem Eingang stehen Mamas Bruder und seine Freundin. Wie ich später von Papa erfahre, reden die beiden mit meinen Eltern kaum über Mamas Krankheit, sondern über positive alltägliche Dinge. Man merkt, wie sichtlich gut Mama dies tut. Sie kommt auf andere und vor allem erfreulichere Gedanken. Ich hingegen verbringe den Abend in meinem Zimmer und sinniere über meine Zukunft. Ich denke intensiver darüber nach, wie es ohne Mama sein wird. Wie wird sich mein Wochenende, mein Alltag, mein Leben verändern?
Dieses Mal führt mich jedoch ein weiterer Grund zu Tränen. Eine weitere, wenn auch nicht ewige Trennung, die ich in diesem Jahr noch erfahren soll, belastet mich.
Ich stelle mir vor, wie Jane ihr Auslandsjahr erleben wird und ich die Tage allein – ohne sie – verbringen werde. Sie ist mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich sie nur vermissen kann. Sicher wird sie mir fehlen. Besonders in der Schule mache ich das meiste mit ihr immer gemeinsam. Wir sind füreinander da, egal um welches Thema es sich handelt. Aus diesem Grund wünsche ich ihr so sehr, dass sie eine erfreuliche Zeit verbringen wird.
Als Geburtstagsgeschenk überreichte sie mir vor einigen Tagen ein riesiges Glas voller Kärtchen. Auf diesen Kärtchen stehen Aufmunterungen, die ich mir durchlesen solle, wenn es mir seelisch nicht gut gehe oder ich sogar weine. Genau dieser Zustand ist an diesem Abend eingetroffen.
Ich setze mich daher auf den Teppichboden in mein Zimmer, mache mir als kleinere Beleuchtung die Nachttischlampe an und nehme das Glas zu mir. In dieser mir gemütlichen Umgebung lese ich mir schließlich einige Kärtchen mit den Sprüchen durch. Weil genau diese Aufmunterungen jedoch von ihr kommen, führt es vielmehr dazu, dass ich noch stärker weine. Jane ist eine Freundin, die auch in dieser schweren Zeit für mich da ist und mit der ich über so vieles reden kann. Sie weiß, wie man wirklich zuhört und geht auf das Gesagte gewissenhaft ein.
Als ich das Kärtchen »Du bist so ein fröhlicher Mensch, bitte behalte dir das bei« lese, zwinge ich mich zu einem Lächeln. Einfach vor den Spiegel stellen und sich anlächeln. Ich will der Aussage Folge leisten. Und es funktioniert. Dieses ausgelöste Lächeln hat soweit geholfen, dass ich mich tatsächlich ein wenig besser und beruhigter fühle. Krass, wie leicht man sein eigenes Gehirn manipulieren kann und wie schnell es durch ein einfaches Lächeln zu glauben gedenkt, ich sei ernsthaft glücklich. Für den Moment.