Читать книгу Dass im Herzen die Sonne wieder scheint - Malie Griebe - Страница 9

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Kapitel 3

Es vergehen weitere Wochen. Ich fiebere auf die Osterferien hin und versuche noch wenigstens einigermaßen erfolgreich die Schultage zu überstehen. Jedes Mal, wenn ich von der Schule nach Hause komme, grüße ich dort meine Mutter, die fortwährend krank und erschöpft in ihrem Bett liegt. Man weiß, es ist ein guter Tag, wenn sie es geschafft hat und Kraft und Energie hatte, für uns Mittagessen zu kochen. Es bedeutet, dass ihre Schmerzen an diesem Tag nur so gering sind, dass sie den Tag endlich wieder nutzen konnte.

Diese Produktivität mag für manche als eine Kleinigkeit erscheinen, erfüllt eine Krebspatientin im Endstadium jedoch mit Stolz. Es sorgt dafür, sich wieder etwas glücklicher zu fühlen.

Leider habe ich in dieser Zeit nicht so viel Kontakt zu ihr wie sonst, weil ich beschäftigt mit zahlreichen Terminen die Tage durchschreite. Außerdem ist Mama häufig zu erschöpft, um viel durchs Haus zu laufen und ihre Präsenz zu verdeutlichen. Es ist daher notwendig, sich die Zeit zu nehmen, um aktiv zu ihr zu gehen. Andernfalls sehe ich sie entweder beim gemeinsamen Abendessen oder eben gar nicht. Doch dies will ich verhindern, weshalb ich beschließe, mich jeden Tag neugierig über ihr Befinden zu erkundigen. Es ist eine Frage, auf die wir uns alle vergebens eine Besserung erhoffen. Vielmehr schmerzt es zu erfahren, dass ihre Genesung keine Fortschritte macht und sie stattdessen weiterhin unter Atemnot oder Schmerzen am ganzen Körper infolge der Chemo leidet.

Trotzdem präsentiert sie sich so gut wie jedes Mal tapfer und voller Kraft, dies auszuhalten.

Nicht immer erklärt sie mir, wie es ihr wirklich geht, weil sie weiß, dass es mich selbst belastet. Wenn ich beispielsweise nachmittags zu ihr gehe und frage, ob ich etwas für sie tun könne, zerbricht mich der Gedanke, sie ohne nützliche Hilfe leidend zurückzulassen. Oftmals weine ich anschließend in meinem eigenen Zimmer über die Tatsache ihres schrecklichen Zustandes und meiner Hilflosigkeit, ja Nutzlosigkeit.

In der letzten Schulwoche vor den Osterferien ist der Geburtstag meiner Mutter. Genau vier Tage vor meinem. Es ist ihr 52. Geburtstag, ihr wahrscheinlich letzter. Mittlerweile zweifelt keiner mehr an den unmöglichen Heilungschancen. Daher werden ihr vor allem zahlreiche Blumen und liebe Worte geschenkt. Ihr einziger Wunsch ist genauso wie bereits beim Weihnachtsfest im letzten Jahr: Gesundheit.

Ihren Geburtstag feiern wir mit Mamas Eltern, indem wir bei Kaffee und Kuchen beisammensitzen und über vielerlei Dinge quatschen. Die glückliche Stimmung erhellt Mamas Gemüt zumindest ein Stück weit. Und das ist gut so, unser aller Ziel. Mindestens an ihrem Geburtstag soll sie wieder positivere Gedanken haben und am liebsten für einen Moment ihre Krankheit vergessen.

Wenige Tage später – an meinem 16. Geburtstag – geht es ihr besser. Ich habe Freunde eingeladen, die mit mir feiern. So gut es ihre Kräfte zulassen, bemüht sich Mama, mir bei den Vorbereitungen zu helfen. Vielleicht gehört es zu einem dieser Mutterinstinkte, den Geburtstag des eigenen Kindes so mitzuhelfen zu gestalten, dass es einer der schönsten Tage im Jahr für das Kind wird und es die Möglichkeit bekommt, wirklich glücklich zu sein.

Bis alle meine Freunde da sind, bleibt sie in unserer Nähe, um alle zu grüßen. Darüber freue ich mich sehr. Schließlich ist es mir wichtig, dass meine Freunde so noch die Möglichkeit bekommen, meine Mutter zu sehen und sich mit ihr zu unterhalten. Wenn vielleicht auch zum letzten Mal.

In den nächsten Tagen greife ich mal wieder zum Tagebuch. Nachdenklich lasse ich den Stift übers Papier schweben, während sich wie fast von allein Satz für Satz zusammenreimt:

08.04.2019

Liebes Tagebuch,

gerade eben habe ich Amarena-Kirsch-Eis gegessen und nun sitze ich auf der Sitzbank auf der Terrasse bei Vogelgezwitscher und Sonnenschein mit 20°C.

In den letzten Tagen war nur kaltes Regenwetter. Doch seit meinem Geburtstag scheint wieder die Sonne. Außerdem haben die Osterferien endlich begonnen.

Bisher verbrachte ich den Tag mit Lesen. Auch konnte ich für zwei Stunden Grace‘ Zeit für mich in Anspruch nehmen. Wir gingen spazieren. Es ist schön, jemanden zu haben, den man nur anschreiben muss und dieser spontan Zeit für dich hat. Dafür bin ich Grace sehr dankbar. Sie macht aus meinen Gammeltagen immer noch die Möglichkeit, etwas Nettes herauszuholen.

Mama verbrachte hingegen einen Teil des heutigen Tages beim Arzt. Die Ärzte versuchen ihr, ihre Zeit noch so schmerzlos wie möglich zu bereiten. Schließlich wünschen wir ihr alle, dass sie ihre verbleibende Zeit noch nutzen und genießen kann. So gut es geht. Aber, ob dies in solch einer Situation möglich ist? Sie leidet viel zu sehr, als dass sie diese körperlichen Qualen verdrängen und überspielen könnte, um den Genuss der Welt zu spüren.

Denn, wenn sie unter eins leidet, sind das die mitunter durch die Nebenwirkungen der Medikamente verursachten Schmerzen, die häufig selbst bei hochdosiertem Schmerzmittel nicht verschwinden. Ich habe daher Angst. Angst vor ihrem Tod, dass ihre letzten Minuten qualvoll sind, dass sie unerträgliche Schmerzen ertragen muss.

Vor allem aber habe ich Angst, dass sie zu Hause erstickt und wir alle da sind, es mitbekommen und nur noch panisch, verzweifelt und hilflos sind. Wir könnten lediglich den Notarzt rufen, doch zu diesem Zeitpunkt wären wir uns alle sicher, dass nicht mehr viel zu machen ist. Dass es vorbei ist.

10.04.2019

Diese Nacht träumte ich merkwürdigerweise, dass ich mich nach einer Laufeinheit fast ununterbrochen übergeben musste. Anschließend verzweigten sich meine Gedanken im Traum in eine Verwunderung, die den vielen Mageninhalt hinterfragte. Zuvor hätte ich nämlich gar nichts gegessen. Dies hatte im Traum folgenden Grund: Ich war krank. Ich hatte Krebs, nahm kaum noch Nahrung zu mir und verlor immer mehr Gewicht. Als ich mich dem erinnerte, wurde ich hektisch. Vergebens versuchte ich mein Erbrechen zu stoppen. Es sollte nicht sein, dass ich die wenige Nahrung, die ich geschafft hatte zu mir zu nehmen, wieder hinausbeförderte. Verzweifelt wünschte ich mir, dass es aufhöre und dass es mir endlich besser gehe.

Voller Panik wachte ich daraufhin auf. Es dauerte einen Moment, bis ich mich der Wahrheit besann, dass ich gesund bin. Wie dankbar ich dafür bin. Nur leider ist es meine Mutter, die das, was ich im Traum erlebte, in Realität aushalten muss. Doch Sport treiben wie ich in diesem Traum, kann sie längst nicht mehr. Dafür fehlt ihr die Kraft, Energie und vor allem der Atem. Wenn sie atmet, fällt es ihr zunehmend schwerer, noch genügend Sauerstoff zu erlangen.

Am heutigen Tag sollte ich mit meinem großen Bruder etwas von der Apotheke für Mama abholen. Weil wir jedoch nicht rechtzeitig fertig waren, ging Papa schließlich los. Mama benötigte das Medikament sehr dringend. Aus diesem Grund war es nicht möglich, eine Verzögerung zuzulassen.

Mein Bruder und ich begaben uns stattdessen für einige Erledigungen mit dem Auto auf den Weg. Zunächst fuhren wir zu einem Elektromarkt. Hier sollten wir uns für Papa erkundigen, ob man unser Festnetz noch mit Telefonen erweitern könne. Er möchte nämlich, falls Mama intern bei unserem Haustelefon durchklingelt, dass dies sicher jeder mitbekommt und für sie da sein kann.

Auch fuhren wir zu einem Laufshop. Hier kaufte ich mir Laufschuhe, die ich sofort testete, nachdem mein Bruder und ich wieder zu Hause ankamen. Auf der Laufstrecke fühlte es sich leider an, als würde ich kontinuierlich auf Nadeln laufen. Wie sich herausstellte, hatten sich aufgrund der neuen Schuhe Blasen unter meinen Füßen gebildet.

Während ich zudem einen längeren Feldweg neben einer Straße entlanglief, hupte mich ein vorbeifahrendes Auto an. Gerade war ich verträumt in meine Gedanken und guckte auf den Boden, weshalb ich durch dieses Hupen peinlich aufschreckte und kurz zusammenzuckte. Nur noch die schwarze Farbe des Autos konnte ich erblicken. Mehr als Testosteron durchzuckte den Verstand dieses Catcallers wohl nicht.

Einige Kilometer weiter war ich immer noch tief in Gedanken versunken, sodass ich die Abbiegung in meine Stadt verpasste. So war ich ungefähr zwanzig Meter zu weit geradeaus gelaufen. Wer glaubt durch das Laufen seinen Kopf frei zu kriegen, kennt mich nicht. Ich höre beim Laufen selten Musik, sodass es kaum etwas gibt, auf das sich meine Gedanken konzentrieren können. Anstatt einmal abzuschalten, bin ich in vielen Fällen genötigt, dem Geschnatter meiner Gedanken zuzuhören. Vehement versuche ich mich daher auf mein Tempo, meine Schrittfrequenz, meine Atmung, wie ich den Fuß aufsetze oder dass ich einen geraden Rücken beibehalte zu konzentrieren, damit ich bloß nicht länger nervtötenden Stimmen im Kopf lauschen muss. Aber selbst das sind ständige Gedanken, denen ich ausgeliefert bin. Ich weiß also nicht so genau, ob ich laufen gehe, um meinen Kopf frei zu kriegen… Vielmehr kickt mich das Adrenalin und der Wunsch sich auszupowern sowie das Gefühl voller Euphorie und Stolz nach dem Laufen.

Auf den letzten beiden Kilometern nach Hause erhöhte ich daher mein Tempo und sprintete über die 10km Distanz hinaus. Die restlichen Meter lief ich locker aus.

Zuhause erfuhr ich, dass Mama im Krankenhaus ist. Dort wird ihr Wasser abgepumpt, das sich in einem zu hohen Maß in ihrer Lunge befindet.

In diesem Augenblick realisiere ich, dass ich mich auf jeden Fall von Mama angemessen verabschieden möchte. Ich habe sie heute ja gar nicht mehr gesehen, bevor sie ins Krankenhaus ging. Lediglich habe ich mich vorm Laufen durch Tschüss rufen verabschiedet. Sie im vielleicht letzten Moment vorher nicht mehr gesehen zu haben, nicht mehr bei ihr gewesen zu sein, sich nicht richtig verabschiedet zu haben, erfüllt mein Herz mit Beklemmung. Ja, sogar Tränen laufen mir gerade die Wange hinab, weil mich diese Erkenntnis so tief trifft.

Weil ich zum Geburtstag einen Gutschein für Frau Harpers Buchhandlung bekommen habe, stöberte ich nach dem Laufen noch auf der Internetseite ihres Onlineshops. Dort fand ich zwei Romane, in denen es um die Themen Tod und Trauer geht. Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren oder diesen bereits verloren zu haben?

Seitdem voraussehbar ist, dass Mama jeden Moment sterben kann, befasse ich mich des Öfteren mit diesen Themen. Es hilft mir, darüber zu lesen. Dadurch weiß ich, dass ich nicht die Einzige bin. Es gibt so viele Menschen, denen es genauso wie mir ergeht und den Tod geliebter Menschen erleben mussten. So viele mussten Ähnliches durchstehen. Und diese Tatsache beruhigt. Ich fühle mich damit weniger allein in meiner Trauer.

Dass im Herzen die Sonne wieder scheint

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