Читать книгу Rufmord auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 4

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Es sollte ein schöner Sommertag auf Wangerooge werden. Die Insel war noch nicht komplett ausgebucht. Aber in einigen Tagen würden die Sommerferien in Niedersachsen und Bremen beginnen, zwei Wochen später würde Nordrhein-Westfalen folgen. Es war der erste Arbeitstag von Lars Petersen. Seine Schussverletzungen hatte er in einer Reha-Kur auskuriert und der Amtsarzt äußerte keine Bedenken mehr gegen seinen Dienstantritt. Eine schrittweise Wiedereingliederung in den Polizeidienst hatte er strikt abgelehnt. Diese sei unter den Bedingungen einer kleinen Polizeiwache nicht machbar, erklärte er dem Amtsarzt. Eine Behauptung, die natürlich nicht stimmte, denn der Leiter des Polizeipostens Wangerooge, Onno Siebelts, hatte nach seinem Herzinfarkt auch mit reduzierter Stundenzahl gearbeitet. Irgendwie hatte Petersen es aber geschafft, den Amtsarzt zu überzeugen, ihn mit voller Stundenzahl gesund zu schreiben. Kommissar Petersen, ein strafversetzter ehemaliger Drogenfahnder aus Bremen, hatte sich mittlerweile mit der Nordseeinsel angefreundet. In der kurzen Zeit, in der er auf der Insel war, hatte er schon bei der Aufklärung mehrerer spektakulärer Tötungsdelikte mitgewirkt. Während eines nächtlichen Einsatzes war er im Osten der Insel in eine Falle gelockt und angeschossen worden. Nur durch den beherzten Einsatz einer SEK-Einheit, zu der auch seine ehemalige Auszubildende, Mona Behrens, gehörte, wurde er gerettet. Bei vielen Insulanern war er ein geschätzter „Inselsheriff“ geworden, zumal er sich zusätzlich als Musiker in der Wangerooger Kulturszene betätigte.

Als er die Treppe seiner Dienstwohnung runterging, stieg schon der Geruch frisch gekochten Kaffees in seine Nase. Onno Behrens, der alte Revierleiter und Günter Naumann, der die Wache in den Sommermonaten verstärkte, überraschten ihren Kollegen mit einem frischgedeckten Frühstücktisch im Dienstzimmer.

„Moin mien Jung“, begrüßte ihn Onno schulterklopfend, „schön, dass du wieder bei uns bist.“ Dann stellte er ihm Günter Naumann vor, ein schlanker hochgewachsener Mann mit einem freundlichen Gesicht, der Petersen sofort die Hand schüttelte.

„Ich bin Günter. Wir sollten uns unter Kollegen duzen.“

Onno nickte, „Günter kommt schon seit zehn Jahren immer zur Sommersaison auf die Insel. Er kennt die Abläufe, dem brauchen wir nichts erklären, zur anderen Zeit macht er Dienst in Cuxhaven.“

Alle drei setzten sich und begannen zu frühstücken. Eine rege Unterhaltung über Polizeifragen entspann sich und Petersen spürte gleich einen direkten Draht zu Naumann, der mit seiner Kritik an der Sparpolitik in Sachen Innerer Sicherheit der Regierungen auf Landesebene als auch auf Bundesebene nicht hinter dem Berg hielt.

„Ach so“, unterbrach Siebelts die Unterhaltung der beiden, „morgen kommt dann noch ein Kommissaranwärter aus Oldenburg“, lachend ging sein Blick in Richtung Petersen, „übrigens auf Empfehlung der Kollegin Behrens.“ Petersen war diese Anspielung unangenehm. Mona und er hatten ein besonderes Verhältnis, aber musste Onno das jetzt vor dem neuen Kollegen ansprechen?

„Ist ja gut“, unterbrach Petersen, „wir müssen also wieder ausbilden.“

„Du hast doch damit gute Erfahrungen gemacht“, bohrte Onno weiter.

Petersen versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Was liegt heute an?“

Onno gab nach und nahm den Faden auf.

„Wir machen jetzt erstmal den Bereitschaftsplan für die nächsten Tage und dann habe ich noch eine Überraschung für euch, kommt mal gleich mit.“

„Jetzt machst du uns aber neugierig“, grinste Naumann.

„Kommt mal mit nach hinten, draußen in den Hof.“

Siebelts stand auf, seine Kollegen folgten ihm. Im Hof stand ein großes Paket.

„Jo, is‘ denn schon Weihnachten“, äffte Petersen Franz Beckenbauer nach.

„Eigentlich wollte ja unser Vorgesetzter aus Wilhelmshaven selber kommen, aber wir haben Ostwind und der Fährfahrplan ist mal wieder geändert worden. So muss ich das jetzt feierlich auspacken.“

Mit einem scharfen Teppichmesser begann Siebelts das Paket aufzuschneiden.

„Lars hat die ganze Zeit darüber rumgejammert, dass wir mit einem rostigen Fahrrad auf der Insel rumgurken müssen, während Feuerwehr, Krankentransport und die Seenotretter Fahrzeuge haben.“

Langsam kam ein neues Fahrrad zum Vorschein.

„Ihr seht, das ist kein gewöhnliches Fahrrad, sondern ein E-Bike, genau genommen ein Pedelec mit einer Beschleunigung auf 25 km/h und einer Akkureichweite von 60 km“, erklärte ein sichtlich stolzer Onno Siebelts. Ungläubig bestaunten seine Kollegen das Rad.

„Besser als nichts, ein schöner SUV wäre mir lieber gewesen, aber gut“, lachte Petersen. Danach schlossen sie das Fahrrad an die Außensteckdose des Reviers an und gingen wieder in das Dienstzimmer.

Nachdem sie den Dienstplan besprochen hatten, sprach Onno allgemeine Probleme in der Sommersaison an.

„Lars hat ja noch keine Sommersaison mitgemacht. Folgende Punkte müssen wir im Auge behalten: Da wäre das Problem der nächtlichen Ruhestörungen. Die Leute sitzen bei gutem Wetter vor den Kneipen. Es wird gegrölt und laute Musik gehört. Derjenige, der von uns Nachtbereitschaft hat, ist gekniffen und hat die Arschkarte. Dafür gibt es in der Regel im Sommer nicht so viele Kneipenschlägereien. Lars wird es freuen, er hat im Frühjahr ja was abbekommen. Und nicht zu vergessen, die Kiffer kommen wieder aus ihren Löchern. Die Inselkiffer vereinigen sich mit den Urlaubskiffern. Aber wir haben ja einen erfahrenen Drogenfahnder in unseren Reihen.“

Lars zeigte Onno den Mittelfinger. Diese Anspielungen auf seine frühere Tätigkeit in Bremen konnte er immer noch nicht gut ab. Weil er Kleindealer mit Stoff gefüttert hatte, um an die großen Dealer ranzukommen, war er disziplinarisch belangt worden, auch fühlte er sich als Bauernopfer der Politik in Bremen. Der Frust hierrüber saß noch immer tief in ihm drin.

„Geschenkt Lars, hätte ich nicht sagen sollen“, beschwichtigte Onno, der gemerkt hatte, dass er Petersen mit seiner Bemerkung verletzt hatte.

„Aber Spaß beiseite, der Kleppe vom Zoll will noch mal mit dir reden, der hat irgendwie einen Tipp bekommen.“

Petersen nickte und hoffte, dass Kleppe nicht wieder mit dem Alkoholschmuggel anfangen würde. Seinem Kneipenkumpel zuliebe, dem Wirt des „Störtebekers“, hatte er fünfe grade sein lassen. Wohl hatte er sich dabei nicht gefühlt. Aber der Magister, so nannte sich der Wirt nach einem der Getreuen von Klaus Störtebeker, schob ihm die eine oder andere wertvolle Information über den Tresen. Darauf wollte er nicht verzichten.

Nach der Besprechung startete Petersen zu seinem ersten Streifengang in Uniform nach seiner Reha. Wie immer ging er die Anton-Günther-Straße hinauf zur Promenade und atmete tief durch, als er die ruhige Nordsee erblickte. Immer wieder war er von diesem Anblick fasziniert. Der rote Lotsenkatamaran fuhr langsam an den ankernden Schiffen vorbei und in der Ferne durchpflügte ein großes Containerschiff der Maersk-Reederei die Nordsee Richtung Bremerhaven. Am „Diggers“ wurden die Stühle rausgestellt und der Schwede, Koch des Lokals und zugleich ein Thekenbekannter aus dem „Störtebeker“, schrieb in gestochener Handschrift seine Essensangebote auf die Werbetafel. Der Schwede, der eigentlich Jürgen hieß, hatte seinen Spitznamen bekommen, weil er in Unterhaltungen häufig die Redewendung „alter Schwede“ benutzte.

„Moin Schwede“, rief Petersen ihm zu.

„Moin Sheriff“, kam es zurück, „Werder ist ja nun nur knapp dem Abstieg entronnen, irgendwann seid ihr dran.“

„Da mach‘ dir mal keine Sorgen drum, Werder ist unabsteigbar“, prahlte Petersen.

Bei diesen Worten fiel dem Schweden fast die Kreide aus der Hand.

„Du bist ein unverbesserlicher Optimist. Ich werd‘ dich noch mal an deine Worte erinnern. Das kostet dann aber ein paar Jever.“

„Kein Problem, machen wir so.“

Lachend zog Petersen weiter. Das neue Lokal im Aparthotel „Anna Düne“ hatte ebenfalls großflächig Tische und Stühle rausgestellt. Die Gastronomen erwarteten wohl dieses Jahr einen Spitzensommer. Vor dem Eingang zur Kurverwaltung sah er den neuen Bürgermeister Nils Eichner, den er bisher nur von seiner Tätigkeit als Standesbeamter und Leiter des Ordnungsamtes kannte. Eichners Vorgänger, Günter Depken, hatte sich bei den Wahlen irgendwie verzockt. Erst wurde eine mögliche Nachfolgerin vom Festland geholt, dann plötzlich entschied Depken sich doch wieder zur Kandidatur und der lachende Dritte war der parteilose Kandidat Nils Eichner, der dann in der Stichwahl das Rennen machte. Freundlich grüßte Eichner Petersen, in dessen Uniformjacke sich sein Handy meldete. Wie Onno bereits vorhergesagt hatte, war es Zollsekretär Kleppe.

„Moin Lars, schön, dass du wieder im Dienst bist. Ich brauch‘ deine Hilfe. Der Sommer ist da und prompt ist schon wieder viel Cannabis im Umlauf. Ich hab‘ da eine Vermutung und müsste das mal mit dir besprechen. Wo bist du gerade?“

„Direkt vor der Gemeinde“, antwortete Petersen.

„Okay, bin beim Kämmerer im Büro, ich komm‘ gleich raus.“

In diesem Moment kam eine laut lärmende Gruppe von Jugendlichen auf ihn zu. Einer aus der Gruppe hatte einen Zettel in der Hand. Das verhieß nichts Gutes, Inselrallye. Viele Insulaner waren von den Fragen der Schüler genervt, die immer mit denselben Arbeitsaufträgen z. B. in Gaststätten einfielen. Standardfrage war häufig, wie viele Biersorten auf der Karte stünden.

Anstatt die aushängende Getränkekarte zu studieren, wurde die Bedienung in vollbesetzten Lokalen angequatscht unter dem Motto „Ey Alte, wieviel Stoff habt ihr auf der Karte stehen?“

So passierte es jetzt auch Petersen. „Ey, Bulle, sag‘ mal an, wieviel Treppenstufen hat der Leuchtturm?“

Petersen blieb stumm. Verdutzt musterten die Jugendlichen den Polizisten. Dann tippte Petersen an sein Namensschild auf der Uniform. Ein etwas kleinerer und dicklicher Junge mit einer Hornbrille baute sich jetzt vor ihm auf.

„Lieber Herr Polizist, Entschuldigung Herr Petersen, könnten Sie uns helfen?“

Petersen nickte.

„Geht doch“, grinste Petersen.

„Auch Bullen haben Namen und möchten höflich angesprochen werden. Aber zu eurer Frage, ihr solltet mal zum Leuchtturm gehen und dort fragen.“

„Oh nee, dann müssen wir da ja ganz hinlatschen“, raunzte ein anderer Jugendlicher.

Petersen nickte. Im Laufschritt näherte sich jetzt eine jüngere Frau mit wehenden mittellangen schwarzen Haaren. Von der Kleidung her tippte Petersen auf Lehrerin. Sie trug einen wallenden tiefroten Rock, der ihr fast bis zu den Füßen reichte und darüber ein T-Shirt mit mehreren Batik-Mustern, die Petersen aus den 70er Jahren kannte. Die Schülergruppe ging zur Seite und die vermeintliche Lehrerin steuerte direkt auf Petersen zu.

„Haben die sich schlecht benommen? Ich bin die Lehrerin. Wir machen gerade zur Erkundung der Insel eine Rallye.“

Petersen grinste.

„Hab‘ ich gemerkt. Etwas freundlicher könnten Ihre Schüler schon sein, mich als Bullen anzusprechen, geht eigentlich nicht.“

Die Lehrerin errötete.

„Das tut mir leid.“

Die Pädagogin sammelte jetzt die Gruppe um sich und klatschte in die Hände.

„Kinder, wir hatten verabredet, die Leute hier freundlich anzusprechen, sonst müssen wir das ganze abbrechen und gehen in die Jugendherberge zurück.“

Petersen musterte die Schüler. Großen Eindruck schien die Ansprache bei ihnen nicht hinterlassen zu haben. Einige feixten hinter dem Rücken ihrer Lehrerin.

Wieder wurde in die Hände geklatscht.

„So nun macht weiter, aber schön freundlich sein.“

Petersen räusperte sich.

„Sie sollten den Fragebogen schon ab und an mal überarbeiten.“

„Wieso, was ist denn damit?“

„Ich hab‘ da mal eben einen Blick drauf geworfen. Da ist die Frage nach dem Kubikmeter-Inhalt der Telefonzelle vor dem Gasthof „Jan Seedorf“. Diese Telefonzelle gibt es seit längerem nicht mehr.“

Die Pädagogin errötete erneut.

„Oh, das habe ich nicht gewusst. Hab‘ den Fragebogen von Kollegen kopiert, die vor einigen Jahren mal hier waren.“

„Sehen Sie, das meine ich. Auch die Aufforderung, ein lebendes Tier mitzubringen, ist problematisch. Die Schüler waren schon mal, und das haben mir glaubhaft meine Kollegen erzählt, bei unserem Reitstall auf der Weide und haben versucht ein Pony zu fangen.“

Traurig blickte die Pädagogin Petersen an.

„Ja, ich wollte es mir einfach machen und hab‘ das so ungefragt übernommen. An Ihnen ist ein Pädagoge verloren gegangen.“

Petersen schüttelte mit dem Kopf.

„Wollte ich auch mal werden, das war aber nichts für mich.“

Er musste die Unterhaltung jetzt abbrechen, denn Zollsekretär Kleppe fuchtelte schon im Eingang zur Gemeindeverwaltung mit den Armen.

„War nett Sie kennenzulernen, ich muss aber jetzt, die Pflicht ruft“, mit diesen Worten verabschiedete sich Petersen. „Molto charmante“, murmelte er in sich hinein. Die Enttäuschung über das abrupte Ende dieser Unterhaltung war der Lehrerin anzusehen.

„Tut mir leid, dass ich dir die Tour vermasselt habe“, grinste Zollsekretär Kleppe. Der kleine, untersetzte freundliche Mann freute sich diebisch über seine Bemerkung. Petersen setzte seinen coolen Gesichtsausdruck auf.

„Das war ein pädagogisches Fachgespräch.“

„Aha, so nennt man das“, feixte Kleppe.

Im Sitzungszimmer der Gemeinde nahmen beide Platz.

„Also, ich habe einen Tipp bekommen, dass hier auf der Insel jemand in größerem Stil Cannabis anbaut und ich wollte dich bitten, auch mal einen Blick drauf zu haben.“

„Das muss hier doch auffallen, so eine Indoor-Plantage braucht viel Licht, Entlüftung usw.“

„Ja, deshalb sag‘ ich’s dir ja auch. Wichtig ist, dass man seinen Blickwinkel verändert und einfach mal drauf achtet.“

„Okay, ich kümmer‘ mich drum und geb‘ auch auf der Wache Bescheid.“ Petersen stand auf. Beide schüttelten sich die Hände und Petersen ging wieder auf die Promenade zurück. Wieder klingelte sein Handy. Das Bild von Mona erschien im Display. Sein Puls schoss nach oben.

„Polizei Wangerooge, Petersen am Apparat, was kann ich für Sie tun“, meldete er sich betont förmlich.

„Haha, dir scheint es ja wieder gut zu gehen, Inselsheriff“, hörte er Mona lachen.

Sie hatte einen sehr großen Anteil daran gehabt, dass er die Schießerei im Osten der Insel überlebt hatte. Die Ermittlungen waren von ihr und Kommissar Wilbert zum Ende geführt worden und das, obwohl sie erst Kommissaranwärterin war. Ihre Ausbilder auf der Polizeiakademie in Oldenburg prophezeiten ihr eine große berufliche Zukunft.

Ihre erotische Stimme berührte ihn jedes Mal. Beide waren trotz des großen Altersunterschiedes im Bett gelandet, aber so richtig waren sie sich über den Status ihrer Beziehung nicht im Klaren. Keiner wagte es dieses Thema anzusprechen, weil beide insgeheim ahnten, dass ihnen der Altersunterschied von rund 30 Jahren keine Perspektive eröffnete.

„Ich hab‘ euch einen neuen Anwärter zum Praktikum empfohlen, der kommt morgen und ich bitte dich, ihn nett zu empfangen und ihn unter deine Fittiche zu nehmen. Das ist ein ganz lieber Kerl und lass‘ bitte die Macho-Tour, zeig ihm einfach, wie Polizeialltag aussieht.“

Petersens Magen krampfte sich zusammen. Dieser Typ schien ihr wichtig zu sein. Nach seinem Geschmack etwas zu wichtig.

„Ist das dein neuer Lover?“, fiel Petersen mit der Tür ins Haus. Er ärgerte sich sofort über sich selbst und sein törichtes Gerede.

„Hallo Lars, was soll das? Mir ist das wichtig, dass du ihn ordentlich behandelst. Das ist der Sinn meines Anrufs, klar?“

Er wollte noch etwas sagen, aber sie hatte ihn weggedrückt. Petersen hätte am liebsten sein Handy ins Meer geworfen. So sauer war er über sich selbst.

Trotzig stapfte er zurück zur Wache in die Charlottenstraße.

Da Günter Naumann in dieser Nacht Bereitschaft hatte, saß Onno Siebelts alleine im Dienstzimmer der Wache und erledigte Papierkram. Petersen informierte ihn über das Gespräch mit Zollsekretär Kleppe.

„Cannabis-Anbau auf Wangerooge, kann ich mir schwer vorstellen. Aber viele von der Insel fahren nach Amsterdam, so weit ist das ja nicht“, ergänzte Siebelts.

„Na ja, schau ‘n wir mal“, würgte Petersen das Gespräch ab und widmete sich danach seinem PC. Der Ärger über sich selbst war noch nicht verflogen, deshalb war es jetzt besser, sich nicht auf Gespräche einzulassen. Er würde allerdings heute Abend in den „Störtebeker“ gehen, um seinen Ärger runterzuspülen. Dieser Entschluss stand unabänderlich fest.

Nach Feierabend übte er noch einige Gitarrenriffs auf seiner Fender Stratocaster, bevor er dann zum „Störtebeker“ aufbrach. Auf den Stühlen im Außenbereich saßen einige Touristen in kurzen Hosen und Flip Flops. Die Tür stand offen und das sogenannte „after work“ Knobeln schien im vollen Gange zu sein, denn er hörte die Knobelbecher auf den Tresen knallen. Die Musik war recht laut. Noch war es früh, so dass Beschwerden nicht zu befürchten waren. Als Petersen die Kneipe betrat, wurde er mit einem „Moin Sheriff“ begrüßt. Der Magister hielt sich die Augen zu.

„Oh, welch Glanz in meiner Hütte, der Columbo für Arme gibt sich die Ehre.“

„Mach hier kein Tam Tam! Ich bin unterhopft, komm in die Hufe“, reagierte Petersen betont cool. Die Kneipe war recht voll, nur an der Theke saßen die ihm bekannten Knobler. Aber in der Reihe dahinter und auf der Empore tummelten sich augenscheinlich Touristen. Da es Montag war, hatten sich die Knobler einiges von ihren Wochenenderlebnissen zu berichten. Strandwärter Jens Rackow, der im Frühjahr die Weltkriegsleiche gefunden hatte, klagte über Kopfschmerzen. Der Magister ließ ihn damit nicht durch.

„Wenn du montags nicht beschissen aussiehst, war dein Wochenende nicht gut“, reagierte er auf das Wehklagen von Rackow. Der Schwede schüttelte wortlos den Kopf. Da der Magister jetzt eine neue CD in seine Anlage schob, musterte Petersen die Gäste und stutzte. Auf der Verlobungsbank ganz in der rechten Ecke saß die Lehrerin von heute Mittag. Vor ihr stand eine Flasche Jever und daneben ein leeres Kornglas. Er drängte sich durch die Reihe hinter den Barhockern.

„Was machen Sie denn hier? Hier hätte ich Sie nicht erwartet.“

„Ach, der nette Polizist von vorhin, ich hätte Sie ohne Uniform fast nicht erkannt. Mein Kollege hat heute Stallwache in der Jugendherberge, die machen heute einen DVD-Abend. Ich musste mal raus aus der Mühle“, antwortete sie mit schwerer Stimme.

„Wenn der dich belästigt, muss du das nur sagen“, schaltete sich der Magister grinsend ein, „unser Sheriff ist ein sensibler Frauenflüsterer, pass auf.“

Die Lehrerin schüttelte ihren Kopf, so dass ihre langen schwarzen Haare durch die Luft wirbelten.

„Der darf mich ruhig ansprechen, den hab‘ ich heute schon kennengelernt, zu dem habe ich Vertrauen.“

Mit besorgter Miene bemerkte Petersen, dass das verzögerte Sprechen langsam in ein Lallen wechselte. Da auf der Bank noch Platz war, setzte er sich zu ihr.

„Ich bin fertig, kann mich nicht durchsetzen. Pubertierende Jugendliche gehen mir derart auf den Geist, die sind so respektlos“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Noch mal das Gleiche hier und für den netten Polizisten auch ein Bier“, winkte sie dem Magister zu. Fragend blickte dieser Petersen an. Petersen reagierte sofort.

„Ich bestelle jetzt ein Wasser für Sie, denken Sie an den weiten Weg noch in den Westen zur Jugendherberge.“

„Ich bin mit dem Fahrrad da.“

„Umso schlimmer“, unterbrach sie Petersen.

Der Magister stellte der Lehrerin ein Flasche Wasser hin und gab Petersen ein Jever.

„Ich werde hier bevormundet“, lachte sie, „hier achtet die Polizei auch auf die Kneipengäste.“

„All inklusiv nennt man das“, warf der Magister ein und donnernd

ertönte seine laute Lache.

„Ich heiße übrigens Dagmar“, hob sie ihr Wasserglas. „Lars“, kam es zurück.

„Eigentlich könnten wir beide hier jetzt schön versacken, da hätt‘ ich richtig Bock drauf.“

„Wir haben nur ein Problem“, unterbrach Petersen sie „du bist hier im Job und ich im Feierabend.“

„Spielverderber“, knurrte sie, „ein Scheißjob ist das. Ich kann das doch nicht bis 67 machen, unmöglich.“

„Du kannst dir aber professionale Beratung holen, so was gibt es doch, oder?“

„Supervision“, lachte sie schrill, „ das ist ein Witz. Ich nenne das Befindlichkeitsakrobatik. Hab‘ ich gerade hier in so einem Schaukasten gesehen, ein Kurs der Volkshochschule vom ‚Burn Out zur Work-Life-Balance‘. Mit so einem Typen wir dir, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, kann ich mir das schon eher vorstellen.“

Petersen lachte, „da hast du dir aber den Falschen ausgesucht. Ein nettes Kneipengespräch ja, aber für den Psychoscheiß bin ich der Falsche.“

„Wo ist denn der Unterschied? Ein Kneipengespräch bringt manchmal mehr und kostet nicht so viel“, lachte sie wieder sehr schrill.

In Petersen arbeitete es. Wie sollte er hier die Kuh vom Eis bringen? Eine Lehrerin, die betrunken auf dem Deich liegen würde. Geht gar nicht, die würde ihren Job verlieren. Er hatte grade neulich von zwei Lehrern gelesen, die total betrunken in Hamburg auf einer Klassenfahrt ertappt wurden, EdeKa, Ende der Karriere.

Er gab dem Magister ein Zeichen, die Rechnung fertig zu machen. Dieser sang leise, „ich bin der Beschützer der stolzesten Frau ‘n und dann sind se hin“, frei nach Heinz Rühmann.

„Willst du mich abschleppen?“, meldete sich Dagmar wieder, „oh, wie romantisch.“

Petersen zog Dagmar von der Verlobungsbank. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, wie mach‘ ich das jetzt? Er hatte eine Idee. Wozu nicht neue technische Hilfsmittel nutzen?

Er hakte Dagmar unter und verließ mit ihr den „Störtebeker.“

„Wo hast du dein Fahrrad stehen?“

„Hier am Geländer.“

Gib mir den Schlüssel, den holst du morgen auf der Wache ab. Du sagst in der Jugendherberge, du hättest ein Problem mit dem Schloss gehabt, okay?“

„Alles klar Herr Kommissar, komm‘ ich jetzt in eine Zelle?“

„Wir sind kurz davor, haben aber hier noch kein Frauengefängnis.“ Eigentlich war Petersen nicht zum Lachen zumute. Langsam schob er Dagmar in den Hof der Wache. Gott sei Dank, das E-Bike stand noch dort.

„So hör zu, jetzt wird’s ernst. Du setzt dich auf den Gepäckträger. Hälst dich an mir fest und dann geht das hier los. Immer westwärts.“

„Okay John Wayne.“

Dagmar schien einen guten Humor zu haben. Petersen lachte.

„Auf zum Rio Grande!“

Wir gehen ein kleines Stück bis zum Haus Cronemeyer, damit uns hier keiner sieht, sonst bin ich meinen Job los.“

„Desperados auf der Insel“, Dagmar konnte sich kaum halten vor Lachen.

Das Haus Cronemeyer war das letzte Haus an der Straße zum Westen. Dagmar schwang sich auf den Gepäckträger und umfasste Petersen mit beiden Armen, so wie es eine richtige Biker-Braut machen würde. Petersen schaltete den Akku ein und los ging es.

Als sie auf dem Deich ankamen, fing Dagmar an zu singen.

Atemlos durch die Nacht.

Bis ein neuer Tag erwacht.

Petersen hätte fast die Kontrolle über das E-Bike verloren.

„Bitte ein anderes Lied, sonst landen wir im Watt.“

Dagmar reagierte sofort mit einem anderen Lied.

Born to be wild.

We can climb so high.

I never wanna die.

“Das ist okay”, rief Petersen in den Wind und sang den Text mit.

Am Westturm-Café hielt Petersen an und sein Ton wurde ernst.

„So Dagmar, du gehst jetzt da ganz konzentriert rein, lässt dir nichts anmerken. Sofort ins Zimmer, keine Schüler oder deinen Kollegen ansprechen, das musst du mir versprechen.“

Dagmar umarmte Petersen und drückte ihm dabei einen Kuss auf die Wange.

„War irgendwie schön mit dir. Schade, dass ich so besoffen bin und hier als Lehrerin sitze.“

Einen Moment beobachtete er sie noch, wie sie hinunter zum Westturm ging. Sie riss sich tatsächlich zusammen. Etwas erleichtert trat Petersen den Rückweg an. Leise summte er.

Born to be wild.

Rufmord auf Wangerooge

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