Читать книгу Rufmord auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 6

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Petersen wachte sehr früh auf. Der gestrige Abend hatte ihn irgendwie aufgewühlt. Warum das so war, blieb für ihn unklar. Hoffentlich war die junge Lehrerin unbeschadet in die Jugendherberge gekommen, ohne dass jemand ihren angetrunkenen Zustand bemerkt hatte. Im Dienstzimmer war er heute Morgen allein. Naumann brauchte aufgrund seiner Nachtbereitschaft erst mittags anzufangen und Onno hatte sich zu einem Arzttermin bei Doc Meyerdierks abgemeldet. Die Brötchen von gestern schmeckten immer noch gut und Aufschnitt war auch noch genügend da. Nachdem er seinen letzten Bissen runtergeschluckt hatte, fuhr er seinen PC hoch. Sofort sprang ihm eine Mail des LKA Niedersachsen ins Auge, die mit einer hohen Dringlichkeitsstufe versehen war. Die Mail, mit einer angehängten Bilddatei, ging ausschließlich an die Küstenbadeorte. Jede Dienststelle sollte prüfen, ob diese Aufnahmen zu lokalisieren waren. Aufmerksam betrachtete Petersen die Bilder. Sie zeigten Kinder beim Spielen am Strand. Die Bildausschnitte kamen ihm schon etwas merkwürdig vor. Richtige Urlaubsfotos waren das jedenfalls nicht. Eindeutig war das Hauptaugenmerk des Fotografen auf die Körper der Kinder gelenkt und nicht auf das Strandambiente, obwohl keine offensichtlichen pornographischen Handlungen dargestellt waren. Petersen tippte auf einen Spanner, der an der Nordseeküste sein Unwesen trieb. Mit der Zoomeinstellung untersuchte er die Bilder genauer. Für ihn konnte das überall sein. Etwas Spezifisches, was auf Wangerooge hindeutete, war für ihn nicht auszumachen. Nach einer kurzen Überlegung druckte er die Fotos in verschiedenen Größen aus und schob sie in einen Umschlag. Er würde damit zu Jens Rackow, dem Strandwärter, gehen. Vielleicht konnte der mehr zur Beschaffenheit des Strandes und der Umgebung sagen.

Es klopfte. Petersen rief laut „herein.“ Er staunte nicht schlecht, als Dagmar eintrat. Sie sah blass aus, lachte ihn aber freundlich an.

„Moin, ich wollte meinen Fahrradschlüssel abholen und mich noch einmal bei dir, wir waren doch beim Du oder, bedanken.“

Sie holte aus ihrer Stofftasche, auf der „Nordseeheimat“ aufgedruckt war, eine Flasche Grappa raus und stellte diese auf den Tresen.

„Du siehst so aus, als wenn du Grappa trinken würdest. Es ist gestern noch alles klar gegangen. Niemand hat was bemerkt. Du hast mich vor einem großen Fehler bewahrt. Dafür möchte ich mich bedanken.“

Petersen musste jetzt seine Verlegenheit überspielen. Mit so viel Lob konnte er schlecht umgehen.

„Das freut mich, aber die Flasche darf ich nicht annehmen. Du bist ja selbst Beamtin und kennst die Vorschriften.“

Dagmar lachte ihn an.

„Hallo Lars, gestern warst du für mich der Typ Altrocker mit Lederjacke, übrigens ganz schön sexy. Nur, weil du jetzt eine‘ Uniform anhast, musst du nicht den überkorrekten Beamten geben.“

Petersen war jetzt richtig verlegen. Nervös rieb er mit seiner rechten Hand die Stirn.

Dagmar ließ nicht locker.

„Wir sind hier allein. Steck die Flasche weg und mach‘ nicht den Affen. Mit Grappa lag ich doch richtig oder?“, schob sie nach.

Petersen nickte. Dann kam ein leises „Danke“ über seine Lippen und schon war die Flasche unter seinem Schreibtisch verschwunden. Aus der rechten Schublade holte er den Fahrradschlüssel raus und gab ihn ihr.

„Wie lange bleibt ihr noch?“

„Bis Freitag, aber Kneipe ist für mich gestrichen. Es ist halt kein Urlaub, so traurig das ist. Vielleicht komm‘ ich mal zum Urlaub machen hierher und buche dann Supervision bei einem Polizeibeamten an der Theke.“

Lachend nahm sie ihren Fahrradschlüssel, hauchte ihm wieder einen Kuss auf die Wange und verschwand. Völlig konsterniert blieb Petersen zurück.

Nachdem er sich gesammelt hatte, griff er sich den Umschlag mit den Fotos und machte sich auf den Weg zum Strand. Die Strandkörbe waren schon fast durchweg besetzt und auch Guidos Jumping-Anlage wurde von einer Schulklasse belagert. Auf dem Volleyball-Feld wurde eifrig trainiert. Saisonhöhepunkt war dann immer das Gästeturnier, das von Helmut aus Bremen organisiert wurde. Petersen suchte die untere Promenade nach dem Strandwagen von Rackow ab. Er fand den nostalgisch aufbereiteten Wagen unterhalb des Eingangs zur Kurverwaltung. In blauen Farben war an der Seite der Schriftzug „Strandservice“ angebracht. Fenster, Eingangstür und Aufgang zum Wageninneren leuchteten in einer gelben Farbe. Irgendwie war dieser Wagen ein Hingucker befand Petersen. Die Tür war geschlossen und am Fenster klebte ein Zettel: „Bin im Feld, komme gleich zurück.“ Er setzte sich auf den Treppenaufgang des Wagens und beobachtete die Strandszenerie. Paare mit Kleinkindern bildeten die größte Gruppe, gefolgt von Rentnerpaaren. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Sommerferien noch nicht begonnen hatten. In der dritten Reihe der Körbe sah er Rackow mit seiner Umhängetasche. Er kassierte oder kontrollierte, ob die richtigen Leute in den richtigen Körben saßen. Nachdem er die letzte Reihe kontrolliert hatte, ging er langsam zum Wagen zurück. Als er Petersen entdeckte, grinste er.

„Hast du wieder `ne Leiche am Strand gefunden oder willst du mich wegen Zechprellerei festnehmen?“

„Die Leiche im Frühjahr hast du gefunden, mein Lieber, und der Magister hat sich bei mir nicht über deine Zahlungsmoral beschwert. Lass uns mal eben in deinen Wagen gehen. Ich muss dir was zeigen.“

Rackow schloss den Wagen auf und blickte ihn erstaunt an.

„Nun mach es nicht so spannend. Du willst doch irgendwas oder?“

Petersen nickte.

„Schau dir mal bitte diese Fotos an, könnten die hier gemacht worden sein?“

Petersen legte die Fotos auf den Tisch des Wagens. Ohne etwas zu sagen, musterte Rackow die Bilder, dann brach er sein Schweigen.

„Sucht ihr einen Spanner? Die Motivauswahl ist ja eindeutig.“

Petersen nickte.

„Konzentrier dich bitte auf das Umfeld. Können die Fotos hier am Strand gemacht worden sein?“

„Die Breite des Strandes ist nicht sehr groß. Die anderen Inseln haben meines Wissens größere Strände. Wir liegen hier am Fahrwasser. Stopp, da hinten ist am Bildrand das Ende eines Strandkorbes zu sehen. Ich aktivier‘ mal eben die Lupenfunktion meines I-Phones.“

Petersen staunte.

„So was gibt’s?“

„Na klar, man muss mit der Zeit gehen. Du kannst dir auf dein Smartphone so eine App runterladen. Also jetzt geht’s los.“

Rackow suchte mit seinem Smartphone das Bild systematisch ab.

„Du hättest Kriminaltechniker werden sollen.“

„Stimmt, da würde ich wohl etwas mehr Kohle verdienen. So, hier haben wir die Ecke eines Strandkorbs. Auf der braunen Leiste haben wir hinten in Gelb unsere Nummern aufgemalt. Bingo, man sieht zwar nicht die Nummer, aber den Aufstrich zu einer Nummer auf gelbem Untergrund. Ich bin jetzt mal vorsichtig, aber zu 90% sind das Fotos von hier.“

„Scheiße, das gibt Arbeit“, ärgerte Petersen sich.

„Ja, das Leben ist kein Ponyhof, aber so einen Spanner wirst du schwer finden. Hier läuft jeder mit ’nem Handy rum und fotografiert alles, was sich bewegt.“

Petersen nickte.

„Erstmal vielen Dank Jens, ich geb‘ dir beim Magister ein Bier aus. Vielleicht komm‘ ich noch mal auf dich zurück.“

Petersen packte seine Fotos wieder ein und auch auf Rackow wartete wieder Arbeit. Vor dem Strandwagen hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Das gute Wetter musste ausgenutzt werden.

Zügig ging Petersen zurück in die Charlottenstraße. In der Wache waren inzwischen sowohl Onno Siebelts als auch Günter Naumann eingetroffen. In knappen Worten setzte Petersen seine Kollegen über die Entwicklung mit den Fotos in Kenntnis. Naumann war der Erste, der sich äußerte.

„Das wird aber eine schwierige Nummer, so einen Spanner ausfindig zu machen. Bei der Handy-Dichte am Strand fast unmöglich.“

Onno nickte.

„Ich bin ja nun ein altmodischer Friese und habe mit Handys nichts am Hut, aber ich habe das kommen sehen. Da ein Selfie, hier ein Selfie, dass das missbraucht werden kann, ist doch klar. So`n Schiet.“

„Stimmt alles, was ihr sagt, aber jetzt melden wir erst einmal dem LKA, dass die Fotos mit großer Wahrscheinlichkeit hier vom Strand stammen. Ich denke, die werden jetzt versuchen, mit ihren technischen Mitteln über IP-Adressen oder so ähnlich rauszukriegen, wer diese Bilder ins Netz stellt hat.“

Siebelts und Naumann nickten.

„Was den Leuten absolut nicht klar ist, dass jeder das Recht auf das eigene Bild hat. Da wird nicht drüber nachgedacht. Eigentlich müsste man die Strandbesucher darüber aufklären“, referierte Petersen.

„Bloß nicht“, kam es von Onno zurück, „wenn die Kurverwaltung spitzkriegt, dass hier ein Spanner Fotos ins Netz stellt, drehen die doch durch.“

„In Boltenhagen, an der Ostsee, haben die das gemacht“, schaltete sich Naumann ein, „die haben an ihren Strandaufgängen Aufkleber mit einem durchgestrichenen Fotoapparat angebracht. Das hat natürlich ordentlich Wirbel gegeben. Die Leute haben erst gedacht, es gäbe ein allgemeines Fotografierverbot am Strand. DDR-Methoden kam es sofort von den üblichen Bedenkenträgern. Dann wurde ein Text angebracht, so unter dem Motto, fotografieren sie keine fremden Menschen ohne deren Zustimmung.“

Petersen nahm den Faden auf.

„Ganz so blöd ist das nicht, denn eigentlich sollte es klar sein, dass an einem Badestrand mit den vielen leicht bekleideten Leuten die Persönlichkeitsrechte besonders streng zu achten sind. Ich möchte meine Bierwampe auch nicht irgendwo im Netz sehen.“

„Ihr habt ja recht, aber bloß nicht unseren Fall öffentlich machen. Das geht nach hinten los.“

„Nun hab‘ mal nich so viel Schiss Onno. Wir könnten das doch mal dem neuen Bürgermeister als polizeiliche Präventionsaktion vorschlagen.“

Petersen lachte, weil er wusste, wie Onno reagieren würde, und wie auf Knopfdruck kam seine Reaktion.

„Oh nee, jetzt geht das wieder los. Petersen mit seiner bremischen Symbolpolitik. Kostet nichts, bringt nichts, aber alles wird schön aufgeblasen. Heiße Luft, sonst nichts. Ich zitiere Kommissar Petersen aus Bremen.“

Alle drei fingen jetzt an zu lachen. Naumann, der diesen Gag zwischen Petersen und Siebelts noch nicht kannte, klopfte sich auf die Schenkel. Als alle sich gefangen hatten, grinste Onno Petersen schelmisch an.

„So Lars, jetzt musst du gleich unseren Anwärter aus Oldenburg vom Bahnhof abholen.“

Entgeistert blickte Petersen seinen Dienststellenleiter an.

„Wieso ich denn?“ raunzte er.

„Du hast das mit Mona so schön hingekriegt, du bist der geborene Ausbilder, einfühlsam und durch und durch Pädagoge.“

Onno konnte sich vor Lachen kaum halten. Genüsslich schob er einen Satz hinterher, den er sonst nie sagen würde.

„Das ist eine dienstliche Anweisung!“

Petersen entgleisten die Gesichtszüge. Über die Bemerkung mit Mona ärgerte er sich schon, wollte sich aber jetzt nicht als Spielverderber aufführen.

„Okay, ich mach das, oben sticht unten, das ist des Beamten Leid.“

Mit diesen Worten zog er in Richtung Bahnhof ab.

Auf dem Bahnhof herrschte das übliche Chaos, wie es in der Hauptsaison üblich war. Viele Menschen drängten sich vor dem Absperrgitter, das vor den Gepäckcontainern aufgebaut war. Geduld war hier wenig ausgeprägt. Obwohl jeder sah, dass die Container noch erst mit einem Gabelstapler auf den Bahnsteig gehoben werden mussten, wurde gedrängelt und geschubst. Petersen, der das Getümmel aus sicherer Distanz beobachtete, schüttelte nur ungläubig den Kopf. Das war nun der Beginn des Urlaubs, der der Entspannung und der Erholung dienen sollte. Trotzdem stellte er sich die Frage, ob der Gepäcktransport nicht doch anders organisiert werden könnte. In diesem Moment wurde er von hinten angesprochen.

„Sind Sie Kommissar Petersen?“

Petersen drehte sich um und sah einen schlanken, verdammt gut aussehenden jungen Mann vor sich, schwarze, kurz geschnittene Haare, Drei-Tage-Bart. Das Gesicht war für Petersen fast zu jugendlich. Das sollte ein Kommissaranwärter sein. Petersen hätte ihn für einen Oberstufenschüler gehalten, der kurz vorm Abitur stand. Nachdem Petersen genickt hatte, stellte sich der junge Mann ihm vor.

„Ich bin Simon Bernhard, Anwärter aus Oldenburg.“

Von Petersen kam nur ein kurzes, brummiges „Moin.“ Er deutete auf die Gepäckausgabe. Bernhard hatte verstanden und reihte sich in die ungeduldig wartende Masse ein. Junger gut aussehender Mann, Petersen ahnte, dass Mona an diesem Typen Gefallen gefunden haben könnte. Vom Alter her durfte er sogar einige Jahre jünger als Mona sein. Sein Bauchgefühl signalisierte ihm aufsteigende Eifersucht. Sein Verstand sagte ihm, dass es so kommen musste. Eine Beziehung zwischen ihm und Mona musste zwangsläufig an dem großen Altersunterschied scheitern. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber ihm war klar, dass bei beiden dieses Gefühl immer da war, sonst hätte mehr draus werden können. Sein Verstand hatte die Unausweichlichkeit dieser Entwicklung immer schon gesehen, aber sein Bauch rebellierte, und dies ärgerte ihn maßlos.

Simon Bernhard steuerte mit seinem Rollkoffer auf Petersen zu, der dirigierte ihn durch eine Gruppe von Schülern, die mitten im Abgang vom Bahnsteig standen und gebannt auf ihre Smartphones starrten. Vor der Bäckerei Kunst bog Petersen in die Schulstraße ein. Er hatte keine Lust mit der Horde der ankommenden Feriengäste mitzulaufen. In der Kapitän-Wittenberg-Straße war es merklich ruhiger. Bernhard durchbrach das Schweigen.

„Die Mona hat viel von Ihnen erzählt, übrigens nur Gutes und dass ich viel von Ihnen lernen kann.“

Petersen schluckte. Das musste er jetzt nicht hören. Am liebsten hätte er „halt’s Maul“ gerufen. Er entschloss sich, nicht auf die Bemerkung zu reagieren. Stattdessen wurde er förmlich.

„Wir sind gleich da, vorne links in der Charlottenstraße ist die Wache. Über der Wache ist Ihre Dienstwohnung. Ich werd‘ Sie dann gleich den Kollegen vorstellen. Im Moment sind wir zu dritt, weil Hauptsaison ist. Einer von uns hat immer Nachtbereitschaft, wir wechseln uns ab.“

„Und was ist mit mir?“ unterbrach Bernhard Petersen.

„Sie laufen immer mit einem von uns mit, wahrscheinlich mit mir.“

„Das hatte Mona sich auch gewünscht“, kam es zurück.

Petersen wäre fast ausgerastet. War dieser junge Mann das Schoßhündchen von Mona? Er ging ihm jetzt schon auf die Nerven. Das fing ja gut an. Er riss sich zusammen.

„Das hat unser Dienststellenleiter Onno Siebelts so angeordnet und nicht Mona Behrens aus Oldenburg.“

Bernhard bemerkte schon, dass Petersen angefressen war, verstand die Ursache dafür aber nicht. Sie hatten die Wache erreicht. Petersen stellte Simon Bernhard seinen Kollegen vor. Gott sei Dank brachte Onno dann den Polizeianwärter in seine Dienstwohnung.

Rufmord auf Wangerooge

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