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A. § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt
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Es gab und gibt bis heute vereinzelte Stimmen, die § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt interpretieren wollen.[1] Bei unterstellter Richtigkeit dieser Auffassung sowie einer strengen Anwendung der Tatherrschaftslehre im Sinne Roxins wäre das Tatherrschaftskriterium dann nicht das maßgebliche Kriterium, um Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung voneinander abzugrenzen.
Ursprünglich konnte sich diese Auffassung noch auf den Wortlaut des § 392 RAO 1931 stützen, der Steuerstraftaten für eine „Verletzung von Pflichten, die Steuergesetze im Interesse der Besteuerung auferlegen“, hielt.[2] Nach dem ersatzlosen Wegfall des § 392 RAO 1931 im Zuge des 2. AOStrafÄndG wurde diesem Argument jedoch die Grundlage entzogen.[3]
Heute wird der Versuch unternommen, diesen Ansatz auf ein neues Fundament zu stellen. Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass das tatbestandliche Unrecht des § 370 Abs. 1 AO insgesamt in der Verletzung einer steuerlichen Mitwirkungspflicht gesehen werden und daher § 370 Abs. 1 AO vollständig als Pflichtdelikt interpretiert werden müsse.[4] Gedanklicher Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass es im Rahmen der Abgrenzung zwischen einer Steuerhinterziehung durch aktives Tun und einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen zu – zum Teil unüberbrückbaren – Abgrenzungsschwierigkeiten komme. Diese könnten nur dann vermieden werden, wenn § 370 Abs. 1 AO einheitlich als Pflichtdelikt interpretiert werde.[5]
Die Steuerhinterziehung stelle in ihrem eigentlichen Kern ein Unterlassungsdelikt dar. Grund hierfür sei, dass der Fiskus in aller Regel keine eigene Kenntnis von dem ihm zustehenden Steueranspruch habe, sondern für dessen Ermittlung auf die Mitwirkung der Steuerpflichtigen durch Abgabe ihrer steuerrelevanten Daten angewiesen sei. Hieraus ergebe sich eine echte Mitwirkungspflicht. Werde diese verletzt, liege eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen vor.[6] Nur in Ausnahmefällen sei von einer Steuerhinterziehung durch aktives Handeln auszugehen. Dies sei nur dann der Fall, wenn der Fiskus ausnahmsweise selbst – ohne auf Mitwirkungspflichten angewiesen zu sein – Kenntnis von seinem Steueranspruch habe.[7] Dies wiederum sei dann der Fall, wenn der Fiskus selbst über die notwendigen Informationen zur Steuerfestsetzung verfüge. Steuerhinterziehung durch aktives Tun stelle sich in diesen seltenen Fällen als „Abbruch eines rettenden Kausalverlaufes“ dar, weil der Fiskus ohne das nachträgliche aktive Eingreifen durch das Tätigen falscher Angaben seinen berechtigten Steueranspruch hätte durchsetzen können.[8] Tatgerichte hätten also bisweilen die schwierige Aufgabe, zwischen aktivem Handeln und Unterlassen zu unterscheiden. Hierbei ergäben sich jedoch erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. In objektiver Hinsicht sei beispielsweise in vielen Fällen problematisch, dass die Strafgerichte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung – „also regelmäßig Jahre nach Abgabe der unrichtigen Erklärung“[9]- noch festzustellen hätten, ob der Fiskus ohne die unrichtigen Angaben zu einer zutreffenden Steuerfestsetzung gekommen wäre und damit ein rettender Kausalverlauf vorgelegen habe, der erst durch die falschen Angaben abgebrochen worden sei. Eine solche Feststellung sei aufgrund des regelmäßig hohen Zeitablaufs in der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch nicht mehr mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu treffen.[10] Schwierigkeiten ergäben sich darüber hinaus aber auch bei der Feststellung des subjektiven Tatbestandes. Hier sei es zumeist schwierig, dem Angeklagten im Prozess nachzuweisen, dass der rettende Kausalverlauf, also die Tatsache, dass die Finanzbehörde zu einer zutreffenden Steuerfestsetzung gekommen wäre, wenn er keine falschen Angaben gemacht hätte, von seinem Vorsatz umfasst war. Dies sei vor allem deshalb problematisch, weil es sich bei der Steuerfestsetzung regelmäßig um einen internen Behördenvorgang handele, von dem der Angeklagte im Normalfall keinerlei Kenntnis haben könne. Ohne genaue Kenntnis von einem Umstand sei es jedoch nur schwer möglich, Vorsatz auf genau diesen Umstand zu haben, beziehungsweise für die Gerichte, diesen Vorsatz hinreichend sicher nachzuweisen.[11] Hieran verdeutlichten sich die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen aktivem Tun und pflichtwidrigem Unterlassen im Bereich der Steuerhinterziehung.
In Anbetracht der Tatsache, dass § 370 Abs. 1 AO im Hinblick auf seinen persönlichen Anwendungsbereich so interpretiert werden müsse, dass eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen nicht von jedermann, sondern nur von im konkreten Fall Erklärungspflichtigen begangen werden könne, komme der Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen jedoch ein extrem hoher Stellenwert zu. Dieser Stellenwert führe dazu, dass die skizzierten Abgrenzungsschwierigkeiten nicht hinnehmbar seien.[12] Denn, wenn sich nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit feststellen lasse, ob ein Handeln oder ein Unterlassen vorgelegen habe, müsse eine Person, die nicht unter den persönlichen Anwendungsbereich des § 370 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 AO falle, im Zweifel freigesprochen werden, weil in diesen Fällen eben nicht ausgeschlossen werden könne, dass nur ein Unterlassen vorlag.[13]
Derart unbefriedigende Ergebnisse ließen sich vermeiden, wenn der Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen keine entscheidende Bedeutung bei der Bestimmung von Täterschaft zugemessen werden müsste. Dies sei aber nur dann möglich, wenn § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden könne, denn im Rahmen von Pflichtdelikten sei die konkrete Verhaltensform für die Bestimmung der Strafbarkeit weitgehend unerheblich. Das Verhaltensunrecht dieser Delikte bestehe nämlich allein in der Verletzung der konkreten Verpflichtung, wobei es nicht darauf ankomme, ob diese Pflicht durch aktives Tun oder durch Unterlassen verletzt werde.[14]
Werden somit die Motive für die Auffassung, die Steuerhinterziehung müsse insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden deutlich, stellt sich die weitergehende Frage, auf welche dogmatische Grundlage diese Interpretation gestützt werden kann. In der steuerlichen Mitwirkungspflicht wird ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 StGB gesehen, das nicht auf § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO beschränkt sei, sondern zusätzlich für § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gelte und damit auch diesen Tatbestand einer Interpretation als Pflichtdelikt zugänglich mache.[15] Hier bestehen Parallelen zu der Pflichtdeliktslehre Roxins. Dieser knüpfe die Interpretation eines Straftatbestandes als Pflichtdelikt an bestimmte Voraussetzungen, wobei eine Analyse des § 370 Abs. 1 AO zeige, dass dieser Tatbestand sämtliche der von Roxin für ein Pflichtdelikt aufgestellten Voraussetzungen erfülle. Nach dem Verständnis Roxins sei konstituierende Voraussetzung von Pflichtdelikten, dass eine Person gegen ihr obliegende Leistungsanforderungen einer bestimmten sozialen Rolle verstoße, und dieser Verstoß die Funktionsfähigkeit eines bestimmten Lebensbereiches gefährdet habe.[16] Dieses Bild entspreche exakt dem abstrakten Regelungsgehalt des § 370 Abs. 1 AO. Außerstrafrechtliche, steuerliche Mitwirkungspflichten würden jedermann eine bestimmte soziale Rolle zuschreiben. Bei einem Verstoß gegen diese Pflichten komme es zu einer Verletzung der dem Verpflichteten zugeschriebenen sozialen Rolle. Hierdurch gefährde er das Steuersystem als geschützten Lebensbereich. Eine derartige Interpretation gelte insbesondere auch für den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, was dazu führe, dass § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden müsse.[17]
Neben den vorstehend geschilderten Überlegungen lassen auch systematische Überlegungen Raum für Spekulationen, ob nicht § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden müsste.[18] Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist ein Vergleich des § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO mit § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. Nach der zweiten Alternative der Nr. 1 des § 370 Abs. 1 AO macht sich wegen Steuerhinterziehung strafbar, wer über steuerlich erhebliche Tatsachen unvollständige Angaben macht. Nun sei zu überlegen, ob nicht das aktive Tätigen unvollständiger Angaben gleichsam als Kehrseite immer auch das Unterlassen vollständiger Angaben beinhalte.[19] Interpretiere man demgemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO als Unterlassungsdelikt, müsse auch die besondere Pflicht aus Nr. 2 und Nr. 3 hierher übertragen werden, weil ein strafrechtlicher Unterlassungsvorwurf nur dann gerechtfertigt sei, wenn den Unterlassenden korrespondierend eine Handlungspflicht treffe. Wenn als Folge derartiger Überlegungen neben § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO als Pflichtdelikt zu interpretieren sei, könne dieser Umstand als systematisches Argument erwogen werden, auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 AO und damit § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt zu charakterisieren.[20]
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass mit dem Vorstehenden zwei denkbare Argumentationsmuster dargetan sind, auf deren Grundlage § 370 Abs. 1 AO – entgegen seines scheinbar eindeutigen Wortlauts – insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden könnte, was zu einer Unanwendbarkeit der Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne führen würde.