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Instinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und Wahl

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Der dissoziierende Vorgang bei der Entfaltung des Geschehens Wahrnehmung findet sich analog in der Abfolge der seelischen Wesensformen des Lebendigen wieder. War der „Gefühlsdrang“ noch weitgehend einheitlich und undifferenziert – das pflanzliche Leben ist fest mit dem Boden verwurzelt, ernährt sich aus dessen chemischer Analyse und differenziert grob wie zum Beispiel zwischen Licht und Dunkel –, so kennzeichnet Scheler die nächste Stufe des Lebendigen durch den Instinkt und bestimmt ihn als eine art-dienliche Zeitfigur1. Eine Erweiterung der Fähigkeiten des Lebendigen, derer die Pflanze in ihrer Verwurzeltheit nicht bedarf, da die Seinsveränderung des lebendigen Wesens im Hinblick auf den Ort durch Selbstbewegung ein Privileg der tierischen Lebensform ist.

In diesem Sinne nennen wir „instinktiv“ ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muss erstens sinnmäßig sein, d.h. so sein, dass es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger […] teleoklin ist. Und es muss zweitens nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen.2

Das Wort „sinngemäß“ im Zusammenhang mit dem Instinktiven verwundert, ist aber der Idee eines teleoklinen Ablaufs geschuldet, dem Zweck der Überlebenssicherung des Individuums durch von der Spezies aufgebaute und bereit gestellte komplexe Verhaltensweisen. An dieser Stelle erscheint zum ersten Mal die Bewegung als Ortsveränderung in den Formen von einem Zu-hin und Von-weg, von Angriff und Flucht, Attraktion und Repulsion. Der gewachsene Aktionskreis des tierischen Lebewesens spiegele sich in seiner Struktur als komplexerer Aufbau wider. Er bedinge ebensolche komplexere Abläufe im Lebewesen selbst. Zum ersten Mal in der Stufenabfolge des Lebendigen erscheint eine Gesamtheit von Tätigkeiten, welche Scheler in die Formulierung eines „festen, unveränderlichen Rhythmus“3 packt. Da es sich um eine mehrgliedrige Tätigkeit handelt, fügt er hinzu:

Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das von „Versuch und Irrtum“ genannt hat – erworbenen, gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht.4

Scheler unterscheidet sie als angeborene und erbliche von den erworbenen Bewegungen. Der Instinkt sei in die Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert5 und im engsten Zusammenhang mit ihrer physiologischen Struktur tätig. Als ererbt bedinge er das, was ein Tier vorstellen, erinnern und empfinden könne. Der Instinkt umschließe alle diese Tätigkeiten des Tieres. Er sei in seiner arttypischen Anordnung wie eine Melodie6, welche wohl geübt und präzisiert werden könne, aber keine strukturelle Abwandlung erlaubte, ohne dass diese zu ihrer Desintegration führe. Zudem sei er zum einen unabhängig vom Individuum der Art und somit Allgemeingut, zum anderen unabhängig von der Anzahl der Versuche. Der Instinkt sei als Vermögen der Art eine von Beginn an vollständige, teleokline Figur, welche in ihrer Struktur immer gleich abläuft. Insofern gehört seine besondere Ausprägung zur Kennzeichnung der Art, welche in ihrer Umwelt mittels seiner agieren kann.

Der Instinkt ist die spezifische Figur eines Tuns und in seiner Mehrgliedrigkeit eine Rhythmusgestalt, welche als ein Urphänomen der Zeitgestaltung begriffen werden kann. Damit wäre der Instinkt ein erstes innerlich gegliedertes und gestaltetes Zeitfragment eines Lebewesens, ein festgelegter Rhythmus, ein erstes inneres Zeitmaß, eine erste innerliche Uhr des handelnden Lebens selbst. Als solcher zeugt er aber auch von der innigen Verbindung eines Lebewesens mit seiner Umwelt, und im Weiteren mit den makrokosmischen Vorgängen, welche die Wechsel in der Umwelt eines Lebewesens mitbedingen. Tatsächlich jedoch ist er Teil eines Gesamtvorgangs in der Natur und somit ein Bruchstück, welches als solches nicht selbst abstrahiert und als Zeitmesser verwendet werden könnte, aber als in einem Lebewesen angelegter Vorgang bestätigt er dessen Vermögen zu gegliederter und gestalteter Zeit.

So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sog. «Trieb»handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, dass sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z.B. die Sucht nach Rauschgift).7

Treten wir aus der Instinktschicht heraus und erklimmen die nächsthöhere Stufe des Lebendigen, so stoßen wir auf „jene Fähigkeit […] die wir als ‚assoziatives Gedächtnisʻ (Mneme) bezeichnen.“8 Doch bevor Teile assoziativ neu angeordnet werden können, bedürfe es eines aus dem „biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen“9 austreibenden Mechanismus der Dissoziation, welchen Scheler in der Großhirnrinde lokalisiert. Relative Einzelempfindungen und Einzelvorstellungen sowie einzelne Triebe treten aus dem im Instinkt noch gebundenen komplexen Verband der Regungen heraus. Es handelt sich um den Vorgang der „schöpferischen Dissoziation“10. Der Instinkt trete zurück, die Spuren, welche die Umwelt im Lebewesen hinterlässt, vertieften sich, würden plastischer und könnten, ja müssten neu geordnet werden. Dies geschehe durch das „gewohnheitsmäßige“11, Grundlage des assoziativen Gedächtnisses, welches sich über Probierbewegungen lebensdienliche Strategien aufbaue. Die Probierbewegungen führt Scheler auf einen „Wiederholungstrieb“12 zurück, so wie er die Gesetze der Assoziation auf die des Pawlowschen „«bedingten Reflexes»“13 zurückführt, deren psychische Seite sie darstellten. Die Assoziationsgesetze von „«Berührung und Ähnlichkeit»“14 konfigurieren oder rekonfigurieren die aus einem zerfallenen Gesamtkomplex von Vorstellungen einzelnen Teile. Wie schon vorher bei den Empfindungen gibt es auch hier für Scheler keine reinen Assoziationen, sondern die diese determinierenden Kräfte von Trieben, Bedürfnissen oder auch der Dressur15. Und wiederum bemüht er eine historische Parallele, indem er das assoziative Gedächtnis der Mythenkritik als ein Spätphänomen der Menschheitsentwicklung hinzufügt.

Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit können also neben innerseelischen Vorgängen auch soziale Beziehungen regulieren. Dann nämlich, wenn aufgrund des Ausdrucksvermögens des Lebendigen, der Artgenossen, sowie der damit verbunden Signale, „«Nachahmung» und «Kopieren»“16 stattfinden kann. Es handelt sich hier erneut um den Wiederholungstrieb der Lebewesen, diesmal jedoch angewandt auf Fremdverhalten und -erleben, auf dem der Vorgang beruht. An dieser Stelle erscheint nun erstmalig die Tradition.

Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der «Tradition», die zu der biologischen «Vererbung» eine ganz neue Dimension der, Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt […].17

Diese müsse jedoch aufs Schärfste von der willkürlichen Erinnerung (Anamnesis) aufgrund von Überlieferung getrennt werden. Außerdem bleibt Scheler dabei, dass die Entwicklung des Menschen grundsätzlich auf „einem zunehmenden Abbau der Tradition“18 beruht.

In den Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit erkennt man unschwer die Figuren der Metonymie und der Metapher, sei es als rhetorische, stilistische oder strukturalistische oder als philosophisch-erkenntnistheoretische Figur wie bei Aristoteles19 bis hin zu Karl Eibl20 und Blumenberg21. In Kopie und Nachahmung als Mimesis erkennt man weitere für die Ästhetik grundlegende Prinzipien des Intrapsychischen wie Interpsychischen.

Durch die zunehmenden dissoziativen Vorgänge bei der Entwicklung und dem Erklimmen der Stufenleiter des Lebendigen lösen sich die assoziativen Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit kompensatorisch heraus. Sie bilden auch unter äußeren Zwängen und innerem Drängen die Bedingung der Möglichkeit für Re- und Neukonfigurationen von Empfindungen, Vorstellungen, Trieben und Bedürfnissen. Berührung und Ähnlichkeit rühren aus dem Gesamtkomplex der instinktiven Verhaltensweisen und sind als das Angrenzend-Dazugehörige: Berührung und das Sich-überschneidend-Dazugehörige: Ähnlichkeit, bestimmbar. Ihre propädeutische erkenntnistheoretische Natur lässt sich vor allem in ihrer das Sein zwar gliedernde, nicht jedoch durch eine ausschließende Funktionen ordnende erkennen. Berührung und Ähnlichkeit kennen kein tertium non datur. Mit dem Dazugehörigen-im-Angrenzenden und dem Dazugehörigen-im-sich-Überschneidenden (in z.B. Gestalt, Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Fühlen oder Größe, Aufenthaltsort, Menge etc.) ist zwar eine Gliederung als innere Grenze, jedoch kein kategorisch ausgrenzendes Kriterium gegeben. Es gibt noch keinen Horos, kein Definiens, das hier Platz greifen könnte. Es ist die Phylé des Lebendigen selbst, welche in dialektischer Bewegung auf jeder neuen Stufe immer komplexere Differenzierungen und somit immer weitere physische wie psychische Verhaltens- und Repräsentationsweisen der Lebewesen hervortreibt.

Mit dem Erstarken des assoziativen Prinzips geht der Zerfall des Instinktes einher. Ist der Instinkt ein Charakteristikum der Art, so beginne mit den assoziativen Vorgängen die relative „Herauslösung“22 des Individuums aus der Erstarrung des Instinktes. Gleiches gelte für „Triebe, Gefühle, Affekte“23. Löst sich z.B. der Sexualtrieb aus seiner natürlichen Umklammerung und folgt nicht mehr dem Rhythmus des Lebens, kann er sich zu einer selbstständigen „Quelle der Lust“24 und zu einem Zweck wandeln. Konterkariert wird die Befreiung des Seelischen mit dem, was Scheler, „organisch gebundene praktische Intelligenz“25 nennt, die „vierte Wesensform des psychischen Lebens.“26 Mit ihr erscheint die „organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung“27. Organisch, da alle diese inneren und äußeren Verhaltensweisen im Dienste der Trieberfüllung oder der „Bedürfnisstillung“28 stehen. Intelligentes Verhalten definiert Scheler zunächst „ohne Hinblick auf psychische Vorgänge“ wie folgt:

Ein Lebewesen verhält sich «intelligent», wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes – sei es «kluges», sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d.h. «törichtes» («töricht» kann nur sein, wer intelligent ist) – Verhalten neuen weder art- noch indivdualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhafte Aufgabe zu lösen.29

Steht diese Intelligenz im Dienste geistiger Ziele „erhebt sie sich über Schlauheit und List“30. Auf der psychischen Seite bedeute dies die „plötzliche aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt“31. Mit dem Hinweis auf die Köhlerschen Studien zu Schimpansen diskutiert Scheler, ob diese Art der Intelligenz zumindest einigen wenigen Tieren zugeschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass Köhler mit „vollem Recht […] seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen“32 zuspreche:

[…] auch nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehung der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zu Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.33

Der vom Ziel gepackte Trieb verlängere sich sozusagen in die Umwelt des Tieres hinein und verwandele darin befindliche Dinge in Quasi-Gegenstände zu seiner Erreichung: „Die Triebdynamik des Tieres selbst ist es, die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt.“34 Wir beginnen hier – nach Scheler – „das Kausal- oder Wirkphänomen“ in seinen Ursprüngen zu „belauschen“35. Allerdings handele es sich hier nicht um irgendeine reflexive Tätigkeit, sondern um „eine Art anschaulicher Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. […] Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.“36

Transzendierende Immanenz

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