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Die Phantasie

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Phantasie definiert Scheler als eine ursprünglich produktive Einbildungskraft1 und „höchste vorstellende Funktion, zu der es die Vitalseele bringt“2, von Trieben angestoßen, vom Geist geleitet. Sie ist ihm als pure Phantasie „eine ideen-wert-wahrheit-falschheit-wissens-täuschungs-blinde Fähigkeit der Vitalseele“3. Schon die natürliche Wahrnehmung besteht für Scheler aus der Dreiheit „Empfindung + Gedächtnis + Phantasie“4. Durch kritische Intervention des Geistes werde die lebendige Phantasie gezügelt und der Mensch lerne nach und nach unter der von ihr bereit gestellten Bilderflut (auch Gefühlsphantasie, Strebensphantasie5) diejenigen auszuwählen, welche ihn zur Beobachtung, die erst das Resultat eines langen Reifungsprozesses sei, führten. Wir treffen hier wieder auf die These der Dissoziation als des eigentlich für die Menschwerdung entscheidenden evolutionären Vorganges. Das evolutionäre Sonderprodukt Mensch weiß grundsätzlich – im Unterschied zum sich immer ekstatisch verhaltenden Tier –, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die „seltsame Fähigkeit“6 des Menschen Gegenstände zu erschaffen, die

«ficta» heißen und die, obzwar sie kein anderes Sein haben können als jenes daseinsfreie So-sein, das auch – obzwar nicht nur – bewusstseinsimmanent ist und Bewusstseinsimmanentem immer zukommt, sich doch vom Augenblicksbewusstsein, in dem sie zuerst auftauchten, ja sogar von individuellen Bewusstsein loslösen können, dann durch eine Mehrheit von Akten identifizierbar sind, ja sogar von vielen Individuen identisch gehabt werden können. Die Zahl 3, das Dornröschen, der Gott Apollo als kollektives fictum des griechischen Volkes z.B. sind ficta.“7

Die Phantasie schließe den offenen Raum, der „zwischen «Wesenserkenntnis» und «zufälliger Erfahrung» (Sinneserfahrung) gähnt.“8 Sie sei indifferent gegenüber Wahr und Falsch. Aber nach Scheler kann man mit Hilfe der Vorstellung durchaus „etwas bemerken“9, was in der akuten Wahrnehmung verborgen bliebe. Die Phantasie sei also unter kritischer Anleitung des Geistes der Erkenntnis förderlich. Doch in ihrer Unabhängigkeit gegenüber Wahrheit und Täuschung sei sie das Reich der Freiheit für die Kunst; sie sei das Agens für die Schau der Ideen, worin wie oben erwähnt die Zahl 3 oder das Dornröschen für alle identisch geistig geschaut werden könne. So hält sie für die Kunst die Möglichkeit parat, ihr Material so zu bilden, dass es sowohl als Identisches wie als Vielfältiges betrachtet werden kann. Das künstlerische Werk könne vermittelst ihrer zwischen Einheit und Vielfalt oszillieren, solange es der Künstler vermag, eine wesentlich erkennbare Identität zu stiften. Diese grundsätzliche Ambivalenz des künstlerischen Werkes findet ihre Entsprechung in der Rückbindung bzw. Exemplifizierung der künstlerischen Einsicht in das künstlerische Material, welches per se Vielfalt ist, denn es stammt aus dem bildschaffenden metaphysischen Prinzip des Dranges, der im Grunde nur Chaos10 und keine Ordnung sowie der damit verbunden Möglichkeit der Identität eines Gegenstandes kennt.

Denkt man sich den Schelerschen übersingulären Geist an der Realisierung der Welt durch den Drang und mit Hilfe des Menschen am Werke der Geschichte, so fragt man sich bei der Vielfalt und Kontingenz der Erfahrungswelt nach den unterschiedlichen Aufgaben, welche die Menschheit als unterschiedenes Ganzes dabei übernehmen kann. Dem schafft Scheler durch eine Analyse nach Kriterien sozialer Konvenienz Abhilfe. Er unterscheidet neben der Masse der Menschen, welche immer anonym dazu verdammt sei zu folgen, nach der Kategorie des „Vorbildes“11 und der Nachahmung die Typen des „Heiligen, der geistigen Werte, des Edlen, des Nützlichen und des Angenehmen“12 und bestimmt sie als Träger apriorischer13 Wertideen. Diese Typen des Menschlichen stehen jedem einzelnen als Vorbilder zur Verfügung und jeder Typ für sich genommen stelle einen möglichen Weg für den Menschen dar, damit er durch die Nachfolge die Enge seines individuellen Bewusstseins überkomme. Die Vorbilder seien ideale Wertgestalten, in die sich die Einzelnen in der Nachfolge hineinbildeten und sich somit entwickelten. Die unterste Stufe der Übergabe der Vorbilder wäre nach Scheler ein „dunkler physischer Vorgang der Vererbung“14, doch die Geschlechtsliebe – nicht der Geschlechtstrieb – besitzt nach ihm eine teleologische Tendenz und führt den Liebenden zum passenden Partner, um die entsprechend passenden Erbwerte in der Nachkommenschaft zu entwickeln. Die Tradition stehe „zwischen Vererbung und verstehender Aufnahme (Belehrung, Erziehung) in der Mitte“15. Im Tradierten vermeine man, das Eigene zu tun und zu erkennen. Es sei die unwillkürliche nicht bewusste Nachahmung, welche die Tradition als Form bestimme. Der dritte Modus der „Vorbildwirksamkeit heißt geistiges Verstehen und darauf fußender «Glaube an» Personen.“16 Erst hier komme ein bewusstes Verwerfen oder Anerkennen der Werte und Akte des Vorbilds ins Spiel und erst auf dieser Stufe könne man von „freier Nachfolge“17 sprechen, als welche das große Vorbild die Nachfolge Christi18 benannt wird.

Der Künstler schaffe in seinen Werken die Vorbilder für die Nachahmung, wie den Helden im Mythos, und er schaffe damit zugleich auch die Schemata, welche als handlungsleitende Vorbilder eines Volkes oder einer Kulturgemeinschaft rückwirkend auf dessen Geschichte Einfluss nähmen. Dennoch bleibe die freie Nachfolge der künstlerisch angebotenen Vorbilder durch den Werkcharakter der Schöpfungen, welche als solche Symbole der Eigenwelt des Künstlers sind, bestimmend. Kein kollektiver Zwang vermöge es, eine ästhetische Wahl wahrhaftig zu beeinflussen. Die Freiheit der Nachfolge werde durch das Wesen des Werkes garantiert.

Ist Eros das „Leben des Lebens“19, so ist der genialische Eros der Geist des Geistigen. Er ist der „positive Akt einer geistigen Liebe zur Welt“20 und das „positive Bewegungsprinzip des Geistes“21, welches dem Fundament der genialischen Anschauung der Welt zugrunde liege. In kritischer Zurückweisung der Schopenhauerschen und Kantischen Interesselosigkeit als Grundlage für die kognitive wie ästhetische Betrachtung, welche nach Scheler schließlich das „Verschwinden aller Inhalte“22 zur Folge hätte, gilt für ihn die “Grundgesinnung“23 der genialischen Seele als eine der Welt schlechthin zugewandte. Der Metaphysiker und Phänomenologe Max Scheler ist in seinem Inneren ein Erotiker des Lebens und hinsichtlich der Kunst gilt für ihn, dass ihr Ursprung in der Feier des Lebens zu suchen sei24 und nicht wie von einer Gesellschaft mit „Magenproblemen“25 behauptet in der Arbeit. Für Scheler ist es die Überfülle des Lebens, das Fest:

Die künstlerische Tätigkeit, die in der Ausdruckstätigkeit wurzelt – schließlich die objektive Ausdruckstätigkeit ist, die in der drängenden Kraft der Selbstrealisierung des Konzeptionsgehaltes liegt –, ist sicherlich zuallerst Ausdruck des erotischen Gefühls. Der «Luxus» der Ausdruckstätigkeit spielt hier zuerst die entscheidende Rolle. Liebeslied, Liebesgesang als Erinnerung und Dauerhaftmachung oder als Erwartung des Festes der Vereinigung mit der Geliebten ist die erste Form der Kunstübung.26

Transzendierende Immanenz

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