Читать книгу Krimi Auswahlband Mordfälle für den Strand 2019 - Manfred Weinland - Страница 47
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JAY BONNER WISCHTE den modrigen Vorhang beiseite und trat hinter die Theaterbühne. Nur ein läppisches Notlicht brannte. Die Heizung war ganz ausgefallen. Es war so kalt, dass sich Atemfahnen vor dem Mund bildeten.
»Kid?«, rief der G-Man fröstelnd.
Ein Scheinwerfer flammte direkt über seinem Kopf auf und verwandelte sein Gesicht in einen gleißenden Fleck, der in der umgebenden Dunkelheit auseinanderzulaufen schien.
Pournelle gefiel sich in der Mephisto-Rolle. Sein Lachen rollte wie ein teuflisches Echo von allen Seiten heran.
»Hier!«, rief er. »Hier bin ich!«
Bonner wirbelte auf dem Absatz herum. Hinter ihm - nur Schritte entfernt - stand Josh Pournelle, der Drogenkönig, den sie »Kid« nannten, weil er seine Kundschaft vornehmlich an den Schulen und Kindergärten der Stadt rekrutierte.
»Ich hörte, du hattest unangemeldeten Besuch«, sagte Bonner rau. Die Worte sollten das übliche Zahlungsritual einleiten.
Pournelle trug einen schwarzen Umhang, der vermutlich aus einer vergessenen Requisite stammte. Sein sanftes Onkelgesicht sah aus wie ein aufgeblasener Ballon, den jemand mit Augen, Mund und Nase bemalt hatte. Eine Karikatur - aber eine gelungene.
So freundlich sieht also der Tod aus, dachte Bonner. Er war erstaunlich dünnhäutig an diesem Abend.
Er selbst hatte Pournelle einmal beobachtet, wie er auf Kinder am Rande einer Schule zugegangen war und seine »Geschenke« unter sie verteilt hatte. Bunte Klebebilder mit Superman, Disney-Figuren oder bekannten Baseball-Spielern. Eine Woche später war er wiedergekommen. Das LSD auf der Gummierung hatte inzwischen seine Arbeit getan. Über Mund- oder bloßen Hautkontakt war das Gift in den Körper der Kinder gelangt und hatte sie süchtig gemacht. Bei manchen klappte es nicht auf Anhieb; aber Pournelle war ein geduldiger »Onkel«. Er erschien an wechselnden Orten, aber in regelmäßigen Abständen. Einmal der Sucht verfallen, gab es nichts mehr umsonst. Die Kinder, die bei ihm einkauften, bestahlen zu Hause ihre Eltern, um an das Geld heranzukommen. Manche beraubten auch ihre schwächeren Klassenkameraden.
Gott sei Dank habe ich selbst keine Bälger, dachte Bonner, als »Kid« Pournelle auf ihn zukam. Einen Moment drohte ihn ein Schwindel zu erfassen, doch er kämpfte erfolgreich dagegen an.
»Dein Tipp kam goldrichtig, danke!«, lächelte der Dealer. »War das eine Razzia! Und haben die Knaben Augen gemacht, als sie nichts fanden.« Pournelle wollte in neues, wieherndes Gelächter ausbrechen, überlegte es sich aber anders, als er Bonners Miene deutete.
»Was ist mit dem versprochenen Lohn?«, fragte der G-Man. »Es ist nicht gut, wenn ich mich zu lange aufhalte.«
»Angst?«, erkundigte sich Pournelle lauernd.
»Das Geld«, verlangte Bonner ungeduldig. Er hatte Angst - aber eine Art Angst, die sich Pournelle nicht hätte vorstellen können. Niemand konnte das. Nicht einmal sein Arzt.
»Schon gut ...«
Der Dealer holte eine abgesägte Schrotflinte unter dem Umhang hervor und richtete sie auf den Mann im gefütterten Trenchcoat.
Bonner hielt die Luft an. Als er erkannte, was Pournelle vorhatte, tauchte seine Hand wie tausendfach geübt unter den Mantel.
Aber zu spät.
Pournelle drückte aus allernächster Nähe ab.
Der Knall pflanzte sich wie schauriger Donnerhall durch die verlassenen Zuschauerränge.
»Bombige Akustik!«, rief Pournelle begeistert.
Bonner war von der Wucht der Schrotladung nach hinten gegen eine alte Pappkulisse geworfen worden. Staub wirbelte auf, als er rudernd und blutüberströmt zu Boden glitt.
Pournelle wandte sich ab und schlenderte den Gang hinunter, der zu den Garderoben führte.
»Armer Narr«, murmelte er.
Mit der Stiefelspitze stieß er die angelehnte Tür nach innen und betrat die erleuchtete Kammer. Während er nachdenklich den Verschluss des Umhangs aufknöpfte und die Waffe auf einem Tisch ablegte, wanderte sein Blick zu dem offenen Koffer auf der Spiegelkommode.
Die Dollarbündel darin waren Balsam für seine angeschlagene Seele. Er hätte Bonner auszahlen können, natürlich - aber das hätte weit mehr gekostet als die Ladung Schrot, mit der er ihn nun ins Jenseits befördert hatte. Außerdem wollte Pournelle keine Zeugen auf seiner Flucht zurücklassen. Bonner hatte ihm zwei Jahre lang den Rücken freigehalten. Mit einer gehörigen Portion Glück hatte es Pournelle immer wieder geschafft, seinen Kopf aus der schon geknüpften Schlinge zu ziehen. Aber die letzte Razzia war das Signal gewesen, dass er den Bogen nicht überspannen durfte. Deshalb hatte er beschlossen, sein »Erspartes« zusammenzukratzen und alle Brücken hinter sich abzubrechen. Ein Vetter von ihm führte ein lukratives Immobiliengeschäft in Boston. Dort wollte Pournelle mit seinem Blutgeld als Teilhaber einsteigen. Er würde ...
Das Geräusch ließ ihn herumfahren.
Ein Schatten wuchs durch die offene Tür herein.
»Kid.« Pournelle gab einen erstickten Laut von sich, als er Jay Bonner erkannte. Mit einem Sprung war er dort, wo er die Flinte abgelegt hatte. Er riss sie an sich und legte auf den G-Man an, der zombiehaft auf ihn zutappte. Der Mantel des Mannes war gespickt mit dunklen Punkten, aus denen das Blut wie durch eine Lochmatrize quoll. Bonner schnaufte asthmatisch. In seiner Faust wackelte die Waffe, und ehe Pournelle wusste, wie ihm geschah, löste sich der Schuss aus dem dunklen Lauf.
Dass er selbst noch einmal abdrückte, war ein Reflex, der Bonner fast den linken Arm kostete. Doch im letzten Moment taumelte der G-Man zur Seite.
Fast zeitgleich mit dem Dealer stürzte er zu Boden.
Dort entwickelte er hektische Aktivität. Während das Blut in immer längeren Intervallen aus seinem Körper strömte, fischte er seine ID-Card aus der Tasche und klammerte sich daran fest, als würde sein Leben davon abhängen.
Es nützte nichts.
G-Man Jay Bonner starb fast zeitgleich mit seinem Mörder.
Als der zweite Schuss fiel, stürmten wir bereits in den Zuschauerraum. Beim ersten Knall waren wir gestartet.
Das Bild, das sich uns kurz darauf bot, war von jener blutrünstigen Sorte, mit der wir fast täglich zu tun hatten. Nur mit dem Unterschied, dass einer der Toten unser Kollege Jay Bonner war, den wir auf meine Initiative hin »beschattet« hatten.
Er war mir in letzter Zeit aufgefallen, weil es gesundheitlich mit ihm bergab zu gehen schien. Kürzlich war dann noch hinzugekommen, dass er Soloeinsätze startete, die schon an Lebensmüdigkeit grenzten.
Mr. McKee hatte mir eine Antwort auf die Frage, was wirklich los mit Bonner sei, verweigert. Diplomatisch, versteht sich. Er hatte aber auch nichts dagegen gehabt, dass wir ihm ein bisschen auf die Finger sahen. Ihn vor Übereifer und damit vor sich selbst schützten.
Wie es augenblicklich aussah, hatten wir versagt.
Eine kurze Prüfung bestätigte, dass Bonner tot war. Ebenso wie der andere Mann, der fast Kopf an Kopf mit ihm lag.
Auf was hatte er sich da wieder eingelassen?
»Sieh dir das an!«, lenkte Milo meine Aufmerksamkeit auf einen randvollen Geldkoffer. »Jay muss einer großen Sache auf der Spur gewesen sein.«
So sah es im ersten Moment wirklich aus.
Aber wer den Ort der Schießerei unvoreingenommen betrat, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier zwei Menschen aufeinander losgegangen waren, die sich kannten. Wäre Bonner nicht einer von uns gewesen ...
Ich kniete neben ihm und öffnete seine erstarrte Hand. Nicht die, die den Revolver hielt, sondern die andere.
»Was ist das?«, fragte Milo.
»Sein FBI-Ausweis.« Durch den Ärmel war Blut gesickert und hatte auch die in Plastik eingeschweißte Karte erreicht. Ich drehte sie um und entdeckte auf der Rückseite etwas, das dort nicht hingehörte. Der Besitzer hatte es jedoch so platziert, dass es im Todesfall eine hohe Wahrscheinlichkeit gab, entdeckt zu werden.
Ziemlich deprimiert erhob ich mich.
»Probleme?«, fragte mein Freund.
Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Keine Ahnung.«
Dann zeigte ich Milo den Aufkleber auf der Rückseite des Ausweises.
»Verdammt!«, fluchte Milo. »Was ist das? Gehört er einer Sekte an?«
Erneutes Schulterzucken.
Wir warteten noch das Eintreffen der Kollegen ab. Auch Doc Howard war informiert. Als er in verschneitem Hut und Mantel eintraf, zeigte ich ihm, was zuvor schon Milo zum Fluchen gebracht hatte.
»Wie sollen wir uns verhalten?«, fragte ich.
Er kniff die Augen zusammen und schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf. »Rufen Sie an«, sagte er. »Die Scharlatane werden sich ein Geschäft nicht entgehen lassen.«
Ich zögerte. »Ich habe nie von einem solchen Institut in Jersey City gehört ...«
»Ich schon«, meinte Howard brummig. »Aber ich hätte nicht geglaubt, dass ein G-Man darauf hereinfällt. Rufen Sie an. Wir werden sehen, was passiert.«
Ich nahm die Karte und ging mit Milo nach draußen, wo mein Sportwagen zwischen Schneegestöber parkte. Vor dem Theater hatte sich die übliche Menge Schaulustiger versammelt, die keine noch so späte Vorstellung ausließ.
Per Funk nahmen wir Kontakt mit unserer Telefonfee Linda Sanders auf. Sie vermittelte das Gespräch, um das ich sie bat.
»Trans-Time-Company«, meldete sich trotz der fortgeschrittenen Stunde eine sonore Frauenstimme wie von einem Automaten. »Was ist Ihr Problem?«
»Das haben Sie schön gefragt«, erwiderte ich, während ich Jays blutverschmierte Karte in den Fingern drehte. »Ich habe hier etwas, auf dem steht: ›Im Todesfall sofort diese Nummer anrufen. Trans Time - Ihr Schlüssel zur Zukunft.‹ Dann eine Registriernummer ...«
Ich schilderte kurz, was passiert war. Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde spröde. »Gewaltsame Tode werden von unserem Service nicht abgedeckt, tut uns leid. Aber das steht eindeutig in unseren Aufnahmebedingungen.«
»War Jay Bonner als Organspender bei Ihnen gemeldet?«, fragte ich.
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein ...«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Einfach so.
»Kann mir endlich mal jemand sagen, um was es eigentlich geht?«, beschwerte sich Milo. »Ich verstehe nur Bahnhof und Abfahrt. Was soll das für ein Institut sein - und was für ein ›Service nach dem Tode‹ ...?«
Ich wusste es selbst nicht genau. Wir stapften durch den Schnee zu Doc Howard zurück und teilten ihm das Ergebnis des Anrufs mit.
Sein Lächeln wurde wissend - als hätte er nichts anderes erwartet.
»Sie nehmen nur die Unversehrten, keine von Kugeln Durchlöcherten ... Das dachte ich mir schon. Ich schätze, Trans Time ist nichts anderes als ein etwas exklusiveres und aufwendigeres Bestattungsunternehmen - mit dem einzigen Unterschied, dass es seinen zahlungskräftigen Kunden vorgaukelt, ihnen auch nach dem Tod eine Chance auf ein künftiges Leben zu garantieren.«
Jetzt kapierten auch wir. »Eines dieser Tiefkühlunternehmen?«, fragte ich respektlos. Ich hatte davon in Illustrierten gelesen.
Howard nickte abfällig. »Die Dummen sterben nie aus. Die reichen Dummen am allerwenigsten.«
»Jay Bonner war bestimmt nicht reich«, widersprach ich.
»Das wundert mich auch.« Der Doc klang nicht, als sähe er seine These dadurch widerlegt.
Wir folgten seinem Blick zu dem offenen Koffer, in dem sich die Dollarbündel stapelten. Plötzlich hatte wohl jeder von uns ein ungutes Gefühl. Aber noch sprach niemand den Verdacht offen aus.