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Kapitel 10

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Als es dunkel wurde, und er statt den Himmel sich selbst in der Scheibe sah, griff er zum Telefon und rief Ann an. Jack hatte wieder einen Tag überlebt. Er trank weiter Whisky, der die Eigenart besaß, dass er länger gut schmeckte als er ihm gut tat. Obwohl er das wusste, ignorierte er es immer wieder. Und schon überfielen sie ihn, die Träume, besetzten sein Hirn, löschten alle anderen Bilder aus, so dass es nur noch diese Bilder, diese eine Erinnerung gab und sonst nichts mehr. Sein ganzes Leben war zu dieser einen Nacht zusammengeschmolzen.

Nach weiteren Gläsern sah er glasklar: Seine ganze Existenz war auf diesen einen Moment hin angelegt. Es war sein Schicksal, vorherbestimmt, von seiner Geburt an, nein noch früher... Die Scheidung von Kim, die Trennung von ihr und seiner Tochter Pam bekam plötzlich einen Sinn. Es hatte so kommen müssen, denn sonst wäre er womöglich gar nicht so spät nach Hause gegangen. Er hätte vom Pub aus ein Taxi genommen, denn Pam hätte sicher ein Tennisturnier gehabt, und er müsste am nächsten Morgen fit sein... Alles folgte einem Plan. Er goss nach. Der Plan Gottes. Ihn traf keine Schuld. Er war dazu bestimmt, weiterzuleben. Warum? Weil für ihn ein anderes Ende vorausbestimmt war. Was ihm noch bevorstand, wollte er sich nicht vorstellen.

Die Flasche war fast leer. Wie seltsam, dachte er, wenn ich einen größere Flasche gekauft hätte, hätte ich alles noch klarer sehen können, doch offenbar ist mir das nicht erlaubt, sonst hätte ich nicht die kleinere Flasche gekauft. Wie wunderbar, dachte er und fühlte sich aufgehoben in seinem ganz persönlichen, für ihn ausgewählten und vorbestimmten Schicksal.

Um drei Uhr wachte er schweißgebadet mit rasendem Herzen auf. Jetzt zahlte er den Preis für seine wunderbaren Erkenntnisse, die ihm nur noch wie billige Flunkereien vorkamen. Warum fiel er immer wieder auf den Whisky und seine bersteinfarbene Verheißung herein? Er war wieder dort gewesen, in der Straße, er hatte die Stimmen gehört, den Mond gesehen, die Wolke, die sich vor ihn schob und dann kam der Schuss und er zog, schoss zurück, hörte die Kugeln pfeifen und mit einem metallischen Klick aufs Pflaster prasseln, er wurde durchsiebt, und überall war Blut...

Wütend hievte er sich aus dem Sessel, humpelte mit den Krücken zur Balkontür und ging hinaus. Nirgendwo brannten Lichter. Niemand würde es bemerken, wenn er in dem Augenblick auf die Brüstung klettern und sich von dort oben hinabstürzen würde.

Am Morgen würde ihn jemand finden, unten, im kleinen, umzäunten Garten, neben dem Pool. Er atmete die feuchtkühle Luft ein und ließ seinen Blick über den pechschwarzen Fluss gleiten. Sein Leben war ein anderes geworden.

Shane musste beim Fernsehen eingeschlafen sein, denn warme Sonnenstrahlen weckten ihn, und er bemerkte, dass der Fernseher noch immer lief. Eine blonde Moderatorin verlas fremdsprachige Nachrichten. Er schaltete ab. Einen Augenblick glaubte er, dass er damit auch seine Bilder im Kopf abschalten würde. Doch sie wurden stattdessen wieder deutlicher, schärfer, farbiger und lauter. Jetzt hörte er die Schüsse, das dumpfe Fallen der Körper.

Telefonklingeln erlöste ihn aus dem Alptraum. Rasch blickte er sich um, er hatte das Telefon auf die Ladestation gelegt, die auf dem Regal zwischen Küche und Veranda stand. Er bückte sich, hob die Krücken vom Boden auf und wuchtete sich aus dem Sessel.

Detective Tamara Thompson meldete sich aus Adelaide, wo sie ihre Eltern besuchte. Hätte sie nur zwei Tage später Urlaub genommen, wäre sie auch auf Al Marlowes Party gewesen und vielleicht wäre sie mit ihnen durch die nächtlichen Straßen gegangen. Shane war sicher, dass ihr genau das durch den Kopf gegangen war.

„Kommst du zurecht?“, fragte sie schließlich mit belegter Stimme.

„So einigermaßen.“

„Aha. Und wer kümmert sich um dich?“

„Ich.“

„Und wo ist Eliza?“

Sie rührte an seinem wunden Punkt.

„Sie ist mit ihrer neuen Flamme auf den Fidschis.“ Er sagte es bitterer als beabsichtigt.. „Wie ist es in Adelaide?“, lenkte er ab.

„Langweilig.“

„Ich fehle dir, oder?“, versuchte er zu spaßen.

„Nein. So schlecht kann es dir nicht gehen, du bist immer noch ein Chauvi.“

Sie zögerte einen Moment. „Weiß man schon was über den Täter?“

„Der einzige Zeuge hat ihn nicht gesehen.“

„Der einzige Zeuge?“

„Ja, ich.“

„Sie werden ihn finden, Shane, bestimmt.“

„Ja.“

„Ach, Shane?“

„Ja?“

„Du hast doch nicht vor, auf eigene Faust...?“

„Wie kommst du darauf? Du kennst mich doch.“

„Eben drum.“

„Du hast mich in meinem augenblicklichen Zustand noch nicht gesehen, Tamara.“

„Shane?“

„Ja?“

„Ist dir klar, dass du in Gefahr sein könntest? Du bist der einzige Zeuge.“

Als er auflegte, fragte er sich, was mit Tamara los war. Sie redete doch sonst nicht so mit ihm. Stand sie unter Schock, weil sie auch bei den Toten hätte sein können?

Er humpelte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Während der Kaffee durchlief ging er ins Schlafzimmer, zog die Nachttischschublade auf, nahm die Walther, seine Ersatzwaffe, heraus. Seine Hand zuckte als sie das kalte Metall berührte. Er hatte sich nicht im Griff. Die Bilder der schrecklichen Nacht drängten sich auf, er konnte nichts dagegen tun. Er sah sie, auch wenn er die Augen schloss. Er hörte das Explodieren der Schüsse, er sah die toten Körper, Jacks Jacke, auf der liegend er wieder zu sich gekommen war. Er roch Jacks Rasierwasser. Nichts würde wieder normal sein. Shane schwitzte. Durchatmen, befahl er sich. Die Nerven behalten. Das Metall wurde warm und feucht. Er ließ das Magazin herausgleiten, kontrollierte es, schob es wieder zurück. Das Klacken dabei kannte er so gut, aber noch nie hatte ihn dabei ein Schauer überfallen. Schweiß tropfte ihm in die Augen und brannte. Jetzt nicht schlapp machen, nicht nachdenken. Er kleidete sich mühsam an, legte sein Schulterhalfter an, und steckte die Waffe hinein. Dann zog er. Er zog und zielte. Steckte die Waffe wieder zurück. Entspannte sich. Und zog und zielte. Das wieder holte er so lang, bis das Zittern fast verschwunden war. Dann zog er ein leichtes Jackett darüber und bestellte ein Taxi. Er musste zum Tatort, auch wenn er sich davor fürchtete.

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