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Kapitel 5

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Pünktlich um neun Uhr schob ihn die Krankenschwester, eine kräftige Frau mit kurzen Beinen, zurück in sein Zimmer, das er für eine Untersuchung hatte verlassen müssen. Sie warteten schon auf ihn. Fünf Gesichter sahen ihn an. Er kannte sie alle und eines hatte er gehofft, nie wieder sehen zu müssen.

„Guten Morgen, Shane!“, sagte Al.

Die anderen nickten. In U-Form hatten sie ihre Stühle gerückt, ganz rechts saß Maree, die Sekretärin, die ihm aus ihrem vollen Gesicht mit den roten Lippen zulächelte - sie hatte ihm eine besonders warmherzige Karte geschrieben - neben ihr der Psychologe Dr. Nelson Drury, ein schmächtiger Mann mit sanften braunen Augen und herabhängenden Mundwinkeln, die ihm etwas Leidendes verliehen, links von ihm saß Andrew Ward von der Drogenabteilung, Ende fünfzig mit sonnengegerbtem Gesicht und einem dichten Faltengitter auf der Stirn, in die trotz seines Alters noch haselnussbraunes, dichtes Haar fiel. Neben Andrew Ward saß der Mann, den er nie wieder hatte treffen wollen: Internal Affairs Officer Michael – Mick - Lanski.

Sein zum Kinn hin spitz zulaufendes Gesicht war seitdem Shane ihn das letzte Mal vor zwei oder drei Jahren gesehen hatte, schmaler geworden. Auch das dunkelblonde Haar wirkte lichter, war aber noch immer akkurat seitlich gescheitelt. Mick Lanski wirkte überarbeitet, seine Haut war blass, als käme er nicht vom Schreibtisch weg. Doch seine Augen, bemerkte Shane, waren unverändert wie damals: Grau und wach. Lanski hatte als einziger das Jackett anbehalten, die anderen trugen Halbärmelhemden und Maree ein ärmelloses Kleid.

„Shane“, ergriff Al das Wort, „wie du weißt, wird in solchen Fällen die Interne Abteilung eingeschaltet. Mick ist offiziell mit der Untersuchung betraut. Wir sind hier voll und ganz auf deine Hilfe angewiesen. Bitte, Shane, versuche dich zu erinnern und berichte uns den Ablauf des Abends.“

Shane sah sie alle der Reihe nach an. Maree nickte ihm zu. Nelson Drury hüstelte und Mick Lanski lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Shane dachte an Ann und das Baby, und er fragte sich, was es ändern würde, wenn man den Mörder fände. Aber er hatte eine Rechnung zu begleichen, und er begann er zu berichten. Versuchte die Dialoge so exakt wie möglich wiederzugeben und endete damit, wie er wieder zu sich gekommen war. Danach herrschte einen Moment Stille, dann räusperte sich Andrew Ward, fuhr sich mit einer Hand über die Mundwinkel als würde er seinen Schnauzer glatt streichen, den er seit ein paar Monaten, wie sich Shane erinnerte, nicht mehr hatte.

„In der Drogenabteilung hatten wir keinen Darren Martin im Visier. Wir überprüfen gerade unsere Informanten, aber auf einen John, der in Frage kommt, sind wir bisher noch nicht gestoßen.“ Er ließ die Hände auf die Schenkel fallen, eine Geste der Ratlosigkeit. Sonst war Andrew nicht so leicht zu entmutigen, dachte Shane. Mick Lanski hatte Shane die ganze Zeit mit ausdrucklosem Gesicht angesehen. Jetzt verzog er es zu einem schwachen Lächeln, gab seine Haltung auf und formte mit seinen Händen ein Dreieck.

„Shane, wir alle wissen, wie schrecklich dieses Erlebnis war, dennoch muss auch die unangenehme Wahrheit ausgesprochen werden.“

Worauf spielt dieser Mistkerl an?, dachte Shane und bemerkte auch in den Gesichtern der anderen Irritation. Lanski sprach weiter. Deutlich und gewöhnt, dass man ihm zuhörte.

„Fakt ist: ihr hattet alle ziemlich viel getrunken, nicht wahr?“

„Das sagte ich bereits.“ Shane versuchte, sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.

„Gut, das ist ja nicht verboten. Warum aber habt ihr euch dann in eine solche Gefahr begeben? Warum hat Jack den Polizisten gespielt?“

Jack, der ein Held sein wollte; Jack, der immer nach Anerkennung hungerte – nein, er würde seinen Partner nicht bloßstellen – und ganz sicher nicht vor Mick Lanski. Also sagt er:

„Er war immer Polizist, auch nach Dienstschluss.“

„Und was war an diesen Männern verdächtig? Ihre bloße Anwesenheit etwa?“ Mick Lanski musterte ihn.

„Ich weiß nicht, was Jack aufgefallen ist.“ Es kostete ihn große Mühe, so ruhig zu bleiben.

„Nun, inzwischen wissen wir“, schaltete sich Andrew Ward ein, „dass zumindest Darren Martin Drogen dabei hatte. Amphetamine: Ecstasy. Und zwar eine ganz beachtliche Menge. Straßenwert um die zwanzigtausend Dollar.“

Das waren etwa ein halbes Kilo Pillen, überschlug Shane.

„Das konnte Jack doch nicht wissen.“ Lanskis Augen blieben ungerührt.

Shane riss sich zusammen.

„Ich weiß es nicht, ich habe schon gesagt, dass ich nichts erkennen konnte, weil sie im Dunkeln standen.“

„Könnte es dann sein“, Lanski ließ seinen Blick über die Gesichter der anderen Zuhörer gleiten, „dass Jack einfach seine Aggressionen auslassen wollte? Alkohol macht aggressiv. Seine Frau erwartete das zweite Kind, es gab Stress, vielleicht wusste er, dass sie ihm Vorwürfe machen würde, weil er so spät nach Hause...?“

„Jack hat auch Verdächtige kontrolliert, wenn er nicht betrunken war!“

Lanski tippte die Fingerspitzen gegeneinander. Auf einmal hielt er in seiner Bewegung inne.

„Shane, wärst du stehen geblieben, wenn

du etwas Verdächtiges bemerkt hättest?“

„Vielleicht. Wer weiß?“

„Du wärst also stehen geblieben, obwohl du wusstest, dass du zuviel getrunken hattest und viel zu langsam reagieren würdest, wenn es darauf ankäme? Du würdest nicht sagen, dass Jack unverantwortlich gehandelt hat? Ihr habt ihn doch zum Weitergehen bewegen wollen. Aber er hat nicht gehört, sondern er hat leichtfertig sein und euer Leben aufs Spiel gesetzt!“

„Willst du Jack etwas anhängen? Er ist tot! Das scheinst du vergessen zu haben, Mick!“

„Moment!“, ging Nelson Drury dazwischen, „wir sollten die Angelegenheit nüchtern und sachlich erörtern.“

Lanski lächelte besänftigend.

„Selbstverständlich, Nelson. Shane, könnte es nicht auch sein, dass einer von euch zuerst geschossen hat, und der Mann sich wehren musste?“ Mick Lanski sah in die Runde. „Soweit ich informiert bin, konnte diese Frage, wer zuerst geschossen hat, von der Spurensicherung und der Pathologie bisher nicht ausreichend geklärt werden, nicht wahr?“

Jetzt konnte Shane seine Wut nicht mehr im Zaum halten.

„Ich kann beschwören, dass es der Mann war, der zuerst zur Waffe gegriffen und geschossen hat!“

„Shane!“ Lanski war ebenfalls lauter geworden, „darf ich dich erinnern, dass du gerade eben zugegeben hast – vorrausgesetzt, ich habe das richtig verstanden, die Männer da im Hauseingang gar nicht gesehen zu haben, oder? Du hast demnach nur eine Stimme gehört. Ist das korrekt?“

„Ja.“

„Nun, wie kannst du dann behaupten, du hättest genau gesehen, dass dieser Mann zuerst geschossen hat?“

„Mick!“ Al stand auf. „Es sollte hier klar sein, dass Shane nicht auf der Anklagebank sitzt!“

Andrew Ward und Maree nickten zustimmend. Mick drehte seinen Stift zwischen den Fingern.

„Al, das behauptet ja auch keiner“, sagte Mick aalglatt. „Es geht lediglich darum, den Tathergang genau zu rekonstruieren, um den Täter zu finden und um gewappnet zu sein, wenn die Öffentlichkeit genau diese Art von Fragen stellen wird. Und das wird sie mit Sicherheit.“

Al nickte. „Mick hat in dem Punkt Recht. Wenn es die Presse auf uns abgesehen hat, kann sie behaupten, wir hätten das Feuer auf harmlose Passanten eröffnet.“

Shane traute seinen Ohren nicht.

„So ein Bullshit! Harmlose Passanten, die eine Waffe haben und drei Polizisten erschießen!“

„Dass wir uns nicht falsch verstehen, Shane“, sagte Mick scharf, „nicht Al behauptet das, sondern eventuell die Presse. Es gab innerhalb der letzten sechs Monate drei Schießereien, in denen Polizisten jemanden getötet haben. Die Öffentlichkeit ist schnell dabei, wenn es darum geht, der Polizei das Etikett schießwütig zu verpassen.“

Al wandte sich Shane zu. „Du sagtest, Jack habe einen der Männer Harry genannt.“

Bevor Shane antworten konnte, sagte Lanski:

„Nun, das durfte ein Missverständnis gewesen sein. Wir haben seinen Bekanntenkreis durchkämmt. Da gibt es tatsächlich zwei Harrys, aber einer von ihnen ist dreiundachtzig und der andere ist nachweislich seit vier Wochen in Europa.“

„Jack hatte ein verdammt gutes Namens- und Personengedächtnis. Er irrte sich nur selten.“ Shane ließ sich nicht so schnell entmutigen.

„Shane“, begann Mick wieder, „es war dunkel und ihr wart alle betrunken. Unter diesen Umständen kann man sich doch mal täuschen?“

Shane warf ihm einen geringschätzigen Blick zu.

„So wie damals am Hafen? Ich hätte dein Versagen beinahe nicht überlebt!“

Abruptes Schweigen. Einen kurzen Moment lang sah Shane in den Augen von Lanski etwas aufblitzen – Wut?, Hass? -, aber es verschwand wieder, ehe Shane es benennen konnte.

Al hob die Hand.

„Shane, wir sollten hier alle persönlichen Dinge herauslassen... aber, ich denke, wenn auch Mick einverstanden ist, dass wir fürs Erste aufhören. Shane muss sich erholen. Und wir sind alle froh, dass wenigstens er überlebt hat.“

„Diesen Umstand sollten wir auch nicht vergessen.“ Das kam von Mick Lanski. Shane starrte ihn an.

„Was willst du damit sagen, Mick?“

„Ja, Mick“, Al legte die Stirn in Falten, „was willst...“

„Nun, natürlich sind wir alle froh, dass wenigstens ein Kollege überlebt hat. Aber“, Lanski machte eine kurze Pause.

In der sekundendauernde Stille wagte niemand etwas zu sagen, bis Mick in einem merkwürdigen Ton sagte:

„Vielleicht war es ja gar kein Glück. Vielleicht wollte er, dass nur du überlebst, Shane.“

Shane brauchte einen Moment, um zu begreifen, was Lanski meinte.

„Willst du etwa behaupten, ich hätte etwas mit den Morden zu tun?“

„Mick, das kannst du doch nicht...“, sagte Al, doch Lanski schien ihn nicht zu hören.

„Ich behaupte gar nichts. Ich bitte euch nur zu bedenken, dass nicht immer alles so ist, wie es scheint.“ Jäh erhob sich Lanski, sagte noch etwas, das sich wie Auf Wiedersehen anhörte und ging hinaus. Die anderen sahen ihm sprachlos nach.

„Ich will, dass ihr jetzt alle geht“, sagte Shane. Er konnte nicht mehr. Die Wut und das Gefühl, ohnmächtig zu sein, machten ihn fertig. Beim Hinausgehen legte Al Shane die Hand auf die Schulter, sah ihn an, wollte vielleicht etwas Aufmunterndes sagen, doch dann ging er nur mit einem Kopfnicken.

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