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Kapitel 11

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Der Taxifahrer, ein gedrungener Mann mit stark behaarten Beinen hielt ihm die Beifahrertür auf, während er sich behutsam, als wäre sein ganzer Körper ein rohes Ei, das beim geringsten Widerstand platzen und auslaufen könnte, auf dem Beifahrersitz niederließ.

„Geben Sie die Dinger her“, sagte der Taxifahrer und zeigte auf die Krücken.

Erleichtert gab Shane sie ihm, er hatte vorher nie am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, im Alltag auf Hilfe angewiesen zu sein. Der Fahrer verstaute sie im Kofferraum.

„Wohin soll’s gehen?“

„Gordon Street.“

Der Fahrer warf Shane einen Blick zu. „Dort war letzte Woche eine Schießerei. Haben Sie davon gehört?“

„Nein.“ Shane wollte nicht wie eine Sensation auf dem Jahrmarkt angestarrt, bewundert oder bedauert werden. Seine knappe Antwort ermutigte den Taxifahrer nicht zu weiteren Fragen und er drehte das Radio auf und fuhr schweigend los. Der Sprecher kündigte für den Nachmittag Sturm und Gewitter an. Die ersten Vorzeichen konnte Shane schon am Himmel sehen. Weiße Wolkenberge warteten am Horizont, und der Wind hatte die Oberfläche des Flusses, an dem sie eben entlang fuhren, aufgeraut, dass sie aussah wie ein Waschbrett.

Als der Wagen nach einer viertel Stunde an der Ampel nach links in die Gordon Street einbog, verlangsamte der Fahrer das Tempo. Obwohl im Tageslicht alles anders aussah, konnte sich Shane doch erinnern, wie sie an dieser Ecke in die Straße gingen. Die Stelle, an der es geschehen war, lag höchstens hundert Meter weiter.

„Halten Sie hier.“

„Hier?“ Der Fahrer warf ihm einen skeptischen Blick zu und fuhr an den Bordstein. Shane zahlte und nahm seine Krücken in Empfang, der Wagen drehte und bog bei der schon auf Rot umgesprungenen Ampel ab. Der Taxifahrer hatte es anscheinend sehr eilig, wegzukommen.

Shane sah die Straße hinauf. Wie anders hatte er den Anblick in seinem Gedächtnis gespeichert. Jedes Mal, wenn er sich den Abend in Erinnerung rief, war die Straße dunkler und enger geworden. Die Fassaden waren allesamt grau oder dunkelbraun, schroff und hoch, so hoch, dass sie bedrohlich wankten, zusammen zu stürzen und die Straße unter sich zu begraben drohten. Doch nichts davon entsprach dem Bild, das sich ihm jetzt bot. Die Wolken waren noch in weiter Ferne, die Sonne schien von einem blauen Himmel und ließ die Häuser der einen Straßenseite in freundlichen Farben leuchten. Die andere Seite war in kühlen Schatten getaucht, der jedoch keineswegs beängstigend wirkte. So heruntergekommen, wie er geglaubt hatte, waren die Häuser gar nicht. Manche hätten einen neuen Anstrich vertragen, aber sie machten nicht den Eindruck, vernachlässigt oder baufällig zu sein. Die meisten Gebäude waren dreigeschossige Flachbauten, Büro- und Wohnhäuser, vor denen Häuser parkten.

Shane humpelte langsam, auf seinen Krücken gestützt, voran. Neben einer Haustür waren untereinander drei Schilder angebracht, auf denen er die Namen von las. Ein Import-Export-Büro, ein Schreibbüro, eine Psychotherapie-Praxis. Am nächsten Haus hing das Schild eines Arztes für Chiropraktik, auf dem die Sprechzeiten genannt wurden. Dann folgte in einem Haus mit dunkelviolettem Anstrich ein Musikstudio. Auf der anderen Straßenseite konnte er ebenfalls solche Firmenschilder erkennen. Der Hauseingang, an dem es geschehen war, lag nur noch zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Mit jedem Schritt, den er näher kam, wurde er langsamer, als ob sich seine Beine weigerten, ihn dorthin zu bringen. Immer schwerer fiel ihm das Abstützen auf die Krücken, seine Oberarme, an denen die Krücken rieben, schmerzten, und die Wunde in seinem Bein pochte. Wie heiß es doch war. Aus jeder Pore seiner Haut trat Schweiß. Kehle, Mund, waren ausgetrocknet und die Handflächen so nass, dass sie auf den Griffen der Krücken abrutschten. Schritt für Schritt, Meter für Meter kämpfte er sich vorwärts, gegen den Willen seines Körpers und gegen die Angst, die Begegnung nicht aushalten zu können. Aber er musste weiter. Er hatte es sich vorgenommen. Nur so könnte er sich vielleicht an etwas erinnern, das ihm helfen könnte, den Mörder zu finden. Also hinkte er weiter, setzte erst die Krücken auf, zog dann die Beine nach, hielt das verletzte Bein leicht angewinkelt, dass es nicht auftreten würde. Wie ein Kriegsheimkehrer fühlte er sich, ein Invalider, der nach Hause zurückkam, mit den Bildern vom Krieg im Kopf und den Erinnerungen, wie es zu Hause gewesen war. Hier war das Schaufenster des Internetshops. Zu viert waren sie nebeneinander hergegangen. Der Bürgersteig war breit. Noch drei, vier Schritte. Hier hatte Jack etwas gesehen. Was? Aufglimmende Zigaretten? Hatte die Spurensicherung dort etwas gefunden? Vielleicht war Jack durch die Zigaretten aufmerksam geworden? Er sah zu dem nach hinten versetzten Hauseingang. Hinkte näher. Genau hier hatte ihn die Kugel erwischt. Auf dem Asphalt konnte er noch Kreidespuren erkennen, verwischte Umrisse liegender Körper. Das da war Jack, dachte er, und das, das war ich...

Er hob den Kopf und entdeckte zwei vertrocknete rote Rosen neben den beiden Stufen vor dem Eingang, und er dachte an Ann und an die Frau von Evans und die Freundin von Hawking, die ihn heiraten wollte. Wenn der Schütze dreißig Zentimeter höher gezielt hätte, hätte sein Leben auch hier geendet, hier, in dieser ruhigen Bürostraße, die so friedlich und harmlos wirkte. Oft strahlten Orte, an denen ein Unglück geschehen war, danach eine besondere Stille und Ruhe aus, das machte sie noch erschreckender.

Ein paar Mal atmete er tief durch, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und ging langsam auf den Eingang zu. Am grauen Verputz der Fassade bemerkte er zwei längliche Tafeln aus weißem Kunststoff. Er ging noch ein wenig näher, bis er die Aufschrift lesen konnte. Dr. P.M. Fleer, Rechtsanwalt stand auf dem unteren und darüber: Artconcept – Agentur für Kunst.

Am Eingang befanden sich neben den Klingelknöpfen auf verkratzten Metallverblendung zwei weitere Namenschilder. Hatten die beiden Männer mit einem von den Bewohnern zu tun? Waren sie alle überprüft worden? Natürlich, dachte er, sicher hatte man alle Bewohner der Straße befragt, schließlich war jeder Kollege versessen darauf, den Mörder zu finden. Da ließ man keine auch noch so unbedeutend erscheinende Spur außer Acht. Umständlich und auf die Krücken gestützt zog er sein Notizbuch aus der Hosentasche und schrieb alle Namen auf. Dann sah er von dort zur Straße. Diesen Blickwinkel mussten die beiden Männer gehabt haben. Warum hatte einer von ihnen geschossen? Was war der Auslöser gewesen? Jacks Aufforderung, die Papiere zu zeigen? Hatte er keine, hielt er sich illegal auf? Oder war er einfach bei der Erscheinung von Polizei durchgedreht? Traumatisiert? Hatte er unter Drogen gestanden? Er wollte gerade gehen, als ein Streifenwagen vorbeirollte. Der Fahrer hatte das Fenster heruntergelassen und lässig den Ellbogen auf den Türrahmen gelegt. Als er Shane sah, hielt er an.

„Detective O’Connor?“

„Ja?“ Er kannte den Polizisten nicht.

Sofort stieg der Beifahrer aus, einer der Bulligen mit Kurzhaarschnitt.

„Constable McDermid“, stellte er sich vor. „Furchtbare Sache.“ Er ließ seinen Blick zum Hauseingang schweifen. Einen Moment zögerte er, vielleicht, weil er nicht wusste, wie er einem gerade noch Davongekommenen zu begegnen hatte, oder weil er sich fragte, ob seine Frau auch eine Blume hingelegt hätte, wenn er dort gestorben wäre.

„Kennen Sie sich hier aus?“ Shane erlöste den Kollegen aus seinen düsteren Betrachtungen.

McDermid wirkte tatsächlich erleichtert.

„Schon. Können Sie sich denn wirklich nicht erinnern, wie er ausgesehen hat?“

„Es war Nacht, Constable“, sagte Shane mit einem Anflug von Gereiztheit.

Der junge Kollege nickte rasch.

„Können wir Sie mitnehmen?“

Jetzt erst dachte Shane daran, wie mühsam es wäre, hier ein Taxi zu finden. „Gute Idee.“

McDermid überließ ihm den Beifahrersitz und setzte sich nach hinten.

„Wohin kann man von hier aus flüchten?“, fragte Shane, die Krücken neben sich.

Der Fahrer, ein Rothaariger mit quadratischem, massigem Schädel sah hinüber zu dem Haus.

„Wenn er hier wohnt oder jemanden kennt, kann er in einer Wohnung verschwinden, in einem Hauseingang, oder er rennt einfach die Straße runter zu Kreuzung und springt in ein Taxi oder in seinen Wagen, den er dort geparkt hat. Um diese Uhrzeit hatten die beiden Pubs in der Straße geschlossen, also da konnte er nicht untertauchen.“

„Er könnte auch durch eine Einfahrt zwischen den Häusern hier auf die dahinterliegende Straße abgehauen sein“, sagte McDermid vom Rücksitz. „Vielleicht hat er da sein Auto geparkt, wenn er es nicht hier abgestellt hatte. Wie lange hatte er den Zeit gehabt, um zu verschwinden?“

„Keine Ahnung“, sagte Shane, „ich kann aber nicht lange bewusstlos gewesen sein. Sicher nur ein paar Sekunden.“

Eine Weile starrten sie alle drei auf das Gebäude, in das niemand hinein ging und aus dem niemand herauskam. Dann fragte der Fahrer: „Wollen Sie nach Hause?“

Shane überlegte kurz. „Nein, zum Headquarters.“

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