Читать книгу Undercover - Manuela Martini - Страница 8
Kapitel 4
Оглавление„Wie geht’s Ihnen, Shane?“, fragte der Arzt.
Eine Frage aus dem Nichts aufgetaucht wie der Mensch, der sie stellte. Vielleicht hatte er es nur geträumt? Die aufgerissenen Augen. Die dunklen Flecken.
Der Arzt lächelte gezwungen, eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn, er schob sie zurück, lächelte immer noch.
„In ein paar Tagen können Sie auf Krücken gehen. Sie haben Glück gehabt, dass die Kugel nicht den Knochen oder gar die Arterie Ihres Oberschenkels durchschlagen hat.“ Das Lächeln verschwand, die hohe, glatte Stirn des Arztes durchzogen Falten. „Sie haben großes Glück gehabt, Shane.“
„Warum?“, hörte Shane seine eigene Stimme. Sie klang schwach und fremd.
Der Arzt holte tief Luft und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
„Ein Kollege wird Ihnen erklären...“, begann der Arzt.
„Hören Sie auf, mit diesem Scheiß, Doc!“, fuhr Shane hoch. „Sagen Sie mir die Wahrheit! Haben sie überlebt? Haben meine Kollegen überlebt?“ Er hatte geschrien.
„Ich schicke jemanden...“ hörte er noch den Arzt sagen, dann versickerte die Stimme irgendwo in einer lautlosen Dunkelheit.
Sie waren alle tot. Jack lebte nicht mehr. Jack, mit dem er nächtelang über Fälle gegrübelt, Verdächtige vernommen, Protokolle verfasst, Meetings durchgestanden hatte. Evans, der junge, immer gutgelaunte Kollege von der Fingerabdruckabteilung. Hawking, der nach Weihnachten heiraten wollte. Shane schloss die Augen und wollte sie nicht mehr aufmachen müssen.
Der erste, der ihn besuchte, war Pater Timothy, der Seelsorger. Ein Mann, der mit seiner großen, stämmigen Statur und seinen ruhigen, sparsamen Bewegungen Zuversicht und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte. Der Pater hatte sich einen Stuhl ans Bett geschoben, und redete doch Shane sah zum Fenster hinaus. Das obere Drittel war graublau. Den Mittelgrund füllte eine gelbliche Hauswand aus, und den Vordergrund beherrschte eine lichte Baumkrone. Es war Sommer, und kurz vor Weihnachten. Kim, seine Exfrau heiratete wieder. Er wollte nicht mehr da hinaus. Nie mehr.
„Shane, Sie dürfen nicht verzweifeln...“
„Pater“, fiel Shane ihm irgendwann müde in seine Ausführungen, „ich bitte Sie um eins: Gehen Sie.“
Der Pater verstummte und sah ihn nur mitfühlend an. „Wenn Sie mich brauchen, dann sagen Sie Bescheid.“
Die Tür fiel ins Schloss. Shane starrte an die weiße Wand vor sich.
Ein paar Wochen zuvor sitzt er mit Jack im Auto. Die Scheibenwischer schieben die Regentropfen weg, die Neonlichter der Läden und die Scheinwerfer der Autos leuchten bunt in der schwarzen Nacht. Jack redet von Gott, weil er sich seit einiger Zeit mit der Bibel beschäftigt. „Man braucht etwas, woran man glauben kann“, hat er Shane erklärt.
„Kain erschlug seinen Bruder“, er hält an einer Ampel, „weil Gott dessen Opfer mehr beachtete als Kains. Was will uns Gott damit sagen?“
Shane ist müde und antwortet nicht.
„Er will uns sagen: Seht her, ihr seid NICHT alle gleich und manche von euch schätze ich mehr als andere. Ich bin nicht gerecht! Gott ist willkürlich. Das ist die Wahrheit. Und wir sind seiner Willkür ausgeliefert.“
Na und, denkt Shane, ob Gott oder das Schicksal willkürlich ist, ist letztlich egal, doch er sagt es nicht, weil Jack sowieso schon einen roten Kopf vor Erregung hat, und weil Shane weiß, dass solche Gespräche zu nichts führen.
„Er ist ungerecht und grausam“, redet Jack weiter, „weil wir uns vom Teufel haben verführen lassen, der Schlange im Paradies. An diesem Apfelbissen – es soll ja eine Feige gewesen sein – haben wir immer noch zu kauen.“
Shane deutet auf die längst grüne Ampel.
„Soll ich dir was verraten, Shane“, sagt Jack ohne auf die Ampel zu achten, „Gott hasst uns. Gott hasst seine eigenen Geschöpfe und damit sich selbst. Er ist gescheitert und konnte es nicht zugeben. Warum hat er denn nach der Sintflut nicht noch mal ganz von vorn angefangen? Warum hat er sein Werk doch hinüberretten müssen? Ich sage dir, er ist inkonsequent und eitel. Er hätte alles ersaufen lassen sollen. Alles! Und wir müssen nun seinen Hass auf sich ertragen. Tag für Tag. Generation für Generation. Er hat seine Schuld auf uns abgeladen.“
Shane schluckte die Schmerztabletten, die auf seinem Nachttisch lagen.
Nach Pater Timothy besuchte ihn Detective Sergeant Al Marlowe, der Koordinator der Mordkommission. Marlowes Gesicht war grau und zerknittert. Er, sonst laut und polternd wirkte gebückt und kraftlos. „Mann Shane“, sagte er leise und schüttelte den Kopf, „ich weiß nicht, was ich ...“ Dann wendete er sein Gesicht ab.
Al Marlowes Geburtstagsparty im Pub:
Alle Kollegen waren ausgelassen. Sie hockten an der Bar.
„Ich kann kaum glauben, dass unser Geburtstagskind zu Hause so miesepetrig sein soll!“, erinnerte sich Shane, gesagt zu haben.
„Würde ich von dir auch nicht glauben!“ Jack hatte schon eine schwere Zunge. Seine Augen, die in dem runden Gesicht mit der blanken Glatze während des langen Abends immer schmaler geworden waren, glänzten bierselig. Evans und Hawking, die beiden Detectives aus der Fingerabdruckabteilung grinsten. Plötzlich wurde Jack ernst.
„Wisst Ihr, was wir alle gemeinsam haben? Jeder Polizist will ein Held sein.“
Hawking schüttelte den Kopf.
„Also, ich will kein Held sein. Helden sterben zu früh.“
Irgendwann sahen der Wirt und die Bedienungen übermüdet aus und die Bewegungen, mit denen sie Gläser abtrockneten, waren schwerfälliger geworden. Die Luft nur noch Teer und Nikotin, saurer Atem und Schweiß. Auf dem hölzernen Boden standen dunkle Bierpfützen. Und die Musik war längst verstummt.
Jemand stießt die Tür auf.
Jetzt sah Shane es wieder vor sich: Auf dem ausgedehnten, kaum beleuchteten Parkplatz standen nur noch drei Autos. Die meisten der Kollegen hatten sich von ihren Frauen bringen lassen oder gleich ein Taxi genommen.
Al und ein kleine Gruppe Kollegen torkelten aus dem Eingang und Al bot ihnen an, im Taxi mitzufahren.
Ein orangefarbenes Taxi rollte fast lautlos aus der Dunkelheit heran und hielt direkt vor Al. „Ich sollte vielleicht mit euch kommen, ein bisschen Luft könnte mir auch nichts schaden.“
„Quatsch, Al“, jemand neben ihm riss den Schlag auf, „das Geburtstagskind fährt jetzt heim.“
Shane erinnerte sich, wie Al ergebend die Schultern gezuckt und beim Einsteigen gesagt hatte:
„Jungs, diese Party werd’ ich mein Leben nicht vergessen!“
Der Kollege warf die Tür zu, zwei andere stiegen hinten ein, dann fuhr der Wagen davon. Gleichzeitig bogen drei weitere Taxen auf den Parkplatz ein, die Männer stiegen ein, Türen schlugen zu, die Taxen fuhren weg.
Am Pub war das Neonschild erloschen. Sie waren nur noch zu viert. Vor ihnen lag schwarz der geteerte Parkplatz, über den wie ein Schleier das schwache Licht einer einzelnen Laterne fiel.
„Also, kommt ihr jetzt?“, hatte Hawking gesagt. Und dann waren sie losgegangen...
Unter Al Marlowes Augen hingen schwere Tränensäcke. Warum war er nicht einfach zu Hause geblieben?, dachte Shane.
Al schob sich langsam einen Stuhl ans Bett und setzte sich.
„Mein Gott, ich hab’ mir die ganze Zeit überlegt, was ich sagen soll...und jetzt...“ Er stützte sein Gesicht in die Hände, und als er wieder aufblickte, waren seine Augen feucht. „Ich kann es einfach nicht begreifen. Jack, Evans Hawking – und einer der Männer im Hausflur...“
Sie starrten ins Leere und schwiegen.
„Ein paar Stunden, nachdem Ann es erfahren hat, kam das Baby“, sagte Al.
Jacks Kind. Ann war im achten Monat gewesen, Shane wollte nicht daran denken.
„Du weißt ja, wie die Ärzte sind, Shane... sagen nie direkt, was Sache ist. Sie wissen nicht, ob es durchkommt.“ Al hob die breiten Schultern in seinem abgetragenen, unmodern gemusterten Jackett. „Ann ist hier, oben auf der Gynäkologie. Wenn du hier aus dem Bett kannst, dann...“
„Wie kommst du auf einen so idiotischen Gedanken, Al! Sie muss mich hassen!“
Al sah ihn an. Shane fand, dass dessen schiefes Gesicht noch asymmetrischer war als sonst. Die tiefen Falten um die Mundwinkel gruben sich scharf ins Fleisch, und verliehen ihm mit der groben Nase einen brutalen Ausdruck.
„Shane, du bist der Letzte, der Jack erlebt hat. Vielleicht kannst du ihr Jacks letzte Worte mitteilen, oder worüber ihr am Abend gesprochen habt. Shane“, sagte Al und beugte sich vor, „ihr wart jahrelang Partner. Du hast wahrscheinlich mehr Zeit mit ihm verbracht, als Ann.“
Ja, damit hatte er sicher recht. Trotzdem, er könnte Ann nicht in die Augen sehen. Warum er, und nicht du, würde sie denken, ganz sicher, und er könnte es ihr noch nicht einmal übel nehmen.
„Ich weiß nicht mehr, worüber wir an dem Abend gesprochen haben. Wir waren besoffen“, sagte er.
Al fuhr sich mit seinen mächtigen Händen übersm Gesicht.
„Denk’ drüber nach, Shane, ich glaube, sie braucht dich.“
Shane spürte, wie ein kalter Schatten über ihn kroch. Wieder sprachen sie eine Weile nichts, bis Shane die einzige Frage stellte, die noch für ihn von Belang war.
„Al, sag’ mir: Warum ich? Wer braucht mich? Meine Exfrau heiratet in zwei Wochen einen großzügigen Mann, meine Tochter ist fast erwachsen, ich habe weder Hund noch Katze, auch keinen Papagei oder Kanarienvogel, keine Maus und keine weiße Ratte, nichts, nur eine trinkende Nachbarin, die mich vielleicht die erste Woche vermissen würde, also, sag’ mir verdammt noch mal, warum gerade ich? Warum habe ich überlebt?“
Al blickte auf den Boden.
„Ich wäre beinahe mit euch gegangen, doch da hat mich einer ins Taxi geschoben.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Ich weiß es nicht, Shane, aber, egal, ob du an einen Gott glaubst oder nicht, ich aber bin der Überzeugung, dass es irgendeinen Sinn gibt. Jeden Tag kann es einen erwischen. Wir vergessen das nur.“
So hatte Shane ihn noch nie reden hören. Normalerweise klopfte er einem auf die Schulter und sagte das wird schon wieder.
Al richtete sich auf.
„Shane, sie warten alle darauf, diesen verdammten Hund zu jagen!“ Seine Stimme klang fast wieder fest wie sonst. „Wir brauchen eine Beschreibung, einen Anhaltspunkt, ein Detail, irgendwas!“
Wie sehr hatte sich Shane schon damit gequält.
„Al, ich hab’ ihn nicht gesehen, er stand im Dunkeln. Aber Jack muss ihn gekannt haben, oder zumindest glaubte Jack das. Jack sagte etwas wie: Mensch, das ist doch Harry...“
Marlowe zog die Augenbrauen zusammen. Er ging im Zimmer auf und ab, einen Meter zum Fenster, zwei Meter zur Tür. Dann drehte er sich um und sah Shane direkt in die Augen.
„Der Tote im Hauseingang jedenfalls ist identifiziert. Er heißt Darren Martin, arbeitete in einem Catering-Service, oben an der Sunshine-Coast. Achtundzwanzig, ohne Familie, ohne Angehörige. Er hatte Drogen bei sich. Amphetamine. Ecstasy.“
Sie waren in einen Drogendeal geplatzt. In einen verdammten Drogendeal! Und deshalb hatten seine Kollegen sterben müssen!
„Habt ihr nach einem Harry gesucht? Dieser Harry hat geschossen! Und Jack kannte ihn!“ Ein scharfer Schmerz durchfuhr Shane. Er hatte sich in der Aufregung aufgerichtet, doch gleich ließ er sich wieder ins Kissen zurückfallen. In Al Marlowes Stirn gruben sich die Falten noch tiefer.
„Wir haben übrigens bereits Darren Martins Apartment in Maroochydore untersucht. Leer. Nur Möbel, Wäsche, Geschirr. Absolut nichts Persönliches. Da war jemand schneller als wir.“
Al warf er einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr und räusperte sich.
„Shane, was ich dir noch sagen wollte... Man wird dich zu einer Anhörung laden. Reine Routine, du weißt ja, sie wollen dann alles noch mal wissen.“
„Wann?“
„Morgen früh um neun.“
Shane sagte es sich immer wieder nachdem Al gegangen war, dass es Routine war, dass man natürlich so schnell wie möglich über alle Einzelheiten des Falls informiert sein musste. Dennoch war er nervös. Sie verlangten von ihm, sich zu erinnern, den genauen Ablauf zu schildern, den Täter zu beschreiben, Größe, Haarfarbe, Kleidung – und er würde ihnen das alles nicht geben können. Sein Blick fiel auf den Kartenstapel mit Genesungswünschen seiner Kollegen. Sie alle warteten ungeduldig darauf, den Mörder zu jagen. Harry. Ein verdammter Harry.
Und wer war Darren Martin?
In der Nacht dachte er an seine Kindheit. Wie sehr hatte er seinen Vater bewundert. Wenn er abends heimkam und von seinen Erlebnissen erzählte, waren das Abenteuer, die er auch erleben wollte. Natürlich wollte er auch Polizist werden. Ein Polizist war ein Held. Das hatte Jack auch gesagt. War Jack ein Held, weil er sich von dem Typen nicht hatte einschüchtern lassen – oder weil er im Kampf gestorben war? Bin ich ein Held, weil ich überlebt habe, oder bin ich gerade deshalb keiner? Bin ich Polizist geworden, weil ich ein Held sein wollte, oder weil ich so sein wollte, wie mein Vater?
Wenn mein Vater Verbrecher gewesen wäre, wäre ich dann auch Verbrecher geworden? Er starrte in die Dunkelheit und dachte an Anns und Jacks kleinen Sohn, der ums Überleben kämpfte. Warum?
Die verdammten Methamphetamine! Zuerst, wenn man sie rauchte oder injizierte erlebte man den Flash, doch das dauerte nur wenige Minuten. Dann folgte das High, das auch noch okay war und sechs bis acht Stunden anhielt, doch dann kam unausweichlich das niederschmetternde Low, die Depression, die man dann wieder mit neuem Stoff überwand. Nahm man Tabletten oder schnupfte man das Zeug, erlebte man zwar dasselbe High aber nicht den intensiven Rush.
Man nahm es, weil man wach sein musste. Oder man wollte die sexuelle Lust und Aktivität steigern, die ganze Nacht feiern, im Büro ausdauernder als die Kollegen sein, länger hinterm Steuer sitzen, andere wollten ihre Depression loswerden oder AIDS-Kranke ihre krankheitsbedingte Müdigkeit. Manche wiederum wollten einfach Gewicht verlieren. Wie oft hatte er das alles schon gehört und miterlebt! Und dann wurden sie abhängig von diesem Rush und dem High. Der Crash musste unbedingt hinausgeschoben werden. Dieser Zustand, in dem man extrem irritierbar und paranoid war. Langsam aber sicher zerstörte man seinen Körper, sein Zentrales Nervensystem, sein Gehirn.
Warum waren sie nicht einfach an diesem verfluchten Hauseingang weitergegangen!