Читать книгу Menschen und andere Tiere - Mara-Daria Cojocaru - Страница 10

1.2Warum ich lieber keine Veganerin wäre: Ein Versuch über Massentierhaltung

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Ich erinnere mich nicht mehr an das Wetter, nicht mehr an das genaue Datum; es muss ein Samstag gewesen sein. Ich erinnere mich nur noch ungefähr daran, wie alt ich gewesen bin, Teenager eben, aber was ich damals verstanden habe, das ist mir heute noch klar: Wir lieben die einen Tiere und töten die anderen – und das ist ein Problem. Und dabei meine ich mit „die einen Tiere“ nicht Pferde oder Hunde und mit „die anderen“ Schweine oder Hühner. Damals meinte ich „die einen Pferde“ und „die anderen Pferde“. Heute meine ich die einen Tiere – Menschen – und alle anderen. Aber ich greife voraus.

Zurück zu besagtem Samstag, irgendwann Anfang der 1990er-Jahre. Es geht auf 12 Uhr zu, der Pferdemarkt ist bald vorbei. Ich bin ein „Pferdemädchen“, habe mein Taschengeld für Huffett, Bürsten und Leckerli ausgegeben und komme in einer Ecke neben einem Kaltblut zu stehen. Auf seinem Rücken steht eine Zahl in blauer Kreide. Das ist sein Schlachtgewicht. Der Pferdemarkt findet im Schlachthof statt und in dem Moment wird mir zum ersten Mal die Bedeutung dieses Wortes klar und mir wird klar, dass die Pferde, die hier keinen neuen Käufer finden oder wieder mitgenommen werden, getötet werden. Diese Erkenntnis trifft mich nicht wie ein Schlag, sondern sie nistet sich hintergründig in meinem Kopf ein. Es ist zunächst ein Gefühl der Irritation, dann eine Ahnung, dass ich schon weiß, aber nicht wissen will. Das Pferd guckt mich nicht an. Ich gucke es an, gucke es weiter an, versuche zu verstehen, auch, ob ich verstehen will. Anders als bei meinem Patenpferd in einem Münchner Reitstall und ausnahmslos all seinen Kolleg*innen kenne ich seinen Namen nicht. Aber ich sehe keinen Unterschied, sehe nicht, warum es nicht in einer dieser Boxen stehen könnte, mit seinem genauso weichen Maul am Heu zupfen, mit seinem genauso langen Schweif die Fliegen vertreiben und mit genauso viel und manchmal genauso herzlich wenig Elan den Wünschen kleiner und großer Mädchen und von ein paar Jungs entspräche, die es füttern, putzen, streicheln, reiten, ausführen und anhimmeln wollen. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich von dieser Erfahrung ausgehend generalisiert habe. Schlimmere Bilder als dieses hat es jedenfalls nicht mehr gebraucht. Ich hatte den Entschluss gefasst, kein Fleisch mehr zu essen, und die einzigen Male, die ich dann noch am Schlachthof war, bin ich mit meiner besten Freundin dort gewesen, um zu gucken, ob wir nicht ein Pferd oder eine Kuh rausholen könnten. Das hat nie geklappt.

Der Gefühlsmix aus Scham, bislang so dumm gewesen zu sein, das nicht zu sehen, und aus Verzweiflung, gepaart mit dem Impuls, da jetzt aber schnell etwas machen zu müssen, führten mich in den jugendlichen Fleischverzicht und in so etwas wie Aktivismus. Mit meinen 13 Jahren – oder wie alt ich eben gewesen bin – war ich voller Hoffnung, Entschlossenheit, Beseeltheit und Aufklärung, auch wenn sich mein Mahnen und meine Proteste auf Familie und Freund*innen beschränkten.

Natürlich wollte ich die, die mir nahestehen, davor bewahren, solch eine Ungerechtigkeit zu begehen. Es ging also nicht nur um die Tiere, sondern auch um die Leute, Familie, Freund*innen, die man ja als bessere Menschen sehen will. Davon zeugt der noch heute traurige, faule Schmerz, wenn ich daran denke, wie mein kluger, integerer Vater sich das Fleisch trotz allem schmecken ließ, ja, sogar Witze machte über mich und meinen Verzicht. Aus der Sorge um mein soziales Umfeld, in dem sich meine moralische Erkenntnis bewähren musste, entwickelte ich, wie so viele andere auch, unendliche Möglichkeiten, auf den gedankenlosen Fleischkonsum der anderen zu reagieren: verständnisvoll („Ja, klar muss es schmecken, aber probiere doch mal x?“), neckend („Oh, Fleisch-Salat!“), kritisch („Schon wieder Fleisch!“) oder sauer („Ihr versteht mich nicht …“). Ich glaube, in unseren Breitengraden hat jede*r schon einmal an einem Tisch gesessen, wo es um das Thema Fleisch ging, war dabei auf der ein oder anderen Seite und kann den Eindruck teilen: Das Miteinander stockt irgendwann. Auch wenn es manchmal so scheinen mag – Essen ist eben keine individuelle Angelegenheit, sondern eine sozial geteilte Praxis. Wer sie boykottiert oder „Extrawünsche“ anmeldet, macht sich nicht beliebt, auch wenn die Gründe einsichtig sind. Das gilt nicht nur für die spezifische Situation, wenn sich mehrere Menschen zum Kochen oder Abendessen verabreden, sondern auch für all die Praktiken, die im Hintergrund dafür sorgen, dass es überhaupt etwas zu essen geben kann, und die entscheiden, was das ist. Zu diesen Praktiken zählen mindestens die Landwirtschaft, die Lebensmittelindustrie und -forschung, der Markt und die Politik.

Nun kann man gesellschaftlich den Weg einschlagen, den man in Deutschland und anderen „satten“ Ländern augenscheinlich gegangen ist, und das bedeutet, Fleischverzicht und mehr noch Veganismus irgendwo zwischen Supererogation („Sollte man vielleicht, muss man aber nicht“) und privater Glaubensfrage („Wenn‘s dich glücklich macht“) einzuordnen. Deswegen wird man als Vegetarier*in heute toleriert und vegane Produkte werden als Randgruppenbedarf, der aber auch dann und wann mal für die „normalen“ Verbraucher*innen die Möglichkeit einer zwanglosen Abwechslung darstellt, in die Supermärkte integriert. So, wie man eine kulinarische Entdeckungsreise antreten oder etwas, das man aus dem Thailandurlaub kennt, nachkochen kann, wenn man im Spezialitätenregal zu Zitronengras und Kokosmilch greift, so kann man auch zu einer vielleicht primär moralischen Entdeckungsreise aufbrechen oder nachkochen, was man bei veganen Freund*innen gegessen hat, wenn man bei den veganen Produkten zugreift. Solche Konsumausflüge in eine andere, tierleidärmere Welt gelten dabei als irgendwie moralisch-pädagogisch wertvoll. Auf irgendeiner Ebene sind wir uns nämlich mittlerweile weitestgehend darüber einig, dass der gegenwärtige gewohnheitsmäßige Konsum von Tierprodukten, vor allem von Fleisch, keine Zukunft hat, und das aus mindestens fünf Gruppen von Gründen.

Die erste Gruppe hat klar mit den Tieren selbst zu tun. Das, was man standardmäßig in Deutschland im Supermarkt kaufen kann, entspricht vielfach nicht einmal den gesetzlichen Standards – da muss man sich nichts vormachen –, geschweige denn den moralischen Mindeststandards, welche die Mehrheit der Konsument*innen erwartet. Bevölkerungsumfragen mögen verzerrt sein, weil die Leute so antworten, wie es ihrer Meinung nach sozial erwartet wird; dennoch ist festzuhalten, dass 94 % der Europäer*innen Tierwohl für wichtig erachten. Damit bewegen sie sich auf einen Standpunkt zu, der sich aus den verschiedensten ethischen und religiösen Theorien ergibt und gesetzlich festgeschrieben ist: Empfindungsfähige Tiere sind keine Fleisch-, Milch-, Eier-, Woll- oder Sonstwas-für-Maschinen, sondern Wesen, die von starken Tierschutznormen (wenn auch nicht von Tierrechten) geschützt werden müssen. Deswegen empören sich Menschen, wenn Küken geschreddert werden. Deswegen können sie es nicht ertragen, wenn sie in manchen Tötungspraktiken Tierquälerei am Werke sehen. Und deswegen gucken viele schon gar nicht mehr genau hin, wenn eine entsprechende Tierquälerei mit dem eigenen Konsumverhalten in Verbindung steht.

Abgesehen von aufrichtigen oder scheinheiligen Tierschutzanliegen und Absichtsbekundungen sprechen aber auch die mit den hiesigen industriellen Haltungs- und Produktionsformen verbundenen Gesundheitsrisiken für eine Kehrtwende in all den Praktiken, die dafür sorgen, dass Menschen etwas zu essen haben. Es mutet ein wenig absurd an, es hier überhaupt noch anzuführen, aber die entsprechenden Risiken der industriellen Tierhaltung sind enorm und erstrecken sich von Parasiten und Salmonellen über diverse Grippen bis hin zu durch verabreichte Antibiotika auftretende multiresistente Bakterien, die EU-weit jährlich für Zigtausende Todesfälle verantwortlich sind. Hinzu kommen die Risiken so genannter Zivilisationskrankheiten, die durch Fleischkonsum zumindest steigen, auch wenn es hier weder um Monokausalität noch um Schuldzuschreibungen geht. Mein Punkt ist ja gerade, dass der oder die Einzelne in dieser Situation heillos überfordert ist und Systeme braucht.

Apropos Systeme: Damit ist nicht nur die Politik gemeint, sondern natürlich auch die Umwelt, die durch die Wasser- und Luftverschmutzung der industriellen Landwirtschaft massiv beeinträchtigt wird. Die lokal durch Monokulturen, Bodenverschmutzung und -erosion sowie durch einen hohen Wasserverbrauch entstehenden Probleme sind weithin bekannt und leicht im Bewusstsein. Auch die globale Dimension wird vielen über die Stichwörter „Treibhausgase“ und „Regenwaldrodung“ mehr oder weniger begreiflich sein. Sie äußert sich zudem in der oft übersehenen Zerstörung nicht industrieller Betriebe, vor allem im globalen Süden.

Diese wirtschaftliche Ungerechtigkeit manifestiert sich auch in unseren Breitengraden, nicht zuletzt durch eine problematische Gemeinsame Agrarpolitik der EU, die große, industrielle Betriebe bevorzugt – trotz aller Bemühungen um einen Green Deal. Von der Ausbeutung prekarisierter Arbeiter*innen in diesen Betrieben ist dabei noch gar nicht die Rede. Dass Erzeugnisse, die sich offenkundig auf dem Markt allein nicht durchsetzen können, subventioniert oder auf Kosten der Steuerzahler*innen gelagert werden, gehört zu den widersinnigen Gipfeln einer Politik, die einerseits liberal doziert, man solle doch „das Schnitzel nicht verteufeln“, und andererseits auf Schweinefleisch in Mensen und Milch in Schulen besteht.

Und während die Menschen in der EU den Hals mit solchen multipel problematischen Produkten zugespachtelt bekommen, fördert genau diese Politik Hunger und Armut auf der Welt, indem aus schlechter gestellten Regionen für menschliche Nahrungszwecke vollwertiges Getreide als Tierfutter exportiert wird und dort überhaupt für den Export statt für die lokale Bevölkerung gewirtschaftet wird. Zu allem Überfluss werden diese lokalen Märkte dann mit den Überschüssen der hiesigen Wirtschaft zugeschüttet, wenn es gerade passt. Das ist eine zutiefst menschenverachtende (!) und Nahrungsmittelunsicherheit generierende Praxis.

Zumindest auf Produkte aus industrieller Nutztierhaltung zu verzichten ist damit aus Gründen des Tierschutzes, der öffentlichen Gesundheit, der Umweltverträglichkeit, der wirtschaftlichen Fairness und der Nahrungsgerechtigkeit normativ derart überdeterminiert, dass sich manche Menschen zwischenzeitlich wohl schon genötigt fühlen, zu sagen, sie seien Vegetarier*innen, obwohl sie manchmal Fleisch essen.16 Das kann man für scheinheilig oder verwirrt halten oder für redliche Absicht … – und dann kam das Leben. Es steht jedenfalls fest, dass Formen der Tierhaltung, die tierquälerisch sind, die Gesundheitsrisiken darstellen, die Umwelt zerstören, den Wettbewerb verzerren und Ungerechtigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung produzieren, inakzeptabel sind, und das wird eigentlich auch eingesehen. Dass die bloße Nahrungsaufnahme auch deswegen keine Privatsache mehr sein kann, wissen all diejenigen, die Vegetarismus unter gewissen Bedingungen noch tolerieren können, Veganismus aber für eine „radikale“ und gefährliche Ideologie halten.

„Wie, du bist jetzt auch noch vegan?“ Abgesehen von dem skandalisierten Ton, in dem diese Identitätsbezeichnung meistens geäußert wird, hat sie mir noch nie gefallen – nicht nur, weil sie ausdrückt, dass man in den Augen von Familienmitgliedern und Freund*innen noch anstrengender geworden ist, sondern auch, weil ich nur nebensächlich „vegan“ lebe, das heißt, mein Veganismus ist Nebenprodukt des Denkprozesses, den ich später, lange nach der genannten Schlachthoferfahrung, noch einmal aufgenommen habe. Mit meinem Fleischverzicht hatte ich das Problem, auf das ich damals aufmerksam geworden war, für gelöst gehalten. Diese Problemlösung habe ich mir aber nicht als Lebensinhalt auf die Fahnen geschrieben, sondern ich habe lediglich versucht, sie auch unter dem Druck, den man als Außenseiterin erfährt, für mich konsequent beizubehalten. Und dann … – kam das Leben. Als ich später wieder ins Denken kam, wurde mir nicht nur klar, dass man mit dem Fleischverzicht allein noch nicht fein raus ist, sondern auch, dass man mit dem Versuch, auf alle aus Tieren, ihren Körperteilen und Sekreten erzeugten Produkte zu verzichten, genauso wenig fein raus – wenn „fein raus“ heißen soll, eine moralisch saubere Weste zu haben.

Beim Veganismus aber scheint es sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in manchen seiner identitätspolitischen Verirrungen genau darum zu gehen, und das ist der Grund, aus dem ich den Begriff lange lieber vermieden habe. Mich erschreckt es, wenn es Gruppen gibt – in Sozialen Medien oder auch anderswo – die sich „Veganer raus aus Deutschland“ nennen. Mich erschreckt das nicht nur, weil es sich dabei um dem Rassismus analoge Diskriminierungsformen handelt, sondern auch, weil es dann bei der ganzen Sache mehr um die Veganer*innen und ihren Status als Minderheit oder Fremde geht, der Gesellschaft Entfremdete, und nicht um die Probleme der Tierausbeutung selbst. Damit will ich nicht sagen, dass die Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die sich gegen Tierausbeutung einsetzen, trivial wären.17 Aber Diskussionen um den Veganismus sollten sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen politische Veränderungen für die betroffenen Tiere erreicht werden können, und sich nicht in der Erörterung und Entwicklung von Minderheitenrechten verlieren – dann nämlich würde der Veganismus auch als Minderheitenanliegen zementiert werden. Und das würde die politische Tragweite dieser Lebensweise ignorieren.

Gleichermaßen langweilen mich ehrlich gesagt Versuche, Veganismus als identitätsstiftende Größe in einer unübersichtlich gewordenen Welt auszuweisen. So ein Versuch mag oberflächlich erklären, warum manche Menschen Veganismus als Identität „ausprobieren“, nachdem sie Popmusik versucht haben, bei den Pfadfinder*innen oder aus der Kirche ausgetreten sind – nur um auch das nach einer Weile wieder aufzugeben, weil es „zu anstrengend“ geworden ist. Man mag von Identitätsbildungsprozessen und sozialen Distinktionen im 21. Jahrhundert halten, was man will – Veganismus sollte nicht als Identität begriffen werden, weil in diesem Fall eine entsprechende Gruppierung sich ja eigentlich eine Welt wünscht, in der ihr Daseinsgrund nicht mehr existiert. Wenn man Fan einer bestimmten Band ist, wünscht man sich, dass sie weiter Alben veröffentlicht, dass man auf Konzerte gehen kann usw. Wenn man etwas sammelt, möchte man es aufheben, ausstellen, austauschen. Wenn man aus freien Stücken in einer religiösen Gemeinschaft ist, möchte man, dass diese fortbesteht, nicht das Gegenteil. Vegan lebende Menschen wünschen sich dagegen vernünftigerweise nicht eine Welt, in der sie sich qua vegan lebende Menschen von anderen absetzen und sich darüber definieren können. Denn das würde bedeuten, dass es immerfort andere Menschen geben müsste, die Tiere ausbeuten. Genauso wenig also wie Menschen, die sich für die Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen, sich eine Welt wünschen, in der ihre raison d’être fortbesteht, auch wenn man als Kurzform von ihnen als „Menschenrechtler*innen“ sprechen mag, sollten vegan lebende Menschen „Veganer*innen“ sein. Ich lebe jedenfalls nicht vegan, weil ich „heiliger“ als alle anderen sein möchte, sondern weil ich ein denkender und fühlender Mensch bin, der nicht im Angesicht der eigenen Widersprüche gänzlich den Respekt vor sich selbst verlieren möchte. Und ich weiß auch sehr genau, woraus ich meine Identität schöpfen kann, wenn ich unversehens doch noch in einer Welt leben sollte, in der ich meine Zeit nicht mehr damit verbringe, ein Buch zu schreiben, das zum Ziel hat, dass die Ausbeutung von Tieren ein Ende findet. Insofern dieser Zustand das Ziel ist, ist es mir egal, ob Menschen sich aus tiefstem Herzen dazu entschließen, vegan sein zu wollen oder nicht. Schön wäre, wenn sie einfach mitdenken und mitfühlen wollten und in der Konsequenz einfach vegan lebten, also vor allem in einer Welt, die frei ist von durch Menschen verursachtes Tierleid, wie es in der Massentierhaltung normal ist.

Dieses Ziel wird nicht dadurch Wirklichkeit, dass eine Heerschar an klugen und einfühlsamen Veganer*innen auszieht und anstrengende Gespräche mit Familienmitgliedern und Freund*innen führt, bis alle Menschen sich zu tugendhaften Konsument*innen entwickelt haben werden. Genauso wenig haben nämlich Generationen von klugen und einfühlsamen Feminist*innen dafür sorgen können, dass wir heute in einer Welt leben, in der niemand mehr das Laster der Frauenfeindlichkeit aufweisen würde. Anstrengende Gespräche sind und bleiben zweifellos hier wie dort notwendig, aber damit sind die Anliegen nicht geklärt. Hinzutreten müssen Institutionen, die es den Einzelnen ermöglichen, sich bestimmte Fehltritte eben nicht zu leisten, und die den Menschen dabei helfen, im Einklang mit ihren normativen Absichtserklärungen zu leben. Zwanzig Jahre nach meiner Schlachthoferfahrung lebe ich in einer diskursiven Welt, in der niemand mehr unbedarft Produkte aus problematischer Tierhaltung isst. Ich weiß gar nicht, wie oft sich Fleischesser*innen mir gegenüber entweder ohne Aufforderung rechtfertigen oder offen Interesse an Alternativen zeigen. Das geht dann so: „Also, ich kaufe ja auch nur noch bio.“ Man hat dann die Wahl, verständnisvoll zu nicken und dabei den anderen das nicht abzunehmen, weil das in der Breite, wie man das zu hören bekommt, gar nicht sein zutreffen kann, oder darauf hinzuweisen, dass „bio“ keine signifikante Verbesserung für die Tiere bedeutet. Oder man wird gleich zum Verkäufer oder zur Verkäuferin und erzählt von Ersatzprodukten, räumt Bedenken aus und korrigiert Missverständnisse.

Gleichzeitig sollen Veganer*innen akzeptieren, dass sie potenziell nerven, und sofort artig Ruhe geben, wenn das Gegenüber genug von dem Thema hat. Und dann kommt die ZEIT, die ihre vierzig Fragen zum Thema Massentierhaltung mit der Frage beschließt: „Nervt es Sie, dass Fleischkonsum zu einer moralischen Angelegenheit geworden ist?“ Ich nehme an, dass sich diese Frage an Fleischesser*innen richtet. Dabei will ich aber Ja rufen. Ja, es nervt mich. Es nervt mich, weil da unter Moral gerne x-Beliebiges verstanden wird, nur nicht das, was sich im Minimalkonsens schon ausdrückt. Es nervt mich aber vor allem, weil es bei diesem Thema einen gesellschaftlich-rechtlichen Konsens gibt, dessen Durchsetzung auf die Verbraucher*innen abgewälzt wird. Dabei braucht es schlicht systemische Vorgaben ähnlich denen, die den Konsens durchsetzen, dass andere problematische Produkte – Waffen, Kinderpornografie, Umweltgifte – auch dann nicht in Deutschland frei verkäuflich sind, wenn es Menschen gibt – wie viele auch immer –, die sie gerne kaufen würden. Und doch wehrt man sich, während ich diese Zeilen tippe, in Deutschland gegen den Tierwohl-Cent. Cent! Man findet aber zugleich an der Vorstellung, dass man sich ökonomisch für moralisches Fehlverhalten systematisch entschulden könnte, nichts widersinnig. Ein Zeitungsartikel, der sich selbst wohl als kritisch versteht, geht aus von Sätzen wie: „Tierische Produkte sind keine Ware wie jede andere. Für jedes Stück Fleisch muss ein Tier gezüchtet und getötet werden. Das sollte möglichst ohne Leid fürs Tier geschehen, der zusätzliche Aufwand sollte im Preis Ausdruck finden.“18 Das „sollte möglichst ohne“, das ist Gesetz – und nichts, was der oder die Konsument*in entscheiden können soll.

Dieser Entwicklung steht der Einfluss der konventionellen Nutztierhalter*innen auf das politische System stark entgegen – in Deutschland beispielsweise durch den Bauernverband und Forum Moderne Landwirtschaft, auf EU-Ebene etwa durch die European Livestock Voice – und das ist nachgerade als undemokratisch zu werten. Und wieder komme ich zu der Frage, welche Positionen und Argumente im System überhaupt gehört werden. Noch lange vor dem Auftreten des neuartigen Coronavirus und den dadurch bekannt gewordenen Bedingungen im Unternehmen Tönnies bekomme ich eine Anfrage zu einer Weiterbildung von dem Betriebsleiter eines Schlachthofs – nennen wir ihn Herrn Redlich –, der es, sagen wir, gut meint. Oder jedenfalls meint Herr Redlich, dass man einen Schlachthof heutzutage nicht mehr ohne ein „philosophisches Fundament“ betreiben könne. So steht das in einer E-Mail, in der er einen Telefontermin erbittet. Ich rufe ihn an und sage ihm, dass Philosophie meinem Verständnis nach eher dafür da sei, Gewissheiten zu erschüttern als Fundamente zu bauen. Und im Rahmen einer tierethischen Weiterbildung würde ich nicht verschweigen, dass sich gerade für Schlachthäuser – egal aus welcher theoretischen Perspektive – erhebliche ethische Grundsatzprobleme stellen. Selbst wenn (!) man gegen das Töten von Tieren an sich nichts einwenden könnte, kommen die Tiere doch bei einem Schlachthof meist unzumutbar gestresst und leidend an. Das heiße aber nicht, dass ich keinen Sinn in der Weiterbildung sehe. Im Gegenteil: Lust auf das Gespräch hätte ich schon, zumal ich nicht primär mit den Mitarbeiter*innen an der Basis zu sprechen käme, die trotz Schlachtschein doch keinen rechten Begriff von Tierethik hätten (das hieß es im Gespräch zuerst). Vielmehr will Herr Redlich auf der Suche nach Ethik seine Kolleg*innen aus den Führungsetagen anderer Schlachthöfe in der Region zu dem Workshop bewegen. Ich sage zu, ich lasse mich darauf ein. Er will sich bald melden, mit Details und Terminvorschlägen … Und ich höre nie wieder von ihm. Es wäre glatt gelogen, wenn ich sagte, ich hätte das persönlich zutiefst bedauert. Aber um meine persönlichen Interessen geht es bei der Tierethik nicht, und wenn jemand Bedarf anmeldet, bin ich gewillt zu liefern – und zwar nicht nach Geschmack, als Feigenblatt, sondern das, was die Bandbreite der ethischen Forschung in den letzten Jahrzehnten geliefert hat. Ich habe noch zweimal nachgefragt. Wieder ohne Antwort. Ob Herrn Redlichs Kolleg*innen keine Lust auf den Workshop hatten oder ob er nach dem Gespräch mit mir nicht doch erst noch einmal einen Blick in eine tierethische Einführung geworfen hat – ich weiß es bis heute nicht.

Menschen und andere Tiere

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