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3.2Für einen entlastenden Essenzialismus!
ОглавлениеWenn man den auch von Humanist*innen de facto akzeptierten „niederen“ Status von Tieren und allem „Tierischen“ nicht hinterfragen kann, indem man die gemeinsame Gruppenzugehörigkeit von Menschen und anderen Tieren anerkennt, dann kommen auch in der Betonung des immerhin zweifellos Tierlichen am Menschen nur dessen natürlichen Begrenzungen zum Vorschein. Eine zweite, diese Begrenzungen affirmierende Reaktion auf die Redeweise von Menschen und anderen Tieren kommt in zwei Spielarten vor. Die erste ist die philosophisch kaum vertretene Sichtweise, dass der Mensch eben „auch nur ein Raubtier“ sei, wobei die Betonung auf „auch“ liegt. Dadurch soll zum Ausdruck kommen, es sei legitim, dass Menschen anderen Tiere feindlich gegenübertreten, weil Raubtiere das so machen und der Mensch eins ist. Auch wenn diese Sichtweise philosophisch kaum ernst zu nehmen ist, ist sie doch in jeder von biologischem Halbwissen geprägten Diskussion über Gebiss und Verdauungstrakt des Menschen vertreten. Mit solchen Verweisen sollen moralische Forderungen abgewehrt werden, als würden diese sich wider die so und so, nämlich raubtierhaft verstandene Natur des Menschen stellen. „Ultra posse nemo obligatur … – dann könnte man ja auch anfangen, Löwen Tofu-Würstchen in die Savanne zu legen!“ Weil hier vieles allzu flott miteinander vermischt wird, gehe ich auch auf diese brutalistisch-essenzialistische Sichtweise des Menschen ein.
Philosophisch komplexer und relevanter ist dagegen die zweite Sichtweise, die aus einer essenzialistischen Perspektive eine Art Quietismus ableitet. Dabei wird vor allem auf die Grenzen der menschlichen Natur abgestellt, die in der Kreatürlichkeit des Menschen und seiner unmittelbaren Selbsterfahrung als abhängiges Wesen begründet liegen sollen. Gemein ist aber essenzialistischen Kritiker*innen beider Couleur, dass sie ein Gefühl der Entlastung artikulieren und sich gegen normative Sichtweisen des Menschen wehren, die zu humanistischer Verantwortung und Aufklärung aufrufen, und, a fortiori, gegen jene, die auch noch mehr als das in der moralischen und politischen Berücksichtigung von Tieren fordern.
Zur ersten Spielart: Eher selten wird von brutalistischen Essenzialist*innen explizit auf Denker wie Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler oder jüngst John Gray Bezug genommen. Man findet diese Sichtweise eher in Form von antiveganen Slogans: auf T-Shirts, im Internet oder am Stammtisch. Der emotionale Tenor dieser Sichtweise kommt allerdings besser in folgendem Zitat – von Spengler – zum Ausdruck. Er behauptet:
Das Raubtier ist die höchste Form des freibeweglichen Lebens. Es bedeutet das Maximum an Freiheit von andern und für sich, an Selbstverantwortlichkeit, an Alleinsein, das Extrem der Notwendigkeit, sich kämpfend, siegend, vernichtend zu behaupten. Es gibt dem Typus Mensch einen hohen Rang, daß er ein Raubtier ist.
Ein Pflanzenfresser ist seinem Schicksal nach ein Beutetier und sucht sich diesem Verhängnis durch kampflose Flucht zu entziehen. Ein Raubtier macht Beute. Das eine Leben ist in seinem innersten Wesen defensiv, das andere ist offensiv, hart, grausam, zerstörend.21
Es ist nachgerade aussichtslos, gegen eine solch libertäre Überheblichkeit etwas Vernünftiges zu sagen, da jemand, der diese Sicht auf den Menschen vertritt, wohl alles an Sozialität, mithin auch die verständigungsorientierte Kommunikation, als Ausweis von Schwäche zurückweisen wird. Alle Fakten, die dieser Sichtweise entgegenstehen, können gegen das wilde, pennälerhafte Bedürfnis nach gedanklicher Unabhängigkeit, das hier zum Ausdruck kommt, nichts ausrichten. Vielleicht kann man sich noch in psychologischer oder therapeutischer Absicht fragen, in welcher womöglich allzu menschlichen Kränkung oder in welchem Defekt die Ablehnung all jener Tugenden wurzeln mag, die so jemanden in den Stand versetzen, sich entsprechend antisozial zu artikulieren. Auch ein*e Brutalist*in ist wohl irgendwann durch Erziehung und andere Menschen zum Brutalisten oder zur Brutalistin geworden oder hat sich selbst dazu gemacht.
Anzumerken bleibt, dass diese Brutalist*innen offenkundig wenig über sozial organisierte Beutegreifer (etwa Wölfe, Orcas, Löwen, Hyänen …) wissen, deren Existenz nicht auf Kampf, Sieg oder gar Vernichtung ausgerichtet ist. Bestien, wie sie als Modell für diese „Raubtiere“ stehen, gibt es in der Natur gar nicht.22 Darüber hinaus ist – neben der Randständigkeit dieser Position in ihrer konsequent zu Ende gedachten Form – erwähnenswert, dass sich eine Art Hass auf das Kreatürliche und auf Abhängigkeiten auch in denjenigen Formen von Tierquälerei finden, die selbst die Mehrheitsgesellschaften nicht akzeptieren und als pathologisch erkannt haben.23 Menschen, die sich wirklich durch und durch als Raubtiere begreifen und dies auch in ihrem Umgang mit Tieren zum Ausdruck bringen, gelten nicht nur als für andere Tiere gefährlich, sondern auch als gemeingefährlich.
Ganz anders verhält es sich im Falle derjenigen Essenzialist*innen, die durchaus eine prosoziale normative Orientierung aus der Anerkennung wesenhafter, dem Menschen als abhängigem Tier eingeschriebenen Gegebenheiten ziehen wollen. Als Vertreter einer solchen, typischerweise aristotelisch-thomistisch inspirierten, konservativen Sichtweise mag hier Alasdair MacIntyre gelten. Diese Sichtweise hat auf den ersten Blick am meisten Ähnlichkeiten mit derjenigen meiner philosophischen Pionier*innen, allerdings besteht der entscheidende Unterschied in einem formalen Element des vermuteten Naturbegriffs. Während aristotelisch-thomistisch inspirierte Autor*innen davon ausgehen, dass „Natur“ etwas wesentlich Unveränderliches meint, eben eine Essenz, gehen pragmatische Autor*innen davon aus, dass damit ein gewordenes Bündel an Gewohnheiten oder Praktiken gemeint ist, das sich bewährt hat, sich aber anpassen muss, wenn es sich unter veränderten Umweltbedingungen weiterhin bewähren will.
Diesem Anpassungsdruck kann, in Maßen und je nachdem, worum es genau geht, entsprochen werden. So ist es Menschen offenkundig gelungen, soziale Beziehungen weit über den Nahbereich der lokal versammelten Kleingruppe aufrechtzuerhalten. Andererseits wird es Menschen qua Menschen vermutlich nicht gelingen, ihre Lebensform derart zu verändern, dass sie – etwa als unsterbliche, vielleicht mit Maschinen verschränkte Wesen – deutlich länger lebten oder nicht mehr schlafen müssten. Jedenfalls wären viele geneigt, solch eine neue Lebensform dann auch als eine andere Art auszuweisen. Das Beispiel mag aus der Luft gegriffen wirken, ruft aber die emotionale Gemengelage auf, in der sich die quietistischen Essenzialist*innen artikulieren.
Ich nenne Denker*innen wie Alasdair MacIntyre nämlich auch quietistische Essenzialist*innen, weil sie auf Vorschläge, die menschliche Natur zu überschreiten oder zu transformieren, konservativ reagieren und zu Ruhe und Einkehr mahnen. In gewisser Weise geht es dann in der Anerkennung dessen, dass der Mensch „auch nur ein Tier“ ist, gar nicht um andere Tiere, jedenfalls nicht vorrangig. Die Betonung liegt hier nämlich auf den Abhängigkeiten, die sich vor allem auf die eigene Art beziehen. Die Argumentation sieht dann aus wie folgt:
Es [das Argument] begann von zwei unterschiedlichen, aber verwandten Ausgangspunkten. Der erste war die Betrachtung dessen, was wir in und aus unserer tierischen Natur mit Angehörigen anderer intelligenter, aber sprachloser Arten wie etwa Delfinen gemeinsam haben – eine Betrachtung, die darauf ausgerichtet ist, zu zeigen, dass wir nicht nur mit Recht den Angehörigen zumindest einiger solcher Arten Vorsätze und Gründe für ihr Handeln zuschreiben, sondern auch dass wir selbst in unseren eigenen Anfängen als rationale Akteure ihrer Verfasstheit sehr nahe sind und dass unsere Identität damals wie heute eine tierische war und ist. Der zweite war die Betonung der Vulnerabilität und der Unzulänglichkeiten, die das menschliche Leben durchziehen, in früher Kindheit, im hohen Alter und während Phasen der Verletzung oder körperlichen und psychischen Krankheit, und des Ausmaßes unserer daraus resultierenden Abhängigkeit von anderen.24
In gewisser Weise antwortet dieser Essenzialismus auf die Brutalist*innen, denn er weist Bestrebungen, menschliches Leben ohne diese Gegebenheit und soziale Abhängigkeit normativ zu denken, in ihre Grenzen. Diese Grenzen werden in dieser Sichtweise von der Natur vorgegeben und sind für Menschen nicht verhandelbar. Die menschliche Natur ist nur im Lichte der typischen Leiden, Schwächen, Krankheiten und der natürlichen Aspekte des Werdens und Vergehens, welche menschliches Leben begleiten, richtig zu verstehen. Versuche, sie pseudoheroisch oder transhumanistisch zu überschreiten, führten dagegen angeblich in den Wahnsinn.25
Dass Menschen für quietistische Essenzialist*innen im Wesentlichen immer genau diese abhängigen Tiere bleiben, kann befreiend wirken. Es kann entlasten von den Zumutungen, welche die Projekte der autonomen Selbsterschaffung bedeuten mögen. Stattdessen eröffnet sich eine rettende Perspektive für den Menschen, der sich auch als rationaler Akteur nicht unabhängig von diesen Abhängigkeiten begreifen soll, der sich aber auf ein im Kern konstruktives anthropologisches Projekt einlassen kann. Bei diesem Projekt geht es um den Erwerb artspezifischer Tugenden, der allerdings in tierethischer und -politischer Hinsicht nur eine schmale Bilanz bringt. Ja, die Tiere, die uns ähnlich sind, weil sie intelligent oder vernünftig sind bzw. weil ihnen Handlungsgründe zugeschrieben werden können, werden hiervon profitieren. MacIntyre zufolge wären das etwa Delfine. Um die Anerkennung aller anderen sozial abhängigen Wesen in der ihnen je eigenen Vulnerabilität geht es hierbei aber nicht – ganz zu schweigen von Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Spezies, die, wie wir noch sehen werden, das gute menschliche Leben zum Teil mitbestimmen dürften. Das liegt daran, dass es sich mehr um eine pessimistisch-konservative Warnung vor Überspannungen des Begriffs der menschlichen Natur handelt; dabei wird dann aber auch seine moralische Reichweite eingegrenzt – zu Unrecht, wie optimistisch pragmatische Denker*innen meinen.
Sich darauf zurückzuziehen, dass man eben ist, was man ist (no pun intended), geht oft auch einher mit Fatalismus: „Ja, so ist der Mensch, er kann nicht anders – und ich bin auch nur ein Mensch.“ Dabei geht es gar nicht darum, dass einzelne Menschen zu besseren Menschen werden, sondern darum, dass die Menschheit sich verbessert – und das tut sie schon seit eh und je. Das ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Argumentation. Die Menschheit verbessert sich jedoch nicht im Sinne einer Fortschrittsgeschichte, bei der wir auf eine Utopie moralischer Perfektion zusteuern, sondern im Sinne des kontinuierlichen und nachhaltigen Lösens von Problemen. Dass es dabei hilft, wenn Individuen sich darum bemühen, die vermeintlichen Grenzen des Menschen in Form etablierter und bisweilen fraglos akzeptierter Praktiken zu überschreiten, ist richtig. Unter Menschen gab es auch immer moralische Pionier*innen. Es geht aber nicht um die moralische Exzellenz von Individuen als solche. Es geht darum, dass sie Ausdruck und Vorbild moralischen Fortschritts ist. Dafür ist eine normative Sichtweise des Menschen unerlässlich, die dazu motiviert, sich etwas aus dem Menschen und den anderen Tieren zu machen. Dabei sind Optimismus und Methode notwendig, um erst einmal richtig Tier zu werden – und andere Tiere in den Blick zu bekommen.
Was und wie der Mensch ist, ist eine unbeantwortete Frage – das hoffe ich gezeigt zu haben. Diese Frage wird auch in ihrer einfachsten Form unbeantwortet bleiben. Doch um besser erkennen zu können, was im Hinblick auf das durch und durch komplizierte Zusammenleben mit anderen Tieren eine Antwort sein kann, hilft es, so denke ich, als Mensch erst einmal das Tier-Werden als Aufgabe zu begreifen.