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Kapitel 5

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Neben einer Apotheke führte eine Glastür ins kühle Treppenhaus. Die Sektenberatung befand sich im dritten Stock, die anderen Stockwerke beherbergten Zahnärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und anderen Dienstleister für Körper und Seele. Felber war froh, dass er im Wartezimmer allein war. Er blätterte in einigen Broschüren, legte sie aber bald wieder zur Seite, ging im nüchternen Zimmer herum und blickte durch das doppelverglaste Fenster. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über das Universitätsviertel bis hinunter zum See.

Der kleine Mann mit dem schütteren Haar, der ihn nach einigen Minuten abholte, stellte sich als Herr Lüönd vor und führte Felber durch einen langen Gang in ein Besprechungszimmer auf der anderen Hausseite. An den Wänden hingen moderne Malereien, die aussahen wie das Gekleckse, das Meret und Linus ein paar Jahre lang aus Spielgruppe und Kindergarten nach Hause gebracht hatten. Lüönd wies Felber einen Platz auf einem schwarzen Ledersessel zu und setzte sich hinter einen Schreibtisch mit Glasplatte.

»Sie haben wegen den Sonnentemplern geschrieben«, resümierte er nach einem Blick auf seinen kleinen Laptop.

Felber nickte.

»Mir ist nicht ganz klar geworden, aus welcher Motivation heraus Sie Informationen suchen. Sie sind mit der Gruppierung wohl kaum in Berührung gekommen?«

Felber schüttelte den Kopf. »Schauen Sie: Mein Vater hat lange Zeit für die Vormundschaftsbehörde des Kantons Freiburg gearbeitet. Als sich die Dramen von Cheiry und Granges-sur-Salvan ereigneten, war ich etwas über 20. Wir lebten bereits in Zürich, aber mein Vater hat sich noch mit den Sorgerechtsfällen befasst, bei denen es darum ging, ob man Sektenmitgliedern die Kinder wegnehmen und zu ihrem eigenen Schutz in Pflegefamilien unterbringen durfte.«

Der Sektenexperte nickte langsam. »Verstehe ich also richtig, dass Sie hier sind, um Ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten?«

Felber nickte langsam.

»Wissen Sie, eigentlich beraten wir Menschen, die unsicher sind, weil sie mit Gruppierungen in Berührung gekommen sind, von denen sie nicht wissen, ob es Sekten sind; Eltern, deren Kinder sich von ihnen abwenden oder sich radikalisieren, Leute, die in Abhängigkeit geraten sind und Hilfe für den Ausstieg suchen.«

Felber reagierte nicht. Aus unzähligen Einvernahmen wusste er genau, welche Redestrategien zum Ziel führten. In vielen Fällen war es das Beste, nichts zu sagen.

»Also Familiengeschichte«, schloss Lüönd etwas irritiert ab.

»Gibt es heute noch Ableger des OTS hier in Zürich?«, fragte Felber.

»Der Orden des Sonnentempels war in der Romandie aktiv, daneben gab es Gruppen in Frankreich und in Kanada, aber in Zürich …«

»Die Führungsriege«, fuhr Felber fort, »hat sich immer wieder auf sogenannte Meister in Zürich berufen, die auf die Entscheide Einfluss genommen haben sollen. Wer war das?«

Lüönd lehnte sich vor und lächelte verschwörerisch. »Diese Meister in Zürich«, erklärte er, »waren wohl Di Mambros Finanzbeziehungen.«

Felber runzelte die Stirn.

»Man weiß heute, dass die Sektenführung, also Jo Di Mambro und Luc Jouret, das Ganze auf zwei Ebenen betrieben haben: Zum einen verfolgten sie eindeutige finanzielle Interessen, und da spielten diese Beziehungen in Zürich bestimmt eine wesentliche Rolle. Auf der zweiten, der spirituellen Ebene konnten sie diese sogenannten Meister aber auch gut brauchen, um die Leute in Schach zu halten.«

Felber verstand noch immer nicht ganz. »Waren das Banken?«

Der Experte zuckte mit den Schultern. »Das hat man nie herausgefunden«, sagte er geheimnisvoll. »Di Mambro ist vor dem Transit mehrmals nach Zürich gefahren. Offenbar ging es um Geld. Wer dahinterstand, weiß man nicht.«

»Und heute? Gibt es heute noch Ableger?«

»Mir sind keine Aktivitäten des OTS bekannt. Wir haben ein Wirrwarr von neuen Gruppierungen, der islamistische Extremismus ist ein großes Thema. Es ist schwierig, die Übersicht zu behalten.«

Felber nickte verständnisvoll.

»Die Sonnentempler wurden eine Zeitlang noch observiert, aber irgendwann hat sich die Gruppe aufgelöst. Ihr Gedankengut ist übrigens ein Amalgam verschiedenster esoterischer Richtungen, wie man sie auch bei anderen Gruppierungen findet. Nicht nur bei esoterischen Geheimbünden, auch bei Anthroposophen …«

»Vor einem Jahr«, unterbrach ihn Felber, »hatte ich mit einem Fall von Cybermobbing zu tun. Ein Mädchen sagte aus, sie gehöre zu einer Gemeinde von Rosenkreuzern oder Sonnentemplern – ich erinnere mich nicht an die genaue Bezeichnung.«

»Einen Fall?«, fragte der Experte kritisch.

»Kriminalpolizei. Wir hatten damals …«

»Moment mal, sind Sie jetzt als Polizeibeamter hier oder als Privatperson?«

»Ich bin im Moment nicht im Dienst und wegen der … Familiengeschichte hier«, erklärte Felber.

»So, so«, murmelte Lüönd und schien zu überlegen, ob er Felber seine Hilfe weiter angedeihen lassen sollte oder nicht. »Warten Sie«, sagte er schließlich und hämmerte eine Zeitlang auf seinem Laptop herum. »Es gibt eine Gruppe, die sich als Rosentempler bezeichnet – wie originell! Wie ich der Übersicht entnehme, sollen auch Leute darunter sein, die aus dem Umfeld des OTS stammen, Überlebende, die sich wieder zusammengefunden haben. Interessant, war mir nicht bekannt.«

Felber war hellhörig geworden. »Das verstehe ich nicht: Da sind über 50 Menschen brutal getötet worden, und diese Leute können einfach weitermachen, als ob das eine kleine Panne gewesen wäre?«

Der Experte musterte ihn. »Das ist ein Phänomen, das man nach solchen Ereignissen häufig beobachtet. Zuerst sind die Überlebenden schockiert, die Medien decken schreckliche Dinge auf, man redet von Verbrechen, von Wahnsinn. Aber nach und nach finden sie sich wieder zusammen, beginnen die Sachen umzudeuten, geben Einzelnen die Schuld, um an den Glaubensinhalten festhalten zu können. Wer jahre- oder jahrzehntelang in einer solchen Struktur gelebt hat, kann das nicht von einem Tag auf den anderen ablegen.«

Das leuchtete Felber ein.

»Das Gedankengut des Ordens«, fuhr der Schüttere fort, »ist in seinem Kern ungefährlich. Gefährlich ist, was Einzelne daraus gemacht haben: Sie haben die Leute in Abhängigkeit gebracht, sie genötigt, alle anderen Beziehungen abzubrechen, und das bedeutete gegenseitige Kontrolle, totale Überwachung, Fronarbeit und finanzielle Ausbeutung. Dann, gegen Ende, kamen die Polizeiermittlungen dazu, Paranoia, Endzeitstimmung …«

»Die Gruppe steht also nicht mehr unter Beobachtung?«, hakte Felber nach.

Der andere schüttelte den Kopf. »Seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr. Dazu kommt, dass dieser Ableger, wie ich hier lese, keine neuen Mitglieder rekrutiert. Es scheint eine kleine, fast private Gemeinschaft geworden zu sein.«

»Gibt es Teilnehmerlisten?«

»Nein, natürlich nicht.«

Felber kratzte sich am Nacken. »Wenn ich diese Leute kontaktieren wollte, an wen müsste ich mich da wenden?«

Lüönd blickte ihn mit einem Ausdruck von spöttischem Unglauben an. »Mein Guter, wir sind eine Sektenberatung, keine Sektenvermittlung!«

Es gab sie also doch, sagte sich Felber, als er mit dem 6er-Tram zurück ins Zentrum fuhr, inmitten von lärmenden Schulklassen, die wahrscheinlich den Zoo besucht hatten. Lukas Baumgartner würde ihm weiterhelfen müssen. Er würde seinen Kollegen und momentanen Stellvertreter um die Informationen bitten, wenn er morgen das Gespräch mit der Dienstchefin hatte.

Es war so heiß, dass die Studentinnen von Uni und ETH kaum mehr als Hotpants, Trägershirts und Wasserflaschen trugen. Ums Unispital heulten ununterbrochen die Sirenen von Krankenwagen, die Hitzeversehrte aus den umliegenden Alters- und Pflegeheimen einlieferten. Die News-Anzeige im Wageninneren gab bekannt, dass wieder ein neuer Hitzerekord verzeichnet worden war: 34,2 Grad. Es folgte die Ankündigung eines massiven Stellenabbaus bei einer Großbank, danach die Meldung, ein lokaler Jungpolitiker sei in der Zürcher Allmend tot aufgefunden worden. Felber war froh, dass ihn solche Dinge im Moment nichts anzugehen brauchten.

In einer plötzlichen Eingebung rief er Sara an. Sie war im Kunsthaus, ganz in der Nähe also, hatte eine Klasse durch eine Ausstellung geführt und eben verabschiedet. Sara arbeitete als Lehrerin für Kunstgeschichte an einem Zürcher Gymnasium. Sie schlug vor, vor dem Kunsthaus auf ihn zu warten.

Dieses war vor einigen Jahren renoviert worden. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo früher ein altehrwürdiges Schulhaus gestanden hatte, hatte man ein weiteres Gebäude, einen architektonisch hochmodernen Würfel gebaut, der noch mit Baufolie verdeckt war. Von Weitem schon sah Felber Sara, die sich im museumseigenen Café einen Platz unter einem Sonnenschirm gesichert hatte, neben einer schwarzen Plastik, die mit viel Fantasie eine Meerjungfrau darstellte.

Sie hatte mit einer fünften Gymi-Klasse eine Ausstellung von Picasso, Gorky, Kandinsky und weiteren Künstlern besucht und war vor allem hingerissen von der Arbeit einer französischen Malerin, die Farbe, Unmengen von Farbe, auf große Leinwände spritzte. Sie zeigte ihm eines der Bilder im Katalog. Spritzer, Schlirggen. »Diese Dynamik … diese Kraft!«

Das Bild weckte bei Felber vor allem einen unbändigen Durst. Während Sara ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte, sah er sich nach einem Kellner um, als könne er ihn allein durch die Kraft seiner Blicke an den Tisch ziehen.

Als Sara es bemerkte, hielt sie inne und legte das Buch sorgfältig in ihren Rucksack zurück. »Und du?«, fragte sie.

»Sektenberatung.«

»Wegen … Wegen der Sache?«

Er nickte und hoffte, sie würde nicht weiterfragen. Sie redeten selten, eigentlich nie darüber, aber Felber entging es nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass er sich verrannte, dass ein richtiges Burn-out drohte, dass er paranoid wurde.

Er versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken.

Nach einer Weile legte Sara lächelnd ihre Hand auf seine. »Du bist nicht bei mir.«

Er zog entschuldigend die Brauen hoch und war froh, dass in diesem Moment der asiatische Kellner die zuvor georderten eisgekühlten Getränke brachte.

Felber erzählte Sara, um überhaupt etwas zu sagen, dass er morgen mit Petra Meienberg über seine Wiedereinstellung reden würde.

»Übernächste Woche, da steigst du wieder ein, oder?«

»Mhm.«

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