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Kapitel 1

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Am zweiten Tag seines Aufenthalts in Freiburg fuhr der Zürcher Kommissar Pascal Felber nach Cheiry, eine gute Stunde mit S-Bahn und Postauto von der Kantonshauptstadt entfernt. Er wusste, dass nichts mehr zu sehen war. Das Haus war abgerissen, das Grundstück überwachsen. Auf der Webseite der Gemeinde hatte er nur einen einzigen Hinweis auf die traurigen Ereignisse gefunden, im historischen Abriss. Zwischen einem alten Artikel über die örtliche Blaskapelle und einem Beitrag über die Eröffnung einer Hauswirtschaftsschule stand die kurze Meldung über den geplanten Abriss des Sonnentempler-Hauses drei Jahre nach dem Drama. Man wolle nicht, hatte der damalige Präfekt des Kantons Freiburg erklärt, dass der Ort zu einer Pilgerstätte werde.

Trotzdem fuhr Pascal Felber hin, an einen der Orte, die auch mit seinem Schicksal verbunden waren. Sein Vater hatte für die Freiburger Behörden die Fälle betreut, bei denen es um die Entziehung des Sorgerechts für die Kinder der überlebenden Sonnentempler ging.

Auf der Wiese, wo das Haus gestanden hatte, grasten Schafe, weiter hinten schwarz-weiß gefleckte Freiburger Kühe. Einheimische traf er an diesen Nachmittag im 400-Seelen-Dorf keine an.

*

Zwei Tage später saß Felber im Intercity nach Zürich, in der 1. Klasse. Zwei Wochen hatte er sich gegeben. Zwei Wochen, um in Freiburg eine Spur des Unbekannten zu finden, der für die Entführung und den Tod seiner Frau Deborah verantwortlich war.

Schon kurz nach Olten hatte er seine Notizen und Ausdrucke in die Tasche geschoben, sich ins Polster zurückgelehnt und ließ seither die Landschaft an sich vorbeiziehen. Dabei versuchte er, das Geschnatter einer Seniorenreisegruppe zwei Abteile weiter hinten auszublenden. Die Aare war gespickt mit Gummibooten und Luftmatratzen. An den Ufern wimmelten Sonnenhungrige, was sich seltsam ausnahm aus dem Intercity-Zug, der so stark herunterklimatisiert war, dass man das Gefühl hatte, in einem Kühlschrank durch das Schweizer Mittelland zu fahren.

Jahrelang hatte Felber geglaubt, den Entführer und Mörder seiner Frau im Umfeld seiner ehemaligen Klienten suchen zu müssen, unter den Leuten, die von seiner Ermittlungseinheit überführt und danach zu teils langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Während der vier Jahre von Deborahs Verschwinden bis zu ihrer Ermordung hatte Felber in regelmäßigen Abständen seltsame Todesdrohungen in Form von Trauerzirkularen erhalten. Vor wenigen Wochen war er in der Wohnung seiner Mutter versehentlich auf eine identische Todesdrohung gestoßen, die nicht Deborah, sondern seinem Vater gegolten hatte und von 1999 datierte. Zuerst hatte er sie für ein gewöhnliches Trauerzirkular gehalten, doch dann war ihm der falsche Todestag aufgefallen. Sein Vater war einen knappen Monat zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, also vor dem Zeitpunkt, der ihm in der Todesanzeige bestimmt worden war.

Hatte der wahnsinnige Täter mit der Entführung und Tötung von Deborah ein Vorhaben zu Ende gebracht, das durch den unerwarteten Tod von Felbers Vater unmöglich geworden war? Hatte er Pascal Felber stellvertretend für seinen Vater quälen, sich an ihm rächen wollen?

Felber wusste, wie absurd das alles klang. Sein Freund, der Polizeipsychologe Peter Hofmann, hatte es ihm mehr als einmal gesagt. Aber es war die einzige Spur, und wenn er dieser nicht nachging, würde er weiterhin keine Nacht ruhig schlafen können.

Auf der Höhe des Schlosshügels von Lenzburg rief er seine Freundin Sara an und teilte ihr mit, dass er auf dem Rückweg sei. Sie war in der kleinen Kunstgalerie im Zürcher Niederdorf, die sie zusammen mit einer Künstlerfreundin betrieb. Ob er etwas gefunden habe, wollte sie wissen.

»Ein paar Hinweise, viele Erinnerungen«, sagte Felber unbestimmt.

Was er mit nach Hause brachte, war tatsächlich ernüchternd wenig. Viele Fakten, viel Papier, dennoch nur ein paar vage Hinweise, nicht mehr. Mithilfe der lokalen Polizei und des Archivs der Vormundschaftsbehörde hatte Felber die fünf Kinder aus Sonnentempler-Familien eruiert, die unter seinem Vater fremdplatziert worden waren. Er hatte ihre Lebensläufe nachgezeichnet, ihre Wohnorte zum Zeitpunkt der Entführung Deborahs und des Mordes an ihr, mögliche Beziehungen zur Aargauer Gemeinde Wettingen, wo man Deborahs Leiche gefunden hatte, Verbindungen zum Spital, wo sie bis zu ihrer Entführung gearbeitet hatte – nichts.

Einer war gestorben, zwei waren nachweislich zum Entführungszeitpunkt im Ausland gewesen. Eine war Musikerin geworden und würde morgen in Zürich ein Konzert geben, für das sich Felber von Freiburg aus eine Karte besorgt hatte. Der fünfte war 1997 in Kanada verschollen. Felber hatte mit den Pflegeeltern ein Treffen vereinbart, für weitere Auskünfte würden ihm aber die Kollegen weiterhelfen müssen. Das war allerdings etwas schwierig, weil er zurzeit dispensiert war und die Auflage hatte, sich einer Burn-out-Therapie zu unterziehen und sich regelmäßig mit dem Polizeipsychologen zu treffen. Stattdessen war er sofort, nachdem er seine Auszeit eingefädelt hatte, nach Freiburg gefahren.

Wie er sich so durch die Landschaft fahren ließ, fragte er sich – einmal mehr –, ob er sich nicht in etwas verrannte. Ob er vielleicht doch der falschen Spur nachging, was mehr als wahrscheinlich war. Die Sache glitt ihm wie Sand durch die Finger. Vermutlich musste er Hofmann recht geben, der bei ihrem letzten Gespräch auf der Beerdigung ihres Kollegen Christoph Altherr gemeint hatte, er jage einem Phantom nach und habe gute Chancen, in einer geschlossenen Anstalt zu landen. Aber irgendjemand hatte Deborah gefangen, sie getötet, irgendjemand hatte ihm ihren abgeschnittenen Ringfinger geschickt, jemand hatte ihre Leiche in einem Acker abgelegt. Und solange dieser Jemand frei herumlief, stellte er eine Bedrohung für Felber und vor allem für seine Kinder, Meret und Linus, dar.

Felber seufzte und schloss die Augen. Die Seniorengruppe war offenbar in Aarau ausgestiegen, man hörte nur noch regelmäßige Beats aus einem Kopfhörer auf der anderen Seite des Wagens.

Kurz vor halb vier traf er am Zürcher Hauptbahnhof ein. Zu Fuß ging er Richtung Rigiplatz und von dort bis zum gelb-weiß bemalten Wohnblock am Hadlaubsteig, wo er im Hochparterre mit seinem Sohn Linus wohnte.

Der hatte sich mit seinem Laptop auf der Terrasse eingerichtet, in Shorts und T-Shirt, mit Kopfhörern auf den Ohren. Er schreckte zusammen, als Felber von innen an die Scheibe klopfte.

»Alles gut bei dir?«, fragte Felber.

Linus nahm die Hörer ab und nickte. »Klar. Bei dir?«

»Alles gut. Ich geh duschen.«

»Ja, ist eine Scheißhitze.«

Später, als er im Schrank nach einem Anzug suchte, der ihm noch passte und nicht allzu zerknittert war, stand Linus plötzlich hinter ihm im Zimmer.

»Erschreck mich doch nicht so!«

»Was suchst du denn?«

»Ich brauch was Anständiges zum Anziehen. Ich geh morgen in ein Konzert.«

»Und da brauchst du was Schickes?«

»Es ist ein klassisches Konzert.«

»Du?«

»Mhm.«

»Mit Sara?«

»Nein«, brummte Felber und zog einen braunen Blazer hervor.

»Ein Fall?«

»Sozusagen.«

Linus fragte nicht weiter. Er nahm an, dass es um die Sache mit seiner Mutter ging. Deswegen war sein Vater ja auch zehn Tage in seiner alten Heimat gewesen und hatte mit irgendwelchen alten Beamten über die alten Fälle seines eigenen Vaters gesprochen, der gestorben war, als Linus vier gewesen war.

»Wenn du einen hast, der passt, kannst du ihn gleich draußen lassen. Für Meret und Jan.«

»Für die Hochzeit? – Doch nicht dieses alte Ding.«

»Hast du was Besseres?«

»Sara organisiert mir was.«

Linus pfiff anerkennend durch die Zähne und ging aus dem Zimmer.

Felber tat es ihm nach. In seinem Arbeitszimmer machte er sich Notizen zum weiteren Vorgehen. Morgen Konzert in der Tonhalle, am Dienstag Termin bei der Sektenberatung. Dann wollte er noch eine Anfrage an die Polizei von Québec schicken, um nähere Informationen über den Verschollenen zu bekommen.

Nachdem er alles aufgeschrieben hatte, nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu Linus auf die Terrasse. Die riesigen alten Bäume legten ihren kühlenden Schatten auf Haus und Garten. Auch bei der schlimmsten Frühsommerhitze ließ es sich am Hadlaubsteig recht angenehm leben. Aber Frieden stellt sich nicht ein, wo einmal die Angst Einzug gehalten hat.

Zünftig

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