Читать книгу Zünftig - Marc Späni - Страница 5

PROLOG

Оглавление

»Einmal nahm mich Jo mit nach Zürich. Ich erinnere mich an ein mächtiges, düsteres Gebäude mit vielen Balkonen, Türmchen und farbigen Glasfenstern, das in seltsamem Kontrast stand zu dem hellen Park, in dem es sich befand. Man ließ mich natürlich nicht an dem Gespräch teilnehmen. Ich wartete, zuerst auf der Terrasse, wo mir Bedienstete etwas zu trinken brachten, dann im Garten. Als wir gingen, war Jo außer sich. Die ganze Rückfahrt über sagte er immer wieder, der Mann, den wir besucht hätten, sei ein Teufel, ein Dämon, vielleicht sogar der Satan selber. Ein paar Monate später geschahen die Morde.«

*

Zuerst sah es nach einem gewöhnlichen Brand aus, als die Feuerwehr in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1994 in die Freiburger Gemeinde Cheiry ausrückte. Doch dann machten die Männer in den Kellerräumen des scheinbar menschenleeren Gebäudes eine furchtbare Entdeckung. In einer Art Sanktuarium lagen, sternförmig angeordnet, 21 Leichen, zwei weitere Tote fand man in anderen Räumen des Hauses: zwölf Frauen, zehn Männer und ein Kind. Wie man bald herausfand, gehörten sie alle dem »Ordre du Temple Solaire« an, dem »Orden des Sonnentempels«, kurz OTS, einer Sekte, die seit den 80er-Jahren in der Westschweiz, in Frankreich und in Kanada aktiv war. 20 der Toten waren durch Pistolenschüsse getötet worden, einige trugen Plastiksäcke über dem Kopf.

Während Feuerwehrleute und Polizeibeamte noch sprachlos vor dem grausigen Fund standen, stießen Rettungskräfte in drei ebenfalls durch einen Brand zerstörten Chalets im Walliser Bergdorf Granges-sur-Salvan, weniger als 100 Kilometer von Cheiry entfernt, auf die verkohlten Körper von weiteren 25 Menschen. Sie waren gleich angeordnet wie diejenigen in Cheiry, auf dieselbe Art umgekommen.

48 Sektenmitglieder hatten in dieser Oktobernacht den Tod gefunden, darunter fünf Kinder. Es war das schlimmste Verbrechen, das die Schweiz je erlebt hatte.

Dokumente, die den Behörden zugespielt wurden oder die den Brand unbeschadet überstanden hatten, gaben Einblick in die verworrene Ideologie, mit der die Sonnentempler ihre Tat rechtfertigten: ein Gemisch unterschiedlicher esoterischer Lehren, die auf die fatale Überzeugung hinausliefen, dass der körperliche Tod die Voraussetzung für eine spirituelle Reise, den »Transit«, zum Stern Sirius sei. Im Tod sollten die Auserwählten einer drohenden Apokalypse entkommen.

Die monatelangen Untersuchungen ergaben aber, dass höchstens 15 dieser Personen freiwillig in den Tod gegangen waren. Andere waren mit Betäubungsmitteln willig gemacht, sieben sogar explizit als Verräter hingerichtet worden. Man hatte die Mitglieder über Monate auf den »Transit« vorbereitet und Gesinnungstests unterzogen. Unwillige hatte man in der Nacht des Übergangs skrupellos in die Todesfalle gelockt.

Zwischen 1994 und 1997 kamen in Frankreich und Kanada weitere 25 Sonnentempler ums Leben. Unter den 73 Todesopfern waren neun Kinder.

Nach den Massenmorden in der Westschweiz befassten sich auch die kantonalen Vormundschaftsbehörden mit den Sonnentemplern. Es ging um die Frage, ob der Staat das Recht habe, überlebenden Sektenmitgliedern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen, um diese vor weiteren Gewalttaten zu schützen.

Zünftig

Подняться наверх