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Kapitel 8

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Orte um den Zürichsee, an denen vorrömische Naturheiligtümer, Ritualplätze, Steinkreise oder Kulthügel nachgewiesen werden können, sind ausnahmslos in Relation zu Sonne oder Mond gesetzt, sind ausgerichtet auf den Sonnenaufgang an Mittwinter, die große südliche Mondwende und andere Einschnitte im astrologischen Kalender. Sie zeugen davon, dass lange vor unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich schon in den matriarchalen Gesellschaften der Jungsteinzeit, ein tiefes Bewusstsein für das harmonische Zusammenspiel der Jahreszeiten, der Lebewesen wie auch der Gestirne bestand. Oft sind es Kraftorte mit besonderer feinstofflicher Energie. Eine solche Stelle mit Kraftwerten von bis zu 700.000 Boviseinheiten (!) befindet sich nur wenige Kilometer außerhalb von Zürich, auf der Forch bei Aesch. Hier kreuzen sich nämlich mehrere sogenannte Ley-Linien, Energie-Adern, die prähistorische Kraftorte wie Stonehenge, die Pyramiden, die Extern-Steine oder das Labyrinth von Chartres verbinden. Der Architekt Otto Zollinger, der 1922 beauftragt wurde, dort ein Denkmal für die Zürcher Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu bauen, muss die spirituelle Bedeutung des Ortes erkannt haben; ist die 18 Meter hohe Flamme auf dem Stufensockel doch nichts anderes als ein Obelisk, Symbol für die Verknüpfung der materiellen mit der geistigen Welt.

Auch Otto Froebel, der Ende des 19. Jahrhunderts den Garten der Villa Brunegg entworfen hatte, musste tiefe Ahnung vom geheimen Zusammenwirken universeller Prinzipien gehabt haben. Im Gegensatz zu anderen Zürcher Villengärten dieser Epoche war derjenige der Villa Brunegg ein wahrer Mikrokosmos voll innerer Harmonie und Symbolik. Im Zentrum, als Herzstück, die Rosenbeete; in jeder Himmelsrichtung ein Wasserelement: der Springbrunnen beim Haus vor der unteren Loggia, das flache Bassin auf der Westseite, die Nymphengrotte hinter dem Laubengang in Osten, der großzügige Neptunbrunnen in Norden. Dahinter der kleine Tempel auf dem Belveder. Geschwungene Wege, kleine Stützmauern, Kaskaden, Statuen antiker Gottheiten von einem venezianischen Bildhauer, Symmetrie ohne Starrheit. Eine Anlage, dafür geschaffen, die großen Einschnitte im Kalender zu begehen, wie die Sommersonnenwende in ein paar Wochen. Als spürten sie die Kraft des Ortes, hatten sich in den letzten Jahren Glühwürmchen angesiedelt, die in Sommernächten den Bereich um das Rosenbeet bis zum Nympharium in ein Meer magischer Lichtpunkte verwandelten.

Es war ein besonderes Jahr, ein Mondjahr, ein Jahr der Veränderung. Zuerst im Mai der Blutmond: Sie war allein mit Jakobs Mercedes zur Forch hochgefahren, zu diesem einmaligen Kraftort neben der Flammenskulptur, um sich dem energetischen Einfluss des riesigen Mondes hinzugeben. Wenig Leute waren oben gewesen, mehrheitlich Familien, aber abseits. Der Himmel war wolkenlos gewesen, wie seit Längerem wieder. Kein Regen, keine Wolken. Auch das waren Zeichen.

Früher hatten sie manchmal auf dem Jura-Bölchen, an diesem magischen Berg, Holzfeuer entfacht, aber das war lange her. Noch früher waren sie ums Holzfeuer im Garten der Pyramide in Genf getanzt – vor mehr als 25 Jahren. Von den Leuten von damals war heute niemand mehr dabei, die meisten waren tot. Es war eine neue Gemeinschaft, eine kleinere, friedlichere, passend zu dem Garten der Industriellenvilla, passend auch zu einem Jakob Brunegg, der immer teilnahm, wenn auch nur am Rande.

Für die Feier müsste die Brunnenanlage repariert werden. Die Verwaltung würde morgen jemanden vorbeischicken, um die Sache anzuschauen. Durch das Alter des Brunnens und die Vorgaben der Denkmalpflege könnte es allerdings schwierig werden.

Sie setzte den Strohhut auf und machte sich mit dem Kugelschreiber eine Notiz in ihre kleine Agenda. Um den Brunnen war mit hellem und dunklem Kies eine Art Sonnengeflecht auf den Boden gezeichnet. Mit Holzfackeln würde sie den Kreis verstärken, diesen dann dreimal abschreiten, das Licht aufnehmen, die höheren Kräfte anrufen, gewahr werden der Macht des Rituals. Vielleicht gemeinsam das »Awen« singen, auf die eine oder andere Form sich das Vergangene vergegenwärtigen, es rituell zum Abschluss bringen mithilfe des Feuers oder in einer kleinen Retraite auf dem Belveder beim Tempelchen. Niederschreiben, was einen beschäftigte, die Papiere später dem reinigenden Feuer übergeben. Oder doch lieber ohne Stift und Papier, intuitiver, vielleicht mit schamanischen Holzstäben? Danach aber auf jeden Fall etwas Gemeinsames … Sie hatte so viele Ideen, und hinter jeder taten sich neue Bezüge auf. Sie würde sich beschränken müssen. Ja, das war es, Beschränkung, Beschränkung auf ein, zwei einfache, archaische Rituale. Das allein wäre der Wende würdig.

Von der Rückseite des Hauses hörte sie einen Automotor, dann das Zuschlagen einer Tür, kurz darauf Schritte auf dem Kies. Thomas. Délphine Michelet verkrampfte sich.

In gemächlichem Schritt kam er auf sie zu, ohne eine Geste des Grußes, als wäre sie eine der vielen Statuen.

»Das Zeug ist total verrostet«, bemerkte er mit Blick auf den trockenen Neptunbrunnen.

»Die Handwerker werden das anschauen.«

»Steht eine hohe Feier an?«

»Erst in ein paar Wochen«, sagte sie knapp.

»Was betet ihr diesmal an, die Sonne, den Baal, den Golem?«

»Wir feiern die Sonnenwende.«

»Die Sonne, die allmächtige – Mutter.« Er schaute seine Stiefmutter schräg an.

»Ja, die Sonne«, sagte sie trotzig, »der Quell allen Lebens und …« Immer wenn sie mit ihm redete, kamen ihre Worte schal und floskelhaft heraus, die Sätze versiegten halb ausgesprochen.

»Ich bin kein Kenner dieser hohen Wissenschaft«, fuhr Thomas großspurig fort, »aber ist die Sonnenwende nicht auch das Fest der Vergänglichkeit?«

»Ein Moment in einem Zyklus, der zur Wiedergeburt und in einen neuen Jahreskreis führt, immer wieder.«

»Die alte Illusion, dass alles ewig weitergeht.«

»Das geht es auch, es ist eine Kontinuität über den Einzelnen hinaus …«

»Ich habe nie verstanden, wie man sich für eine Kontinuität begeistern kann, die über den Einzelnen hinausgeht«, erklärte er. »Entscheidend ist, wann der Einzelne geht, und da gibt es sehr große Unterschiede.«

Sie zuckte trotzig mit den Schultern und drehte den Strohhut zwischen den Händen. Warum sollte sie mit ihrem Stiefsohn diskutieren? Es ging ihm nur um Provokation und Spott.

»Macht ihr auch Opferrituale?«, fragte er.

Sie holte tief Luft, bevor sie ihm antwortete, dass sie das natürlich nicht vorhatten.

»Schade.«

»Es geht darum, den Jahreskreis, die Wiederkehr zu feiern, eine Art Reinigung, wie schon unsere Vorfahren seit Urzeiten …«

»Aber gerade bei den Kelten war die Sühne ein wichtiges Element in diesem Zusammenhang. Rituelle Opferungen, um Sühne zu leisten.«

Sie schüttelte den Kopf und blickte auf das leere Wasserbecken, in dem sich trockene Blätter angesammelt hatten.

»Es sühne, wer zu sühnen hat«, stichelte er weiter.

»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, fuhr sie auf, schaute jedoch gleich wieder weg. Eine Sekunde lang hatte sie das Bild der toten Frau im Foyer vor Augen. Sie bekam trotz der Junihitze Gänsehaut.

»Qui tacet consentire videtur«, sagte Thomas und zeigte mit dem Finger auf sie.

Sie verstand kein Latein und fragte sich, ob er extra vor ihren Treffen immer ein Zitat heraussuchte, bloß um sie zu demütigen.

»Wie geht’s ihm heute?«, wechselte er plötzlich das Thema.

Sie wusste, dass er seinen Vater meinte. »Mäßig. Die Pflege ist seit einer halben Stunde da.«

»Also dann«, sagte er fröhlich und wandte sich zum Gehen. »Weiterhin frohes Hokuspokus!« Er schnipste mit den Fingern in der Luft und ging pfeifend über den Kiesweg auf die Villa zu, die mit ihrer efeubewachsenen Fassade, den Loggien und Balkonen im Schatten alter Bäume stand.

Délphine blickte ihm nach und versuchte, das Gesicht der Toten zu verdrängen. Doch mit den Bildern war die Angst wieder da, die Angst und das Bewusstsein, selber Teil des Verbrechens zu sein, auch wenn sie nur das Schlimmste hatte verhindern wollen.

Wieder wurde ihr klar, dass Thomas sie umbringen würde, wenn sich die Gelegenheit ergäbe. Ohne mit der Wimper zu zucken, wie bei der anderen. Nicht nur wegen der Erbschaft, die ohnehin zum größten Teil schon als Vorbezug an ihn übergegangen war, sondern weil sie zu viel wusste. Sühne – damit lag er nicht einmal falsch. Sühne war ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg, viele Kulturen hatten Rituale dafür geschaffen, verstanden Sühne nicht als bloßes Entschuldigen und dann Weitergehen, sondern als ein Eingestehen der Schuld, als Bedingung für eine Versöhnung. Aber für Thomas war Sühne Aburteilen, Strafen. Sie diente nicht der Wiederherstellung der Harmonie, an die er ohnehin nicht glaubte, sondern der Befriedigung seiner Lust an Schmerz, an Gewalt und dem Leid anderer.

Der Dunsthimmel lag wie ein Leichentuch über dem Garten, als habe sich allein mit dem Auftauchen ihres Stiefsohnes alle Energie verflüchtigt. Wie jedes Mal, wenn er in ihre Gegenwart trat.

Zünftig

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