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Kapitel 2

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Das Konzert trug den Titel »World of Eternal Sounds« und wurde in der Maag-Halle aufgeführt, einem topmodernen Konzertlokal in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Zahnradfabrik, gleich neben dem Bahnhof Hardbrücke. Obwohl es schon kurz nach sieben war, lag noch immer eine drückende Schwüle über der Stadt. Nichtsdestotrotz war die Ausgangsmeile im Kreis 5 voller Leute. Sie zogen zu den vielen Eventlokalen, standen in Gruppen beisammen oder saßen vor Bars und Cafés, aus denen laute Musik drang.

Als Felber am Fuß des Prime Towers vorbeiging, erinnerte er sich an ein Treffen mit einem Kleinkriminellen vor knapp zwei Monaten. Kurz darauf war der von der Mafia erschossen worden.

Auch auf dem Gelände vor der Tonhalle waren schon viele Leute versammelt. Der Saal, eine Konstruktion aus hellem Holz, die man eigens wegen des Umbaus der Tonhalle am General-Guisan-Quai in die Fabrikhalle eingesetzt hatte, war jedoch nur zur Hälfte gefüllt. Felber fand seinen Sitzplatz in der Mitte des Saales. Er hatte ein klassisches Orchester erwartet, das mit dem quälenden Stimmen der Instrumente beginnen würde, aber auf der großen Bühne standen nur ein einsamer Konzertflügel samt Hocker und ein weiterer Stuhl mit Notenpult. Egal, Felber bereute ohnehin längst, hierhergekommen zu sein. Er hielt es lieber mit Blues und R ’n’ B, vielleicht noch mit Jazz, wenn er nicht zu abgehoben war. Mittlerweile bezweifelte er, durch das Konzert mehr über diese Carole Michelet zu erfahren, als er aus den Akten wusste, mehr als ihm ein pensionierter Kollege seines Vaters im Seniorenwohnheim von Düdingen erzählt hatte. Hatte er tatsächlich geglaubt, er würde neue Erkenntnisse gewinnen, indem er zuhörte, wie die Frau einen Abend lang auf ihrem Instrument herumgeigte?

Carole Michelet kam kurz darauf allein auf die Bühne, eine vollschlanke junge Frau, deren Gesichtszüge Felber von seinem Platz aus nicht genau ausmachen konnte. Sie richtete Instrument und Bogen aus und begann ganz allein zu spielen, laut Programmheft eine Suite von Max Reger in d-Moll.

Felber wusste natürlich, wie ein Cello klang, aber das, was die junge Frau aus ihrem Instrument herausholte, war etwas ganz anderes. In hohen, langgezogenen Melodiebögen drückte Carole Michelet Nuancen von Gefühlen aus, die Felber unmöglich benennen konnte. Gebannt lauschte er den ungewohnten Klängen, und als das Cello in tiefere Lagen drang, schien es ihm, als rühre es im Grund seiner Seele, zu dem er selber keinen Zugang hatte.

Das zweite war ein Fantasiestück, las Felber im Programm, während der Applaus noch anhielt, Opus 73 von Robert Schumann. Er glaubte sich zu erinnern, dass das ein Romantiker war. »Am Brunnen vor dem Tore« kam ihm in den Sinn, oder war das Schu-bert gewesen? Für dieses Stück betrat ein Pianist die Bühne, auch er jung und auffallend dünn. Er begann mit filigranen Klangtrauben, in die sich das Cello nach wenigen Sekunden hineinwob, ein Über- und Ineinander feinster Wellenbewegungen, das noch intensiver von Felbers Innerstem Besitz ergriff als das letzte Stück. Voller Verwunderung spürte er, wie ihn ein wohliger Schmerz durchströmte, wie er mit dem, was geschehen war, versöhnt schien, wie sich die Anspannung, die quälende Angst und die fiebrige Verzweiflung aufzulösen schienen.

Einen Moment erinnerte er sich daran, wie ihn vor wenigen Wochen ein seltsamer Heimatschützer im Zürcher Oberland in einer unterirdischen Militäranlage eingesperrt und ihm unbeabsichtigt einen Moment voller Frieden und Ruhe beschert hatte. Auch der war mittlerweile tot. Von der Mafia ermordet.

Wieder anders, aber nicht weniger gefühlsintensiv, ging es nach einer kurzen Pause weiter, während der Felber gedankenversunken sitzen geblieben war. Die Nocturne einer Lili Boulanger wurde nun wiedergegeben, von der Felber noch nie gehört hatte, aus dem frühen 20. Jahrhundert, ebenfalls mit Piano, ein Stück voller Zartheit, das Klavier zwischendurch fast schon jazzig, jedoch wie mit Samthandschuhen gespielt, das Cello leicht und schwebend.

Es folgte ein weiteres Solostück. Carole Michelets Finger zuckten nur so über das Griffbrett, der Bogen tanzte über die Saiten, da war tiefe Gefühlskraft gepaart mit unglaublicher technischer Präzision. Lächerlich, sagte Felber sich immer wieder, lächerlich und absurd der Gedanke, dass diese Frau eine Mörderin sein soll, dass ein Mensch mit so feinem Gefühl einen anderen Menschen entführt, jahrelang gefangen gehalten und am Ende kaltblütig getötet haben soll. Absolut lächerlich.

Der Schlussapplaus riss ihn aus dem traumartigen Zustand, in den ihn das letzte Stück gezogen hatte. Benommen und verwirrt folgte er dem Publikum, das sich fröhlich über die Kunstfertigkeit der beiden Musiker, die herrliche Akustik des Saales und die Stückauswahl austauschte. Er wartete, bis eine Gruppe den Durchgang zur Tür freimachte, als ihn jemand sanft am Arm packte.

»C’est bien vous, Monsieur Felber?« Sie sind doch Herr Felber?

Vor ihm stand Carole Michelet, die eben noch mit ihrem Cello Felbers Gefühlswelt auf den Kopf gestellt hatte, und musterte ihn erwartungsvoll.

»Woher wissen Sie, dass ich … wer ich bin?«, fragte er auf Französisch.

»Pierre hat es mir gesagt«, erklärte sie.

Pierre Armand, der ehemalige Arbeitskollege von Felbers Vater, hatte viel über die junge Frau erzählt. Dass der mittlerweile über 80-Jährige bis heute mit ihr in Kontakt stand, hatte er offenbar vergessen zu erwähnen.

Wenige Minuten später saßen Felber und Carole Michelet in einer Nische hinter der Bühne. Bühnentechniker gingen mit Werkzeugkoffern vorbei, wünschten eine gute Nacht.

»Ihre Musik ist fantastisch«, sagte Felber und kam sich gleich blöd vor. Er fühlte sich auf Französisch nicht immer ganz treffsicher.

»Es hat Ihnen gefallen?«

»Ich verstehe nicht viel von Musik. Ich kann es nicht beschreiben, aber es hat mich sehr bewegt.« Wieder ein mühsamer Satz, der nicht ganz das ausdrückte, was er auf Deutsch gesagt hätte.

Carole musterte ihn mit lebhaften Augen. »Pierre hat gesagt, dass Sie nach den Kindern suchen, die man damals fremdplatziert hat.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«

»Nur das.«

Felber atmete hörbar ein und aus. »Mein Vater, Louis Felber, hat damals für die Vormundschaftsbehörde gearbeitet, Sie müssten sich an ihn erinnern.«

Die Musikerin blickte lange ins Leere. »Es kann sein«, sagte sie dann langsam und leise. »Die Erinnerungen sind diffus geworden, und das ist gut so.« Plötzlich schaute sie ihn an und fragte mit veränderter Stimme: »Sie sind auch Romand?«

»Ich bin in Fribourg aufgewachsen. Als das Ganze passierte, in Cheiry und Granges, waren wir aber schon in Zürich.«

Bei der Nennung der beiden Ortschaften zuckte sie leicht zusammen. »Was ist mit Ihrem Vater?«

»Er ist gestorben, vor 20 Jahren.«

Ihr Blick ging wieder ins Leere, zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. »Was suchen Sie?«, fragte sie nach einer Weile. »Versöhnung? Wiedergutmachung?«

Felber schaute sie irritiert an.

»Aus Sicht der Behörden war es sicher gerechtfertigt«, fuhr sie tonlos fort, »aber als Kind … Können Sie sich vorstellen, was das für ein Kind bedeutet?«

Felber schüttelte den Kopf.

Zwei Arbeiter schoben große Kesselpauken unter Stoffbezügen vorbei, wahrscheinlich für ein größeres Konzert am nächsten Tag.

»Jemand hat meine Frau entführt«, sagte Felber nach einer Weile, »vier Jahre gefangen gehalten und dann getötet.« Dieser Satz gab dem Gespräch augenblicklich eine andere Wendung. Er spürte es daran, dass Carole zwar nach wie vor seinem Blick auswich, aber aufrechter dasaß, angespannt.

»Davon hat Pierre nichts gesagt«, murmelte sie.

Felber hatte angefangen, dann konnte er auch gleich alles erzählen, von den seltsamen Todesanzeigen mit Hinweisen auf Deborahs Tod, vier an der Zahl, die er in unregelmäßigen Abständen im Briefkasten gefunden hatte. Von dem abgetrennten Finger, den man ihm per Post an die Kantonspolizei geschickt hatte. Wie man vergangenen Frühling Deborahs Leiche auf einem Acker in der Zürcher Agglomeration gefunden hatte und wie er unter den Sachen seines Vaters auf eine ähnliche Todesanzeige gestoßen war, datiert auf einen Zeitpunkt, nicht ganz einen Monat nachdem dieser bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

»Mein Gott, so viel Leid«, murmelte Carole, als Felber seine Ausführungen beendet hatte.

Die Last des Gesprächs lag zentnerschwer in der Luft. Felber spürte seinen Atem, seine kalten Hände auf den Knien. Sein Blazer spannte an den Schultern.

»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach er nach einer Weile die Stille und räusperte sich. »Es war dumm von mir, herzukommen und Ihnen das alles zu erzählen.« Er machte Anstalten aufzustehen, aber Carole blieb sitzen und blickte ihn ruhig an.

»Sie glauben«, sagte sie ganz ohne Sarkasmus, »eines der Kinder von damals wollte sich rächen? An Ihrem Vater und dann an Ihnen?«

Felber seufzte. »Ich weiß, es klingt absurd.«

»Wie viele sind es?«

»Wie viele was?«

»Wie viele Kinder, die man damals aus ihren Familien gerissen und in Pflegefamilien untergebracht hat?«

»Es sind nur vier.« Felber war selbst überrascht gewesen. In seiner Erinnerung hatte man viel mehr »Schützlinge«, wie seine Mutter sie genannt hatte, nach den Massakern von 1994 fremdplatziert. Er zählte die Namen der anderen drei auf. »Sandrine Vernet, Serge Duverney, Joël Dalimier.«

»Sie sind gekommen, um zu sehen, ob ich als Täterin infrage komme«, konstatierte sie leise.

Felber zog entschuldigend die Schultern hoch. »Es ist meine einzige Spur. Ich muss meine Familie schützen.«

Carole schien ihm nicht übelzunehmen, dass er sie verdächtigt hatte. »Ich habe nicht mehr alle präsent«, fuhr sie fort. »Aber ich bin mir sicher, dass da noch jemand war. Patrick … Patrick Luyet.«

»Patrick Luyet, ja«, bestätigte Felber. »Er ist vor drei Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen, in Spanien.«

»Tatsächlich«, sagte sie, und es klang mehr wie eine Feststellung. »Mit Sandrine habe ich noch ab und zu Kontakt. Sie lebt in Singapur.«

Das hatte Felber mithilfe von Linus über das Internet bereits herausgefunden. Sandrine Vernet hatte im Zeitraum von Deborahs Verschwinden bis zu ihrem Tod in Singapur gelebt, wo sie eine Art Yoga-Zentrum führte. Auch sie fiel als Täterin weg.

»Und Joël wollte nach Kanada auswandern, glaube ich.«

Felber nickte. Aber in Kanada verlor sich Joël Dalimiers Spur Ende der 90er-Jahre. Die Pflegeeltern, die Felber übernächste Woche traf, würden auch nicht viel mehr sagen können.

»Die Ordensleute glaubten, in Québec sei eine Art Schutzzone«, erklärte Carole, »ein Ort, der von der Apokalypse verschont würde. Von der Endzeit, die dann doch nicht gekommen ist … oder anders, als man sie sich vorgestellt hatte.«

Tatsächlich anders, dachte Felber bitter, in Form von Gewalt, Mord und unsäglichem Leid.

Carole knetete einen Augenblick ihre Finger, dann schaute sie auf. »Ich glaube nicht, dass eines der Kinder Ihnen das angetan hat. Und von den Erwachsenen sind die meisten mittlerweile tot, entweder in Cheiry und Granges oder im darauffolgenden Jahr bei Grenoble gestorben. Meine Mutter …« Sie stockte. »Meine Mutter hatte damals erbittert für das Sorgerecht gekämpft.«

Felber hatte in den Akten gelesen, dass Délphine Michelet noch in den 90er-Jahren Jakob Brunegg, einen schwerreichen Zürcher Industriellen, geheiratet hatte. Zusammen hatten sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Entscheid der Vormundschaftsbehörde rückgängig zu machen. Felbers Vater hatte sich allerdings erfolgreich dagegengestellt, weil Michelet im engsten Kreis der Sekte verkehrt und er die Gefahr einer weiteren Gewalttat als zu hoch eingeschätzt hatte.

»Ich war damals 13. Drei Jahre darauf, mit 16, hatte ich von Gesetzes wegen wieder die Möglichkeit, den Kontakt zu meiner Mutter zu suchen.«

»Und das haben Sie?«

Sie nickte. »Wir haben noch immer ein gutes Verhältnis. Damals, nach der Sorgerechtssache, hätte meine Mutter sicher Grund gehabt, Ihren Vater zu hassen. Aber so viele Jahre später …«

Felber war klar, dass das keinen Sinn ergab.

»Was würden Sie tun«, fragte Carole, »wenn Sie ihn finden?«

Felber zog die Brauen hoch. Er biss sich auf die Lippen, schüttelte leise den Kopf, schaute weg. Er wusste es schlicht nicht.

Carole Michelet versprach, ihre Mutter nach dem verschollenen Joël Dalimier zu fragen. Sie tauschten ihre Telefonnummern, dann verabschiedeten sie sich.

Felber ging zu Fuß durch die mittlerweile leere Eingangshalle, anschließend unter den Säulen der Hardbrücke durch und fuhr mit dem Lift hoch zur Bushaltestelle. – Ja, was würde er tun, wenn er Deborahs Mörder finden würde? Er war für ihn weit mehr als bloß ein Täter, den man der Gerichtsbarkeit zuführen musste. Er war zu seinem persönlichen Feindbild geworden, einem Gegenüber, das übermenschliche Dimensionen angenommen hatte und ihn bis in seine Angstträume hinein verfolgte. Was er wollte, war die Gewissheit, dass Meret und Linus außer Gefahr waren, außerdem wollte er wieder ruhig schlafen können, ohne diese ständige Angst. Oder war es doch mehr? Wollte er auch Rache?

Felber erinnerte sich an ein Gespräch mit Linus über ein philosophisches Gedankenexperiment zur Frage, ob man einen Menschen töten dürfe, um andere zu retten. Es ging dabei um eine Straßenbahn, deren Bremsen versagten und die man durch Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis leiten konnte, wo statt fünf Arbeitern nur einer stand. Durfte man einen Menschen töten, um damit die Sicherheit von anderen zu gewährleisten? Machte es einen Unterschied, ob dieser Mensch ein Mörder war und die anderen die eigene Familie?

Der Konzertabend und die Begegnung mit der Cellistin hatten ihn aufgewühlt. Während er auf das weite Gleisfeld und die unzähligen Lichter der Stadt blickte, fiel er vollends in eine seltsame Mischung aus Melancholie und innerer Unruhe, die ihn einmal mehr nicht schlafen lassen würde. Er zog sich eine Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an und blies den Rauch in den samtenen Nachthimmel. Der Verkehr rauschte über die Hardbrücke, weit hinten kam ein 31er-Bus.

Zünftig

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