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Kapitel 4

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Von kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben zogen zwei Weidlinge in gerader Bahn aufeinander zu. Die beiden Stecher hatten sich bereits auf das Podest im Heck gestellt, hoben nun mithilfe der vorne Sitzenden die Lanzen in Richtung des entgegenkommenden Bootes. Die Münster-, die Rathausbrücke und das Limmatufer waren voller Zuschauer, auf der Wühre, dem schmalen Fußweg auf der linken Flussseite, war kein Durchkommen mehr. Auch auf den Trottoirs des Limmatquais stand man dicht gedrängt, und von den regelmäßig durchfahrenden Trams sah man hinter Wurstbuden und Festzelten nur die Stromabnehmer hin- und herfahren.

Nur noch wenige Meter trennten die beiden Boote. Schon schien der Zusammenprall unvermeidlich, da erfolgten zwei kräftige Stöße mit den stumpfen Lanzen. Mit wenigen Zentimetern Abstand schossen die Boote aneinander vorbei. Die Stecher rangen einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, dann stürzte einer von ihnen, es war der Vertreter der Stadtzunft, in voller Kleidung in die Limmat. Applaus und Hurra-Rufe aus den Zuschauerrängen, ein Punkt für die Zunft zum Kämbel. Die Boote wurden gewendet, der Besiegte schwamm zur Anlegestelle, wo man ihm aus dem Wasser half.

Der »Storchen«, Hotel, Restaurant und Tagungsort im Herzen der Zürcher Altstadt, war das Stammlokal der Zunft zur Schiffleuten, die zusammen mit dem Limmat-Club alle drei Jahre das Schifferstechen organisierte. In diesem Jahr hatte man sich wegen der steigenden Besucherzahl des gleichzeitig stattfindenden Züri-Fäschts dazu entschlossen, den traditionsreichen Anlass bereits einen Monat früher stattfinden zu lassen.

Gastgeber und geladene Gäste anderer Zünfte hatten sich unter den Arkaden des blumengeschmückten Gebäudes am Limmatufer versammelt, mit Blick auf das Turniergeviert und das Grossmünster mit seinen eigentümlichen Doppeltürmen, auf denen aus Anlass des Tages die weiß-blauen Kantonsfahnen wehten. Die meisten Anwesenden trugen Trachten, die an die Goethe-Zeit erinnerten, die Schiffleuten-Zünfter breitkrempige schwarze Hüte und blaue Gehröcke, andere Dreispitz oder Zylinderhut. Alles in allem eine bunte Blütenlese der »besseren« Zürcher Gesellschaft, wie schon seit der Gründung der Zünfte im späten Mittelalter.

Délphine Michelet stand zwischen Vater und Sohn Brunegg, mit einem schwarzen Sommerkleid und dunkler Sonnenbrille. Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen und wurde von niemandem angesprochen. Ihre Gedanken kreisten um den Anruf ihrer Tochter Carole am Vorabend. Der Wettkampf der jungen Zünfter ging völlig an ihr vorbei. Sie schaute höchstens kurz von ihrem Weißwein auf, wenn das Johlen der Menge anzeigte, dass wieder jemand seinen Kontrahenten ins Wasser befördert hatte und seine Zunft in die nächste Runde brachte. Mit halbem Ohr hörte sie, wie Jakob Brunegg mit Altregierungsrat Meienberg Small Talk hielt, über Wetter, Zunftanlässe und Familie, worüber man halt so sprach an einem solchen Tag.

Seine Nichte, erzählte der Weißhaarige, sei bei der Polizei, Kriminalpolizei, Leiterin einer Dienststelle.

Jakob zog bewundernd die Brauen hoch, mit diesem etwas spitzbübischen Ausdruck, der offenließ, was er wirklich dachte.

Jakob Bruneggs Sohn Thomas erklärte derweil einer hübschen jungen Frau in einem luftigen Sommerröckchen und einer großen Blume im Haar, dass man das Schifferstechen im Mittelalter mit Harnisch, Schild und Helm ausgeführt habe. Dabei seien immer wieder Wettkämpfer von ihrer Rüstung nach unten gezogen worden und ertrunken. Das sei bestimmt um einiges spannender gewesen als das hier.

Délphine rieb sich die Arme, sie hatte eine Gänsehaut bekommen. Sie zwang sich, ihren Stiefsohn zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Die brutalen Züge um die Mundwinkel, die Kälte in seinen Augen … Sahen das die anderen denn nicht? Nun, man musste eben genau hinsehen. Nicht wie diese dummen Mädchen mit ihren Sommerröckchen und Sandalettchen.

So wie Délphine Michelet nie heimisch geworden war unter den Zunftleuten, hatten auch diese sie nie als ihresgleichen akzeptiert, auch nicht 25 Jahre nachdem der alte Brunegg ihretwegen seine Frau verlassen hatte, Erbin einer steinreichen Bankiers-Familie. Délphine war fast 20 Jahre jünger als Jakob, stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte in ihren jungen Jahren als Stripperin gearbeitet und beschäftigte sich nun seit Längerem mit Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinserweiterung, mit »Okkultismus und Sektendingen«, wie die anderen sagten. Aber sie hatte in all den Jahren auch nie die Akzeptanz dieser Gesellschaft gesucht. Wenn sie ehrlich war, empfand sie bloß Verachtung gegenüber diesen Leuten, die krampfhaft versuchten, ihren gesellschaftlichen Status zu betonen. CEOs, Anwälte, Politiker, in ihrem Gefolge Frauen mit Sandaletten und Sommerröckchen, die in dieser Männerdomäne nur Dekorationswert hatten, an bestimmten Zunftanlässen nicht einmal im gleichen Saal wie ihre Männer essen durften! Wenn man die jungen Männer betrachtete, die sich um Leute wie Jakob scharten, um Kontakte zu knüpfen, für Praktikumsstellen in international tätigen Anwaltskanzleien oder Handelskammern, dann war das jedoch auch eine Form der Prostitution.

Nein, sie hatte nur Verachtung für diese Gesellschaft und ihre spießbürgerlichen Traditionen und Anlässe übrig. Immerhin würden diese aufhören, wenn Jakob nicht mehr war. Denn auch wenn er mit seinen 80 Jahren noch stattlich daherkam, »etwas darstellte«, wie man sagte, in Tracht und Zylinder, so fraß doch der Krebs in ihm. Natürlich redete man in einer Familie wie der Brunegg’schen nicht darüber. Man stockte nur stillschweigend das Pflegepersonal auf und ließ von Zeit zu Zeit neues medizinisches Inventar liefern.

Aber die Zeichen standen auf Veränderung. Es war ein Mondjahr. Im März hatte man im Thurgau Hunderte toter Vögel gefunden. Wie Steine seien sie vom Himmel gefallen. Die zuständigen Behörden hatten keine Erklärung für das Phänomen. Dabei war es klar: Es waren Zeichen. Zeichen für Veränderung. Veränderungen waren unumgänglich, doch diese machte Délphine Angst. Nicht so sehr der Verlust von Jakob, vielmehr dass sie mit Thomas allein zurückbleiben würde. Ein Widder im Sternzeichen, Venus und Mond superdominant – eine hochproblematische Ausgangslage. Zwar machte die astrologische Konstellation einen Menschen nicht automatisch zum Psychopathen, aber in diesem Fall war es eben so.

Und nun auch noch dieser Anruf von Carole. Der Name Felber. Der Sohn des alten Felber forsche den damaligen Sorgerechtsfällen nach. Es war, als tauche der Geist des alten Beamten aus der Vergangenheit auf. Die schrecklichen Bilder vom vergangenen Winter kamen in ihr hoch, vom Herbst vor vier Jahren, Gedanken an die Fehler von damals vor über 20 Jahren. Das alles wirbelte auf, legte sich schwer um sie, während die Zünfter blind ihre immer gleichen sinnentleerten Veranstaltungen abhielten, Schifferstechen und Sechseläuten, Martinimahl und Bott, geordnet, verhalten, konventionell.

2004 war sie zusammen mit Jakob knapp dem Tsunami in Thailand entronnen. Sie erinnerte sich, dass nicht einfach eine Flutwelle gekommen war, sondern dass sich zuerst das Meer vollständig zurückgezogen hatte, völlige Ebbe, Schiffe lagen umgekippt auf dem Sand. Und dann, erst dann war die Welle gekommen und mit ihr Tod und Verwüstung.

Die Glocken von St. Peter schlugen 15 Uhr, es ging in die Finalrunde.

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