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Kapitel 3

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»Jetzt halt doch mal still!« Sara zog am Ärmel des dunklen Vestons, den Felber über das T-Shirt angezogen hatte, und markierte mit Stecknadeln die Armlänge.

»Warum müssen solche Anlässe eigentlich so steif sein?«, seufzte er.

Sie lachte und machte sich am anderen Ärmel zu schaffen. »Für deinen Sohn kann es nicht elegant genug sein.«

Auch wenn Linus für gewöhnlich mit abgewetzten Jeans und bedruckten, nicht immer ganz frischen T-Shirts daherkam, das Haar wild durcheinander, legte er für die Hochzeit seiner Schwester Wert auf piekfeine Garderobe. Schon früher hatte er manchmal die Familie erstaunt, wenn er bei einem Familienfest, das man in lockerem Rahmen abzuhalten vereinbart hatte, partout mit Hemd und Krawatte erscheinen wollte – einer Kinderkrawatte mit Gummibändchen, wie sich Felber schmunzelnd erinnerte.

»Deine Tochter heiratet ja nur einmal«, nuschelte Sara, eine Stecknadel zwischen den Lippen. »Wäre blöd, wenn du als Einziger wie eine Vogelscheuche daherkommst.«

Felber zuckte mit den Schultern. »So komme ich mir vor wie ein Pinguin, das ist auch nicht besser.«

Meret heiratete ganz traditionell, was Felber nicht erstaunte. In solchen Sachen kam sie definitiv nach Deborah, nicht nach ihm. Der ursprüngliche Hochzeitstermin war Ende März gewesen, doch dann hatte man Deborahs Leiche gefunden und das Fest verschoben. Nun schien es, als wollten Meret und Jan den Aufschub durch doppelten Pomp wettmachen: zivile Trauung im Stadthaus an der Limmat, Apéro im Kirchgemeindehaus über dem Bahnhof Enge, Nachtessen im Belvoirpark-Restaurant etwas weiter stadtauswärts über dem See. Das Etablissement wurde von der Hotelfachschule geführt und hatte einen erstklassigen Ruf. Dabei waren die Preise vernünftig, was Felber sehr recht war, hatte er sich als Brautvater doch anerboten, für das Festessen aufzukommen. Der Lohn eines Kantonsbeamten in seiner Position war zwar anständig, aber Linus’ Ausbildung hatte lange Jahre an den Ersparnissen gezehrt, zudem war die Mietwohnung am Hadlaubsteig schweineteuer – wie mittlerweile überall in der Stadt.

Immerhin konnte er für seinen zukünftigen Schwiegersohn, der mit irgendwelchen Start-ups wahrscheinlich ein Vielfaches von Felber verdiente, mit einem besonderen Geschenk aufwarten, ohne noch einmal in die Tasche greifen zu müssen: Ihm schenkte er den Chrysler, Baujahr 1976, der Felbers Vater zu Lebzeiten gefahren hatte und der seither unbenutzt in der Tiefgarage der Liegenschaft am Hadlaubsteig stand. Mit Felbers Segen hatte sich Jan letztes Jahr darangemacht, den Oldtimer aufzumöbeln. Rechtzeitig zur Hochzeit hätte er ihn so weit, dass er den Wagen aus der Garage herausfahren könnte. Wenn Felber das restliche Gerümpel weggeräumt hatte, würde er den Parkplatz endlich aufgeben können.

Er sah schon vor sich, wie ihn Meret und Jan an schönen Frühlingstagen mit zwei, drei Kindern aus dem Altersheim abholten, für ein Ausfährtli mit dem Oldtimer, und sie gemeinsam zu Onkel Linus fuhren, der irgendwo im Appenzellerland einen Bauernhof betrieb, einen digitalisierten Hightech-Bauernhof vermutlich.

»Pascal, bitte!« Sara blickte zu Linus, der eben ins Wohnzimmer trat. »Dein Vater macht mich noch verrückt.«

Felber drehte den Kopf, so gut das in dieser Position eben ging.

»Hast du dir jetzt überlegt, ob du auch eine Produktion machst?«, fragte Linus, während er kritisch Felbers Aufmachung musterte.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich vorne hinstelle und einen Sketch vortrage oder Kindergeburtstagsspiele anleite!«

»Es wäre noch Platz für zwei, drei Vorführungen«, warf Linus ein.

Felber verdrehte die Augen.

»Jans Vater hat eine Drehorgel für den Einzug in den Belvoirpark organisiert.«

»Toll, dann deckt er ja den Bereich Unterhaltung vollständig ab. Meret erwartet wohl nicht von mir …«

Linus winkte ab. »Nein, sie nicht, aber ich in meiner Funktion …«

»Lass dir ja nicht einfallen, mich überraschend nach vorne zu holen!«, drohte Felber, doch Linus war schon auf dem Weg in sein Zimmer.

Vom Flur aus rief er: »Übrigens, morgen ist Schifferstechen. Geht ihr auch hin?«

»Was für ein Stechen?«, fragte Felber, überrascht von Linus’ plötzlichem Themenwechsel.

»Das Schifferstechen«, übersetzte Sara.

Felber zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.

Linus, der bis zur Tür zurückgekehrt war, schüttelte entgeistert den Kopf. »Man könnte meinen, du seist erst vor Kurzem nach Zürich gezogen. Aber vom Sechseläuten hast du schon mal gehört?«

»Sagt mir etwas.«

»Das Schifferstechen ist der zweitwichtigste Anlass der Zürcher Zünfte nach dem Sechseläuten!«, erklärte Sara.

»Eine Art Ritterturnier«, ergänzte Linus. »Mit Weidlingen auf dem Wasser.«

»Klingt faszinierend«, murrte Felber.

»Bei dem Wetter wird es Unmengen von Zuschauern haben«, gab Sara zu bedenken.

»Ein guter Grund, nicht hinzugehen«, schloss Felber das Thema ab.

Sara blinzelte Linus zu und hob entschuldigend die Schultern.

Der verschwand in seinem Zimmer.

»Du meinst doch nicht etwa, dass Linus tatsächlich vorhat…«, begann Felber.

Sara schüttelte den Kopf. »Dafür nimmt er sein Amt viel zu ernst.«

Meret hatte Linus nämlich gebeten, an ihrer Hochzeit den »Tätschmeister« zu spielen, wie man hierzulande den Zeremonienmeister nennt. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er unglaublich stolz darauf. Felber war überzeugt, dass er mit Hingabe und vollem Einsatz an die Aufgabe herangehen würde. So schwierig und unnahbar er als Kind gewesen war, so seltsam und unfreundlich er auch jetzt noch oft wirkte, legte er doch immer wieder eine Fähigkeit an den Tag, besondere Momente besonders zu gestalten. Einmal hatten Deborah und Felber bemerkt, dass sie ihren Hochzeitstag vergessen hatten. Sie waren losgegangen, um im Denner einen Prosecco zu kaufen. Als sie zurückkamen, war die Wohnung abgedunkelt, Kerzen brannten auf dem Tisch, auf ausgebreiteten Servietten lagen Teller mit Gebäck, aus der Stereoanlage drang Vogelgezwitscher und Meditationsmusik.

Felber waren Anlässe mit vielen Leuten in Anzügen und Krawatten ein Graus. Natürlich freute er sich für seine Tochter, mit der Mischung aus Stolz und Schmerz, die wohl alle Väter angesichts der Hochzeit ihrer Kinder empfinden. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er zurzeit keinen Sinn für solche Dinge hatte. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach Deborahs Mörder, die ewige Sorge, auch Meret und Linus könnten auf der Todesliste des Wahnsinnigen stehen. Er fragte sich, ob sich das je ändern würde, ob er je die Fragen beantworten, die Sache abschließen könnte.

Im Moment zumindest konnte er es nicht. So saß er wieder einmal abends in seinem kleinen Arbeitszimmer neben der Essnische. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Landkarte von Kanada ausgebreitet. Er hatte für August eine Bahnreise mit dem »Ocean« geplant, nur für sich und Linus, von Halifax nach Montréal, von da weiter nach New York. Dort würden sie Sara treffen, die ihrerseits einige Wochen bei ihrer Tochter Noélia in New Jersey verbringen wollte. Die Reise war ein kleines Zugeständnis an Linus, weil Felber für Meret und ihre Hochzeit so viel Geld aufwendete, während Linus keine Anstalten machte, sich fürs Leben zu binden.

Die Karte hatte er aber in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeschlagen: Ein pensionierter Beamter der »Sûreté du Québec« hatte sich auf seine Anfrage hin per Mail gemeldet. Alex Fortin schrieb, er habe damals, 1997, die Ermittlungen bei den Sonnentempler-Morden von Morin-Heights und Saint-Casimir geleitet und wolle Felber gern bei seinen Untersuchungen weiterhelfen. Er bat ihn, ihm präzise Fragen zukommen zu lassen, und bot ihm an, sich in einigen Tagen über Skype zu besprechen.

Während Sara bei leiser orientalischer Musik im Wohnzimmer an seinem Anzug nähte und Linus pfeifend zwischen der Küche und seinem Zimmer hin- und herging, formulierte Felber seine Fragen. Die erste war diejenige nach dem Verbleib von Joël Dalimier.

»Was machst du denn mit diesem altertümlichen Ding?« Linus war vor der Bürotür stehen geblieben. Nun trat er zum Tisch und musterte die Karte. »Unsere Strecke?«

Felber nickte.

Linus folgte der Bahnlinie mit dem Finger und nahm dann die Reiseunterlagen in die Hand, die daneben lagen. Plötzlich stockte er. »Du hast Sleeper Touring Class gebucht?«, fragte er fassungslos.

Felber nickte lachend. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, für die zweitägige Fahrt die teurere Kabine mit Zugang zum Panoramawagen zu reservieren.

»Das ist … Das ist … wow!«

Als Felber Linus kurz darauf am Kühlschrank hantieren und vor sich hin pfeifen hörte, nahm er seine Kartenstudien wieder auf. Nicht allzu weit von der Bahnstrecke entfernt lagen zwei kleine Ortschaften: Morin-Heights und Saint-Casimir, wo sich in den 90er-Jahren zwei Morde im Umfeld der Sonnentempler-Sekte ereignet hatten. Sollte sich wirklich eine Spur des verschollenen Joël Dalimier finden, dann hier. Von Montréal aus, rechnete Felber, waren es rund 100 Kilometer, in unterschiedliche Richtungen. Zwar hatten Linus und er dort einen Tag Aufenthalt geplant. Aber wie würde Linus darauf reagieren, wenn er ihn auf der gemeinsamen Reise allein ließ, um seinen eigenen Ermittlungen nachzugehen?

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