Читать книгу Tag der Nacht - Marcel Fenske-Pogrzeba - Страница 14

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Als Mara erwachte war ihre Mutter bereits unterwegs. Als Beweis lag ein Zettel mit ihrer Handschrift auf dem Küchentisch.

Liebe Prinzessin, schön, dass du dich gestern so gut mit Henning verstanden hast. Er wird heute Nachmittag nochmal vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist. Im Kühlschrank findest du Frühstück und Mittag. Mach dir einen schönen Tag. Kuss, Mama P.S.: Ich habe schon einmal ein paar Schulen in der Nähe rausgesucht. Sieh dir doch die Flyer durch und sage mir, welche du dir gerne ansehen würdest.

»Schulen?«, flüsterte Mara und besah sich des Stapels, der unter dem Zettel lag. Entnervt warf sie die Flyer in den Mülleimer, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen und machte sich Frühstück. Wenn Henning erst nachmittags kommen sollte, dann hatte sie noch ein paar Stunden Zeit, sich mit dem Geheimnis des Zylinders zu beschäftigen. Auch wenn es unheimlich war, wollte sie unbedingt herausfinden, warum dieser Mann sie scheinbar verfolgte.

Nachdenklich blickte sie in das braune Getränk, das zwischen ihren Fingern dampfte. Ab und zu löffelte sie ein paar Cornflakes und versuchte dahinter zu kommen, wo sie mit ihrer Suche anfangen könnte. Jedoch fiel ihr bis zum Boden der Kaffeetasse keine brauchbare Lösung ein. Also machte sich Mara wieder auf den Weg nach oben, um ihren Rucksack zu packen. Dabei bemerkte sie, dass ihre Mutter ihn über die Wäscheleine im Bad gehangen hatte. Das komische Material brauchte ewig, um zu trocknen und war immer noch klatschnass. Entnervt packte sie die Sachen in ihre Umhängetasche. Den durchweichten und gewellten Zeichenblock warf sie in den Mülleimer. Er war nun endgültig hinüber. So ein Mist.

Ein Blick aus dem Fenster sagte ihr, wo sie ihre Suche beginnen würde. Der Zylinderträger war inzwischen zweimal im Garten aufgetaucht, also musste es dort auch Spuren geben. Schnell warf sie sich die Tasche mit dem überdimensionierten Gesicht von Johnny Depp über und stürmte nach draußen.

Mit emsiger Geduld durchforstete sie die Beete, den kleinen Schuppen und den Waldrand, doch fand sie nichts, was irgendwie auf einen nächtlichen Besuch von mehr als einem Eichhörnchen oder Baummarder hindeutete. Mehrfach fiel ihr Blick zwischen die Bäume, hinein in den Wald. Mara traute sich nicht tiefer zwischen die Stämme zu treten. Ihr letzter Waldspaziergang lag schon einige Jahre zurück. Damals war sie gerade in die Schule gekommen und ihre Eltern wollten mit ihr einen Abenteuerausflug in einen Kletterpark in Brandenburg unternehmen. Das Ergebnis war gewesen, dass Mara abgerutscht war und eine ganze Woche im Krankenhaus wegen eines gebrochenen Schlüsselbeins hatte verbringen müssen. Die kleine Beule auf ihrer rechten Schulter erinnerte sie immer wieder daran, wenn sie in den Spiegel sah. Seitdem war Maras Faszination für die Natur stark gedämpft.

Enttäuscht verließ sie den Garten und beschloss im Dorf nach dem Mann mit dem Zylinder zu fragen. Anfangen wollte sie am Hafen, bei den drei jungen Männern, welche sie auch tatsächlich antraf. Doch erinnern konnte sich keiner an eine so auffällige Gestalt. Nur an ihre peinliche Aktion, bei der sie plötzlich ohne Vorwarnung rückwärts ins Wasser gefallen war. Das stellte Mara nicht gerade zufrieden und sie wollte sich abwenden, als sie einer der drei ansprach.

»You're new here, right? I've seen the truck with your furniture some weeks ago.«

Das war richtig. Maras Mutter war vor ein paar Wochen schon einmal hier gewesen, um die ersten Kisten und Möbel zu bringen. Hauptsächlich waren es dabei Kleider, Schlafzimmermöbel und Maras Schrank gewesen. Etwas Nützliches wie einen Fernseher hatte Viola nicht mitgebracht.

»Are you alone with your mom?«, fragte der, von dem sie glaubte er hieße Deklan.

Seine blauen Augen lächelten sie unter dunkelblonden Locken an und Mara wurde ein wenig rot, als sie nickte.

»Tell your mom, if you two need any help, my brother and I, we are living down this street. The second house on the right.«

Also eines der weißen Häuser. Sie nickte, bedankte sich und machte sich auf dem Weg zu dem Krabbenladen. Die Schweden sind echt super freundlich. Ist ja nicht zum Aushalten, grinste Mara in sich hinein.

»Hej«, sagte die Dame in dem Krabbenladen.

»Hej«, grüßte Mara zurück und fragte auf Englisch nach dem Mann mit Zylinder und dem Regenmantel, doch leider ohne Erfolg. In den anderen Geschäften erging es ihr ähnlich. Scheinbar kannte keiner im Dorf diesen auffälligen Mann. Enttäuscht sah Mara auf die Uhr und stellte fest, dass es schon fast Mittag war. Also machte sie sich auf den Weg zurück. Als sie in ihre Straße einbog sah sie drei Kinder, ungefähr in ihrem Alter, die sich eine Frisbeescheibe hin und her warfen. Zwei von ihnen hatten hellbraune Haare und so gut wie dasselbe Gesicht und dieselben Kleider. Offensichtlich Zwillinge. Der Dritte im Bunde hatte das typische blonde Haar des Nordens und einen etwas tumben Ausdruck im Gesicht, der durch seine Knollnase noch unterstützt wurde. Wenn der mal nicht Thorben oder Hennes heißt, dachte Mara.

»Hej. I'm the new one in town«, begrüßte sie die drei Jungen.

Die sagten nur »Hej« und warfen sich die Frisbee wieder zu. Mara ließ sich nicht anmerken, dass sie dieses Verhalten reichlich unhöflich fand.

»My name is Mara. Who are you?«

Die drei hörten auf zu spielen und sahen sie an. Die beiden kleineren Zwillinge ein wenig betreten. Der Junge mit der Knollnase ziemlich ungehalten. Doch sagen wollte keiner der drei etwas.

»I am looking for a big guy with sunglasses«, setzte Mara an.

»Vi talar inte engelska«, sagte er und warf einem der beiden die Frisbee zu.

»Aha«, sagte Mara und ging weiter.

»Ihr seid also die Ausnahme von der Regel.«

Offensichtlich würde sie wohl doch Schwedisch lernen müssen, um mit allen Leuten hier reden zu können. Ach was. In ein paar Wochen fahren wir sowieso wieder nach Hause.

Entnervt von ihrem erfolglosen Vormittag schmiss sich Mara in einen der Sessel und starrte hinaus in den Garten. Es musste doch Hinweise zu diesem Kerl geben. Es konnte doch nicht sein, dass sie als einzige einen mehr als zwei Meter großen Mann in Regenmantel und mit Flicken versehenden Zylinder gesehen hatte. Es sei denn, niemand wollte ihr etwas sagen. Diese Idee machte die ganze Sache noch viel verworrener und mysteriöser. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Henning bald kommen würde.

Also hatte sie noch ein paar Minuten, um sich abzulenken und das neue Geheimfach ihrer Mutter zu kontrollieren. Wichtig bei Geheimfächern war, sie regelmäßig zu überprüfen, damit man sich stets über den Inhalt sicher sein konnte und etwas gegen die Eltern in der Hand hatte. Geschwind rannte Mara ins Schlafzimmer und öffnete das Fach, doch was ihr dort entgegen blitzte raubte ihr den Atem.

Aus der kleinen Luke im Kleiderschrank ihrer Mutter blickte sie ein schwarzes, metallisches Ding in einer Lederhülle an, wie sie es nur aus dem Fernsehen kannte. Unsicher, ob sie es wirklich tun sollte blickte Mara die Waffe an und streckte dann die Hände danach aus. Das Ding war viel schwerer als sie es sich vorgestellt hatte und lag kalt zwischen ihren Fingern. Unheimlich funkelte ihr das Metall entgegen. Offensichtlich war die Waffe neu. Aber warum sollte sich ihre Mutter so etwas zulegen? In ihrer alten Wohnung hatte Mara noch nie etwas Derartiges gefunden. Mara wiegte die Kanone hin und her und überlegte den Knopf des Halfters zu lösen und sie ganz heraus zu ziehen. Da klopfte es an der Tür und erschrocken ließ sie die Waffe fallen. Mit einem harten Klonk landete sie auf dem Boden. Panisch verstaute Mara das Geheimnis wieder im Kleiderschrank und hastete zur Tür.

Henning hatte gute Laune und Kuchen mitgebracht. Sie spielten Karten und der Polizist erzählte ihr einiges über seinen Werdegang und die Geschichte des Dorfes. Svanesund war ein ziemlich altes Dorf, auch wenn es nicht den Anschein hatte. Von den Gebäuden aus den Anfängen des letzten Jahrtausends war allerdings so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Nur im Keller der Ortskirche waren noch die Grundfesten eines ehemaligen Gebäudes zu finden. Die Felsengräber im Wald zählten zu den Überbleibseln der alten Zeit. Die Gräber waren Mara immer noch unheimlich. Beim Gedanken daran, dass sie mitten im Wald lagen, dachte sie an den Mann mit Zylinder. Solche gruseligen Typen trieben sich doch immer an gruseligen Orten herum. Vielleicht gab es ja dort tatsächlich Hinweise.

»Können wir uns die Gräber noch einmal ansehen?«

»Es wird langsam dunkel. Wie ist es mit Morgen?«, fragte der Polizist.

Sie nickte. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihr, dass es schon zu spät für einen Ausflug war, denn die Sonne senkte sich bereits wieder dem Meer entgegen.

»Deine Mutter kommt gleich«, sagte Henning und blickte ebenfalls aus dem Fenster.

»Darf ich etwas fragen?«, setzte er nach einer Weile an.

»Mmmh?«, machte Mara.

»Your mom and your dad, they… «, in diesem Moment drehte sich der Schlüssel in der Tür und Viola betrat das Haus. Fröhlich begrüßte sie Henning und Mara. Um ihr Handgelenk baumelte eine Plastiktüte, aus der es verdächtig nach asiatischem Essen roch. Sie hielt Mara die Tüte unter die Nase.

»Heute Abend feiern wir«, verkündete sie freudestrahlend.

Dann packte sie das Fastfood aus und verteilte es auf drei Teller. Sie hatte Henning tatsächlich mit eingerechnet.

»Was ist los, Mutter?«

»Mama heißt das«, flötete sie und stellte das Essen auf den Tisch.

»Ab heute wird alles super. Ich habe einen Probearbeitstag bekommen.«

Damit stieß sie die Gabel in die Nudeln und begann zu essen.


Nach dem Abendbrot ließ Mara Henning und ihre Mutter umgehend allein, denn wenn ihre Mutter glücklich war, dann entwickelte sie eine äußerst nervtötende Art. Als Mara ihr Zimmer betrat erlebte sie den zweiten Schock an diesem Tag. Auf ihrem Kopfkissen lag ihre Zeichnung. Ein gewelltes, verwaschenes Blatt Papier. Darauf war mit zarter Hand ein kleiner Pfeil gezeichnet unter welchem zwei Worte standen: Wendet mich.

Vorsichtig, als könnte das Blatt in ihren Fingern explodieren, drehte Mara es um und fand eine Nachricht.

Es schmerzt mich aufrichtigst euch verschreckt zu haben, kleine Lady. Dies lag bei Weitem nicht in meiner Absicht. Ich wollte euch lediglich klein wenig besser kennenlernen, bevor ich euch mein Angebot einer Freundschaft unterbreite. Mit herzlichsten Grüßen, Euer Freund Osol Arabiel Grinndel Sonnensang

Maras Hände zitterten, als sie ein weiteres Mal das Stück Papier durchlas. Was für eine unheimliche Nachricht. Ihr Blick wanderte unwillkürlich vom Papier zum Fenster und ihr Herz setzte aus. Da stand er.

Er lehnte am Gartenzaun und blickte direkt zu ihr hinauf. Und sei das noch nicht genug hob er die Hand zum Gruß, als wären sie alte Bekannte. Mara wollte schreien. Doch da wanderten ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie würde dem Mann Angst einjagen. Und zwar den Schock seines Lebens. Dann würde er sie in Ruhe lassen.

Sie wetzte ins Schlafzimmer ihrer Mutter, holte die Waffe hervor und versteckte sie unter ihrem T-Shirt. Dann schlich sie die Treppe hinunter und spähte um die Ecke. Ihre Mutter stand mit Henning in der Küche und scherzte. Schnellen Schrittes schlich sie sich an der angelehnten Tür vorbei ins Wohnzimmer und zur Terrassentür hinaus.

Da stand er immer noch und winkte ihr zu. Als sie den halben Garten durchquert hatte, drehte er sich um und verschwand im Wald.

»Du entkommst mir nicht«, flüsterte Mara grimmig.

Eine plötzliche Anwandlung von Heldenmut überschwemmte das junge Mädchen und sie rannte los. Dass sie immer noch ihre Hausschuhe trug bekam sie nicht einmal mit. Sie zog die Waffe unter ihrem T-Shirt hervor, löste den Knopf und ließ den Halfter zu Boden fallen. Kurz besah sie sich der Waffe. Sie fühlte sich plötzlich viel leichter an. Im Fernsehen hatte sie gesehen, dass man Waffen erst entsichern muss, bevor man feuert. Sie suchte nach dem Schalter und fand ihn schnell. Du willst ihm bloß Angst einjagen und ihn nicht erschießen.

Sie ließ den Schalter, wie er war und rannte dem Zylinder hinter her. Im Zwielicht der untergehenden Sonne konnte sie so gut wie nichts erkennen. Immer wieder stolperte Mara über Gräser und Wurzeln und die Äste schlugen ihr ins Gesicht, doch sie wollte den Mann nicht entkommen lassen. Sie musste ihn zur Rede stellen. Plötzlich verloren ihre Füße den Halt und sie fiel in das kühle Gras. Die Waffe rutschte ihr aus der Hand und blieb außer Reichweite liegen.

»Aua«, grummelte sie und rieb sich die Handflächen, mit denen sie sich abgefangen hatte. Nervös sah sie sich um und musste feststellen, dass sie den Zylinder verloren hatte. Mist.

Mara richtete sich auf und starrte in das Zwielicht der heraufziehenden Nacht hinein. Vor ihr erstreckte sich eine kleine Lichtung mit hohem Gras, aus dem sich drei Felshaufen erhoben. Die Haufen sahen eindeutig von Menschen aufgetürmt und sehr alt aus.

»Die Felsengräber. So nah sind sie?«, flüsterte sie zu sich selbst.

Ein kalter Windhauch kam auf und sie begann zu frieren. Jetzt wo sie die Zeit fand sich umzusehen bemerkte sie erst, wie unheimlich und dunkel der Wald war. Und die Felsengräber jagten ihr in der Finsternis noch mehr Angst ein als bei Tag. Ein Gefühl von Panik ersetzte ihren Heldenmut und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wollte nach ihrer Mutter rufen, doch ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Es war wie in einem dieser Horrorfilme, die sie sich ständig mit ihrem Vater angesehen hatte. Jedes Mal hatte sie sich gefragt, wie die Protagonisten nur so dämlich sein konnten, sich zu trennen. Nun war sie selbst eine dieser Protagonisten. Allein in einem finsteren Wald. Mit einem unheimlichen Kerl, der sich irgendwo hinter den Bäumen versteckte. Ein lautes Knarzen ließ sie aufschreien und dann sah sie einen Schatten hinter einem der Felsengräber. Oh, Gott. Da ist er. Wo ist die Waffe.

In Panik suchte sie das Gras nach der schwarzen Pistole ab, die mit dem Boden verschmolzen war. Es war still. Bis auf ihr eigenes panisches Atmen war nichts zu hören. Kein Rauschen der Blätter. Kein Zwitschern der Vögel. Kein Zirpen der Grillen. Nur das wiederholte Knacken von Ästen hinter dem Steinhaufen. Es fühlte sich an, als würde sich etwas Kaltes auf ihrer Schulter niederlassen. Die Kälte sickerte durch ihren Pullover unter ihre Haut. Mara zitterte.

Dann wurde es plötzlich hell. Direkt vor ihr, zwischen zwei der Gräber, entstand ein Streifen Licht. Mara spürte, wie ihr Herz aus dem Takt geriet, als sich mitten in der Luft der Lichtstrahl verbreiterte, wie eine Saaltür, die geöffnet wurde. Das Licht beschien das Gras und da sah Mara die Waffe, direkt vor ihrer Fußspitze. Ohne zu denken hob sie das schwarze Stück Metall auf und richtete es auf den Lichtstreifen, der sich inzwischen auf die Breite einer Tür ausgeweitet hatte. Dann wurde das Licht von einem großen, bulligen Schatten verdeckt. Einer Gestalt mit kleinen Beinen, riesigen gestrecktem Oberkörper, viel zu langen Armen und Händen und einem kleinen Kopf, aus dem sie hässliche Reißzähne anfunkelten.

Es löste sich ein Schuss und der Schatten brüllte auf. Ein heftiger Schlag traf ihre Stirn und warf sie zurück. Die Waffe fiel klappernd zu Boden und Mara folgte ihr. Mit verschwommenem Blick und brennendem Kopf sah sie, wie der riesige Schatten über ihr in die Knie ging, dann überkam sie eine bisher unbekannte Müdigkeit.

Tag der Nacht

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