Читать книгу Tag der Nacht - Marcel Fenske-Pogrzeba - Страница 22

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Der Fels der Schlucht färbte sich in ein dunkles Abendrot, als die beiden Trolle in den gestreiften Tuniken wiederkamen. Wortlos und ohne Widerstand stiegen Mara und Osol auf die Libelle und ließen sich zum Prüfungsort fliegen. Sie flogen diesmal in die entgegengesetzte Richtung und erreichten bald eine Brückenkontruktion, die sich über die gesamte Schlucht spannte. Genau genommen waren es drei einzelne Brücken, die wie Stufen angeordnet waren. Die Brücken waren gefüllt mit allerlei Fabelwesen, die auf ihre Ankunft warteten. Die Libelle landete auf der mittleren, auf der ein Podium aufgebaut war, über welchem eine große Kristallkugel schwebte. Die Kugel zeigte das Bild eines kahlen Eisfeldes mit enigen Tannen und Sträuchern. Es sah eindeutig nicht nach Deutschland oder Schweden aus, sondern eher wie eine kalte russische Wintersteppe. Damit hatte sich Maras erster Plan der Flucht auch ohne die Hexenrunen erledigt.

Sie stiegen von der Libelle herunter und wurden von dem ekelhaften Elfen mit den bösen Augen begrüßt. Diesmal trug er ein türkisfarbenes Hemd, welches bis zu seinem Gürtel offen war und seinen stählernen Oberkörper entblößte. Um seine Beine wand sich ein Rock aus dickem Stoff in dunklem Braun. Seine langen Haare hatte er zu einer fettigen Tolle nach oben gekämmt, die sein langgezogenes Gesicht noch mehr betonte. Mit einem breiten, falschen Lächeln begrüßte er sie und stellte sie dem Publikum vor. Osol präsentierte er als den jüngsten der Sonnensangbrüder, der bereits mehrfach an der Prüfung gescheitert war und nun in die Fußstapfen seines großen Bruders treten wollte, an dessen Tod er wohl nicht ganz unschuldig sei.

Erst in diesem Moment wurde Mara wirklich bewusst, dass der Troll, der durch ihre Unachtsamkeit gestorben war eigentlich Osols großer Bruder war. Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie blickte in die traurigen Augen des Trolls und er lächelte sie schmerzhaft an.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Es war meine Schuld.«

Dann präsentierte Fara Federsang Mara als den Menschen, der einen Troll tötete. Als das Mädchen aus der Mitte, welches die Fähigkeit besaß die Seelen zu sehen und sich um den Platz als Leiter bewarb um ihre Schuld zu sühnen. Seine Ansprache tropfte regelrecht vor der Abscheu, die er gegen sie beide hegte, doch dem Publikum schien es zu gefallen.

»Bevor wir beginnen, fehlt unseren tapferen Recken noch eines.«

Der Elf begann in seinen Taschen zu kramen und förderte einen goldenen Ring zutage. Er hielt ihn in die Höhe und der große eingelassene Edelstein schimmerte in der Abendsonne. Dann drehte er sich zu Mara, fiel auf die Knie und streckte die Arme aus.

»Darf ich euch euren Ring überreichen, Lady?«, fragte er in seinem unangenehmen, näselnden Ton. Sein hässliches Grinsen tat sein Übriges.

Mara streckte zögerlich die Hand aus und er streifte ihr den Ring über. Ein hässliches aus Gold geformtes Ding, in dessen Mitte ein wurzelartiges Geflecht einen großen, grünen Edelstein einfasste. Am liebsten wollte Mara das hässliche Stück Schmuck sofort wieder abwerfen, doch offensichtlich war es wichtig für die Prüfung. Fara erhob sich und breitete die Arme aus. Dann kamen zwei Hexen und ein Troll auf das Podium. Der bepelzte Klotz trug eine Art Rock und einen breiten Gürtel. An diesem baumelte ein komischer Kasten. Eine der Hexen war recht jung und hübsch, während die andere eher wie ein zusammengefallener Kuchen aussah. Mara konnte dem Dreiergespann keine weitere Aufmerksamkeit zukommen lassen, denn der Elf heizte die Menge bereits an. Ein Gesang aus Buh-Rufen und Flüchen drang auf sie herab.

»Lasst uns beginnen«, rief Fara dem Publikum entgegen.

Daraufhin drehte sich der Troll mit dem Rock um und zog eine Art Schlüssel aus seiner Tasche. Er hielt ihn vor sich in die Luft und drehte ihn. Plötzlich machte es laut Klack, als wäre ein Schloss eingerastet und vor dem Troll entstand ein Spalt aus Licht, der sich immer weiter öffnete, bis er breit genug war, dass er hindurch treten konnte.

Die drei machten einen Schritt zur Seite und gaben Mara und Osol den Weg frei. Das Mädchen sah den Troll an und gemeinsam traten sie durch die Tür.

Ein kalter Wind schlug Mara entgegen und schnell warf sie sich die Kapuze ihres Pullovers über. Sofort merkte sie, wie sich der Schnee durch die Löcher in ihren Sportschuhen fraß und ihre Socken durchnässte. Hoffentlich würden sie nicht allzu lange hier bleiben. Vor ihnen breitete sich ein Schneefeld mit einem zugefrorenen See aus. Von links kam eine zerfahrene Asphaltstraße und führte direkt am See entlang. In ungefähr hundert Metern Entfernung konnte Mara einen LKW sehen, der auf der Seite lag und mit dem Fahrerhaus voran in das Eis gerutscht war. Ihr schwante Übles. Ein Knirschen hinter ihnen schreckte sie auf, als der Troll und die beiden Hexen aus der Lichttür traten. Die Tür schloss sich und sie blieben im fahlen Schein des Mondes zurück. Mara zitterte. Sie sah zu den dreien.

»Was sollen wir tun?«

Der Troll hob seinen riesigen Arm und wies zu dem LKW. In seiner anderen Klaue hielt er eine kleine Glaskugel, die er nun über seinen Kopf hielt. Offensichtlich eine Art Videokamera. Währenddessen begannen die Hexen damit seltsame Worte vor sich hin zu Murmeln und auf Blätter zu kritzeln, die sie mitgebracht hatten. Unschlüssig blickte Mara Osol an. Der nickte ihr zu und begann sich in Bewegung zu setzen.

»Was ist mit dem Fahrer. Ist er tot?«

»Davon solltet ihr ausgehen. Immerhin ist es unsere Aufgabe seine Seele in das Reich der Toten zu geleiten.«

»Woher wussten sie von diesem Unfall?«

»Jeder Leiter ist für ein Gebiet zugeteilt und wenn eine Seele einen Körper verlässt, so wissen sie dank ihres Signalfeuers Bescheid.«

Er wies auf den goldenen Ring an Maras linker Hand und sie warf unwillkürlich einen Blick darauf, ob der Stein leuchtete. Das altmodische Ding pulsierte in leichtem Grün.

»Der Ring wird uns helfen, die Seele zum Tor zu führen. Er dient als Leuchtfeuer für verlorene Seelen.«

»So wie Irrlichter.«

Osol nickte.

»Doch zunächst müssen wir die Seele beruhigen. Das war bisher immer mein Problem.«

Mara sah zum dem Troll auf.

»Wir machen das.«

Sie liefen am Ufer des zugefrorenen Sees entlang zur Straße. Als der LKW immer näher kam, konnte Mara erkennen, dass ein Reifen vom Anhänger geplatzt war. Auf der Straße zog sich eine lange, geschwungene Bremsspur entlang. Der Anhänger war zur Seite gekippt und vom Triebwagen abgebrochen. Dieser war weitergerutscht und in das Eis eingebrochen. Das gesamte Führerhaus lag im eiskalten Wasser. Zwischen gebrochenen Eisschollen und Glasscherben wogten eine Zeitung und Überreste einer Fastfoodtüte. Mara stand am Ufer und blickte unschlüssig zu Osol.

»Wir müssen die Polizei rufen«, entfuhr es ihr plötzlich.

Osol blickte sie fragend an, dann war er plötzlich abgelenkt.

»Da ist es«, sagte er und legte seine Klaue auf Maras Schulter. Damit hatten sich alle weiteren Diskussionen erledigt, denn zu der Kälte des eisigen Windes gesellte sich eine neue, tiefere Kälte. Über dem Führerhaus schwebte plötzlich eine in grünen Nebel gehüllte Gestalt, gekleidet in eine dicke Felljacke mit Weste und eine abgetragene Jeans. Das bärtige Gesicht wechselte zwischen einem pausbäckigen Mann Ende vierzig und einem grinsenden Totenschädel. Mara schrie auf vor Schreck.

»Ich bin zu spät… «, flüsterte die Gestalt.

»Zu spät.«

»Was soll ich jetzt tun?«

»Der Ring. Leitet ihn zum Tor.«

Mara blickte ihn fragend an. Osol hob den rechten Arm über den Kopf. Das Mädchen tat es ihm ratlos gleich und plötzlich entstand eine kleine grüne Flamme über ihrem Kopf.

»Was ist das?«, flüsterte die Seele des Toten.

»Schnell weiter«, befahl ihr Osol und zog sie mit sich.

Ein paar Meter weiter hob sie wieder die Hand über den Kopf, um eine weitere Flamme zu entzünden. Die Seele hatte sich der ersten genähert und blickte dabei ratlos umher, immer wieder die Worte flüsternd, »zu spät. Ich bin zu spät.«

Da entdeckte die Seele die zweite Flamme und näherte sich dieser. Osol lachte auf.

»Es funktioniert! Das erste Mal funktioniert es.«

»Irgendetwas mache ich wohl richtig.«

»Schnell. Wir müssen es zum Tor leiten, bevor es die Kontrolle verliert.«

So schnell sie konnte zeichnete Mara einen Pfad aus Irrlichtern, um der verwirrten Seele den Weg zu weisen. Bei jeder neuen Flamme merkte sie, wie es immer länger dauerte, bis die Seele sie fand und ihr folgte.

»Sie verlieren ihre Sicht. Um sie herum verschwimmt alles zu einem Nebel«, flüsterte Osol.

Dann hielt die Seele plötzlich an und gab ein jaulendes Geräusch von sich. Es sah aus, als würde sich die Gestalt an den Kopf fassen.

»Was passiert da?«, fragte Mara verängstigt.

»Es hat begonnen. Wir waren zu langsam.«

»Was machen wir jetzt?«

»Ihr müsst die negative Energie der Seele einsaugen. Sie beruhigen.«

»Wie geht das denn jetzt schon wieder?«

»Haltet ihm den Ring entgegen und konzentriert euch auf sein Leid.«

Mara hatte bereits längst aufgehört über alles nachzudenken, was ihr von diesen Märchenkreaturen gesagt wurde. Darüber konnte sie nachdenken, wenn alles vorbei war. Also trat sie der schreienden Gestalt mit Osol in ihrem Rücken entgegen und hielt den Ring hoch. Im selben Moment erschlug sie eine Welle von Schmerz und Leid.

Ich werde es nicht schaffen. Ich komme zu spät. Ich komme zu spät. Der Boss wird sauer sein. Oh Gott, wird der sauer sein. Er wird mich feuern. Ich verliere meinen Job. Und dann? Ich habe kein Geld mehr, um die Wohnung zu bezahlen. Um das Essen zu bezahlen. Ich werde sterben. Ich werde verhungern. Elend verhungern, weil ich zu spät komme.

Mara hielt sich den Kopf und wenn sie in diesem Moment in einen Spiegel hätte sehen können, hätte sie gemerkt, wie ihr eigenes Gesicht flackerte. Das Schreien der Seele wurde nicht leiser. Es wollte nicht aufhören. Mara schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.

Warum hat sie mich nur sitzen lassen. Warum? Warum? Was mach ich jetzt so allein?

Der Schmerz wurde unerträglich und Mara schlug die Augen auf. Vor ihr schwebte ein grün leuchtender Totenschädel. Sie schrie und der Geist schlug nach ihr. Seine knochigen Hände stießen in ihre Seite und schleuderten sie auf den See hinaus. Schreckliche Sekunden schwebte sie durch die Luft und sah das gefrorene Wasser näher kommen. Mit einem lauten Krachen schlug sie auf dem harten Eis auf und schlitterte mit ersticktem Keuchen dahin. Ein stechender Schmerz durchzog ihren Rücken. Oh, verflucht.

Zögerlich bewegte sich Mara. Ein beißender Schmerz zog ihre Glieder hinauf, doch sie konnte sich bewegen. Scheint nichts gebrochen zu sein.

Sie drehte sich auf den Bauch und sah sich um. Es herrschte eisige Stille. Der Wind wehte über das Schneefeld, einzelne Bäume knarrten und in knapp fünfzig Meter Entfernung lag der LKW halb im Eis versunken. Doch von Osol oder dem grün leuchtenden Ungetüm war nichts zu sehen. Sie begriff, was passiert war. Der Troll hatte sie losgelassen und nun konnte sie nichts mehr sehen, denn sie waren in der Menschenwelt. Kälte umfing sie. Sie stand allein auf einem gefrorenen See irgendwo in der russischen Tundra.

»Osol!«, brüllte sie.

Ihre Stimme echote über das Eis und verfing sich in den Tannenwipfeln. Da sah sie ihn. Am Ufer stand der Troll mit dem Zylinder und schien mit etwas Unsichtbarem zu ringen. Mara musste zu ihm. Ohne den Ring würde er es nicht mit diesem durchgeknallten Geist aufnehmen können. Vorsichtig versuchte sie auf die Beine zu kommen, doch ein ohrenbetäubendes Knacken verriet ihr, dass dies keine besonders gute Idee gewesen war. Um sie herum begann das Eis zu brechen. Mara blickte zu Osol, es waren vielleicht zehn Meter bis zum Ufer. Sie hatte keine Wahl.

Mara rannte los und ein krachendes Staccato raste ihr hinterher. Noch fünf Meter.

Sie spürte, wie sie langsam das Gleichgewicht verlor, als das Eis direkt unter ihren Füßen brach. Mit einer hektischen Bewegung versuchte sie abzuspringen, doch sie landete bäuchlings im eisigen Wasser. Sofort griff der Sog nach ihr und drohte sie unter das Eis zu zerren, doch dann bekamen ihre verzweifelten Finger einen Strauch zu greifen. Keuchend kämpfte sie sich auf die Knie. Das Wasser am Ufer war zum Glück flach, doch nicht weniger kalt. Nur ein paar Meter neben ihr war Osol zu Boden gerungen worden und brüllte in seiner Verzweiflung das unsichtbare Etwas über ihm an.

Mara dachte nicht lange nach und warf sich auf seine Brust. Die Kreatur über ihr hatte kaum noch etwas mit der halbmenschlichen Gestalt von vorher zu tun. Sie war um einiges größer, hässlicher, besaß deutlich mehr Arme und aus dem Schädel waren gedrehte Hörner gewachsen. Mara schloss die Augen und streckte dem Wesen den Ring entgegen. Wieder strömten Schmerzen, Schreie und Gedanken auf sie ein.

Es ist zu spät! Ich bin tot! Es ist zu spät! Ich bin ganz allein! Zu spät!

»Du bist nicht allein!«, brüllte Mara dem Strom entgegen.

»Lass uns dir helfen!«

Allein! Zu spät!

»Nein! Wir helfen dir! Folge uns! Bitte!«

Sie versuchte ihre Stimme so sanft und gütig wie möglich klingen zu lassen und die Angst zu verdrängen. Mara spürte, wie sich der Strom ein letztes Mal aufbäumte und dann von ihr abließ. Eine wunderbare Stille kehrte ein. Ihr Schädel brummte vor Schmerz und sie rieb sich die Schläfe.

»Ihr habt es geschafft«, hörte sie Osol flüstern.

Langsam öffnete sie die Augen und sah vor sich die Seele des LKW-Fahrers schweben. Sein Gesicht wirkte fragend und hoffnungsvoll. Er fixierte Mara unentwegt. Sie sah zu Osol, der sie anlächelte und gemeinsam führten sie die Seele zum Tor.

Tag der Nacht

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