Читать книгу Tag der Nacht - Marcel Fenske-Pogrzeba - Страница 8
ОглавлениеEs war ein brütend heißer Tag im späten Sommer. Die Sonne brachte den Asphalt zum Glühen und die Luft zum Wabern. Auf der Autobahn A24 Richtung Hamburg schienen sich die Wagen regelrecht aufeinander zu stapeln. Immer wieder Drang das entnervte Hupen eines ungeduldigen Fahrers durch das stetige Dröhnen der Motoren, während sich die Karosserien Millimeter für Millimeter nach vorne schoben. Die Landschaft wurde von hohen, hölzernen Schallschutzwänden verdeckt, sodass der Blick aus dem Fenster nicht allzu viel Abwechslung bot.
Aus den Lautsprechern des Kleinwagens drangen die beruhigenden Klänge von Beethovens 9er Sinfonie. Die Mutter summte leise mit und warf immer wieder Blicke in den Rückspiegel auf ihre Tochter, welche wiederum entnervt aus dem Fenster starrte und die klassische Musik mit Käptn Peng aus ihren Kopfhörern zu vertreiben suchte. Am Morgen dieses Tages hatten sie all ihr Hab und Gut zusammengepackt und sich auf die lange Fahrt von Berlin nach Orust in Westschweden gemacht.
Die Begeisterung der jungen Dreizehnjährigen über die Verlagerung ihres Wohnortes hielt sich offensichtlich in Grenzen. Maras abfällige Äußerungen in den letzten Tagen hatten ihren Standpunkt mehr als klar gemacht. Viola wusste, dass ihre Tochter sie für die Scheidung verantwortlich machte und viel lieber bei ihrem Vater geblieben wäre. Doch sein stressiger Job, welcher ihn oft tagelang durch Deutschland schickte hatte ihm das alleinige Sorgerecht verwehrt. Es hatte schon eine ganze Weile zwischen ihnen nichts außer Streitigkeiten gegeben und der letzte Funke der Liebe war längst verflogen. Einige Zeit hatte das Ehepaar versucht, es vor ihrer Tochter geheim zu halten, doch irgendwann war die Wahrheit nicht mehr zu vertuschen gewesen. Ab diesem Moment hatte sich etwas unwiderruflich in dem kleinen Mädchen verändert.
Mara war ein aufgewecktes, neugieriges Kind gewesen, welches schnell neue Freunde fand und von allen als freundlich und großherzig wahrgenommen wurde. Seit dem Tag im Herbst letzten Jahres, an dem sie sich endgültig getrennt hatten, hatte sich das Mädchen vollkommen zurückgezogen und in ihre eigene Welt geflüchtet. Statt mit Offenheit begegnete sie ihren Mitmenschen nun mit Sarkasmus und Abneigung. Auch ihr Kleidungsstil hatte sich drastisch geändert. Statt Sommerkleidchen und Sandalen trug sie nun abgetragene Jeans, viel zu weite Pullover und alte Sportschuhe. Erst vor kurzem hatte Viola auf dem Laptop ihrer Tochter die Seite eines Tattoo- und Piercingstudios entdeckt.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Mara mürrisch, nachdem sie eine weitere halbe Stunde aus dem Fenster gestarrt hatte.
»Nicht mehr weit, wir sind bald an der Fähre.«
»Also schon fast die Hälfte… ist ja großartig.«
Damit versank das junge Mädchen wieder in Schweigen.
»Sag mal«, setzte ihre Mutter an, in der Hoffnung aus den paar Textbrocken ein Gespräch zu beginnen.
»Willst du nicht den Pullover ausziehen? Es ist brütend warm.«
Das Thermometer zeigte knapp fünfundzwanzig Grad an und das Auto besaß keine Klimaanlage.
»Nein«, kommentierte Mara und begann in ihrem Rucksack nach etwas zu trinken zu kramen. Außer einer Flasche süßen, bereits angewärmten Sprudelzeugs mit Pfirsichgeschmack konnte sie nichts zutage fördern. Angewidert setzte sie die Flasche an die Lippen.
»Wirklich, Schatz. Du schwitzt dich noch zu Tode.«
»Dann wärst du ja schon mal ein Problem los.«
»Das war jetzt wirklich unangebracht.«
»Ich zeig dir gleich, was unangebracht ist«, motzte Mara und rülpste ihrer Mutter ins Ohr.
»Lass das. So etwas ist ekelhaft.«
Das junge Mädchen zuckte mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster. Nicht, dass ihr nicht tatsächlich brütend heiß war, doch sie hatte beschlossen den Pullover solange nicht mehr auszuziehen, bis sie wieder zurück in Berlin bei ihrem Vater war. Bei der beruflichen Erfolgsrate ihrer Mutter konnte das auch hoffentlich nicht allzu lange dauern. Ihre letzten drei Jobs hatte sie in weniger als zwei Monaten wieder verloren. Es hieß also nur Augen zu und durch und in spätestens drei Monaten wäre sie wieder zuhause. Stell es dir einfach wie lange Sommerferien vor. Je mehr Mist du baust, desto schneller will Mutter wieder nach Hause.
Mara grinste über ihren teuflischen Plan in sich hinein. Nach einiger Zeit löste sich der Stau wieder auf, ohne einen erkennbaren Grund für seine Anwesenheit zu hinterlassen. Während die Felder und Solaranlagen der Mecklenburger Seenplatte an ihr vorbeizogen, schmiedete Mara Pläne, wie sie ihrer Mutter am effektivsten den Nerv rauben konnte. Ab und zu wechselten sich die Hügel mit Zeilen von Mischwäldern oder Windrädern ab, doch im Großen und Ganzen blieb die Landschaft dieselbe. Es dauerte tatsächlich nicht mehr allzu lang, bis sie die Fähre erreicht hatten und entgegen Maras Erwartungen mussten sie auch nur eine halbe Stunde warten, bis sie auf das riesige Transportschiff hinauffahren konnten. Im selben Moment, als ihre Mutter den Motor ausstellte, sprang sie bereits aus dem Wagen.
»Ich hab Hunger. Lass uns was essen.«
»Nicht so schnell, junge Dame. Zuerst schauen wir uns an, wie das Schiff den Hafen verlässt.«
»Wie öde«, murrte das Mädchen und folgte der erwachsenen Frau, als gäbe es keine größere Qual in ihrem Leben.
Die Fähre brauchte nur knapp zwei Stunden, um die Ostsee zu überqueren und Gedser in Dänemark zu erreichen. Nachdem Mara sich die Ausfahrt aus dem Hafen angesehen hatte, gab es ein kurzes Mittagessen mit Brot, Rührei, Speck, Wurst und Orangensaft. Nicht zu vergessen die Schüssel mit Schokoflakes. Darauf folgte ein kurzer Schlaf auf einer der zahlreichen Bänke. Immerhin hatte Viola ihre Tochter gezwungen bereits um fünf Uhr morgens aufzustehen, um pünktlich losfahren zu können. Eine unmenschliche Zeit, wie sich Mara mehrmals beklagt hatte. Als sie wieder ins Auto stiegen breitete sich Stille aus. Zum Glück hatte sich die Hitze bereits in angenehme zwanzig Grad verwandelt. Eine ganze Weile schlief Mara. Dann starrte sie aus dem Fenster, doch irgendwann kam sie nicht mehr an der Frage vorbei, die sich seit dem Aufstehen in ihren Hirnwindungen festgesetzt hatte.
»Du… Mutter.«
»Nein. Ich antworte dir erst, wenn du mich Mama nennst.«
»Ach komm. Das ist doch albern.«
Ihre Mutter hob den rechten Zeigefinger theatralisch mahnend in die Luft. Mara murrte kurz.
»Du… Mama.«
»Ja.«
»Wo wohnen wir eigentlich?«
»Ich habe schon darauf gewartet, dass du endlich mal fragst. Das wird eine große Überraschung.«
»Soll heißen, du sagst mir jetzt gar nichts.«
»Das soll es heißen. Aber ich bin froh, dass du Interesse zeigst.«
»Schön, dass du froh bist«, knurrte Mara, verschränkte die Arme und starrte mit bösem Blick auf die Kopfstütze ihrer Mutter. Dabei stellte sie sich vor, wie sie in ihren Kopf kriechen könnte, um alle Geheimnisse und Ängste ihrer Mutter herauszufinden und gegen sie einzusetzen. Ihr Unterfangen blieb vergeblich und so zog sie die Kapuze ihres lila Pullovers über den Kopf und versuchte wieder zu schlafen. Nach gefühlten zwei Sekunden erwachte sie mit einem grunzenden Laut.
»Ah. Ist die Prinzessin wieder erwacht. Gerade im richtigen Augenblick.«
»Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, ich bin keine Prinzessin. Prinzessinnen sind dumme Kinder in rosa Kleidchen.«
»Ach so. Das muss ich wohl verdrängt haben. Entschuldigt Hoheit.«
»Hör auf damit.«
»Schau doch mal raus. So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen.«
Widerstrebend folgte Mara, blickte aus dem Fenster und traute ihren Augen kaum.
»Woah«, war ihre tiefschürfende Reaktion.
Im Licht des späten Nachmittags hob sich die asphaltierte Straße in die Luft und wurde zu einer gigantischen Brücke, die über das glitzernde Wasser führte.
»Was ist das? Ich kann gar nicht das Ende sehen.«
Die Brücke wand sich durch den aufkommenden Nebel und verschwand in einer Wand aus grau. Es wirkte regelrecht, als wäre die Welt an dieser Stelle zu Ende. Die Wagen vor ihnen wurden von der schleierähnlichen Masse verschluckt und waren nie mehr gesehen.
»Wahnsinn. Das sieht ziemlich gruselig aus. Und da wollen wir durch?«
»Keine Sorge, Prinzessin. Das ist nur Nebel.«
»Das weiß ich auch. Ich bin doch nicht blöd.«
»Ich bin doch nicht blöd«, äffte ihre Mutter Mara leise nach.
Nicht, dass das Mädchen diese Gehässigkeit nicht mit bekommen hätte, doch im selben Moment zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. In der Nebelbank bewegte sich etwas. Nicht die Schatten der Autos und Laster, die darin verschwanden oder daraus hervorkamen, sondern etwas viel… Größeres. Hinter der Wand aus Wasserdampf erhob sich ein riesiger Schatten. Größer als die Brücke selbst, über die sie fuhren. Dann brach ein Teil des Schattens durch den Nebel und enthüllte einen gewaltigen, schwarzen, schuppigen Schwanz, der sich um die Brücke zu winden begann. Riesige, geschlitzte Augen starrten das junge Mädchen an.
Mara konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und stieß ihre Mutter von hinten an, »Siehst du das?«, fragte sie aufgeregt.
»Was soll das? Schrei nicht so.«
Genervt hielt sich ihre Mutter das rechte Ohr, »Was ist denn plötzlich los?«
Als Maras Blick wieder zurück zum Nebel wanderte war der Schatten verschwunden. Alles wirkte so, als wäre nichts geschehen. Sie rieb sich die Augen, doch diese hilflose Geste brachte keine Veränderung.
»Was ist denn?«, wiederholte Viola.
»Ähm… nichts. Der LKW da drüben hat eine komische Farbe.«
»Aha. Das ist ja aufregend.«
Ihr Auto versank in der Nebelbank und sie konnten nicht weiter als fünfzig Meter sehen. Verzweifelt versuchte Mara eine Spur des riesigen Schattens auszumachen, doch es war, als wäre nie etwas gewesen. Vielleicht hab ich mir das ja nur eingebildet.
Auf der anderen Seite angekommen nahmen sie sich ein Hotelzimmer. Viola versuchte ihrer Tochter einen Gutenachtkuss zu geben, doch diese wehrte sich erfolgreich. Mit einem »Gute Nacht, Prinzessin« kuschelte sie sich ein und war schnell und fest eingeschlafen. Mara sah aus dem Fenster hinaus auf das Meer. Sie konnte einen Streifen der unheimlichen Brücke noch im Nebel sehen und fröstelte. Schnell wickelte sie sich ebenfalls in ihre Decke, umschlang ihren Kuschelhasen und versuchte das gruselige Bild zu vergessen.
Am nächsten Tag fuhren sie noch etliche Stunden ohne besondere Ereignisse. Langsam wurde es kühler und die Landschaft änderte sich von grünen Wiesen und Nadelwäldern zu felsigen Landschaften, durchzogen von Flüssen und Seen. Mara konnte sich vorerst nicht allzu viel aus dem Fels, Gräsern und Wasser machen. Es sah hübsch aus, aber gleichzeitig auch sterbend langweilig. Eine ganze Zeit fuhren sie am Wasser entlang. Auf der anderen Seite konnte Mara weitere Felsen und Wälder erkennen.
»Das ist Orust«, sagte Viola begeistert.
»Aha.«
Nach jeder Menge Schlangenlinien erreichten sie einen breiten Fluss. Die Straße schien direkt im Wasser zu enden.
»Und jetzt? Wohnen wir am Grund des Meeres?«
»Nur Geduld, Prinzessin. Unsere Fähre kommt ja schon.«
Mara streckte den Hals, um besser sehen zu können. Von der anderen Seite her näherte sich ein Schiff mit einer platt gedrückten Ladefläche. Darauf standen Autos und ein Transporter, die ungeduldig darauf warteten die andere Seite zu erreichen. Das Vehikel schwankte erheblich als die Fahrzeuge es verließen und Maras Mutter hinauf fuhr. Sie warteten eine ganze Weile, bis weitere Wagen sich hinter ihnen einreihten, dann legte die Fähre ab. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange, denn Mara hatte das Gefühl, sie würden jeden Augenblick untergehen.
Am anderen Ufer empfing sie eine Ortschaft mit dem Namen Svanesund. Mara drückte ihre Nase gegen die Scheibe und betrachtete die kleinen, zumeist rot oder weißen Holzhäuser, die sich direkt an der Uferstraße aneinander reihten. Davor gab es ab und zu kleine von weißen Holzzäunen eingerahmte Grasflächen mit teils lustigen Briefkästen, die ihrem großen Pendant dahinter glichen.
Auf der Straße kamen ihnen drei Kinder mit einem Fußball entgegen, die Mara als Jungs in ungefähr ihrem Alter identifizierte. Die Jungs warteten wie aufgereiht am Straßenrand als sie vorbeifuhren und grüßten freundlich. Irritiert sah ihnen Mara hinterher. Auf der rechten Seite tauchten mehrere Bootsanleger und eine Art kleiner Hafen für Privatboote auf. Mara beobachtete die schwankenden Gefährte im glitzernden Wasser. Kurz darauf bogen sie auf etwas ein, dass mehr einem Bergpfad als einer Straße glich. Skogslykevägen verkündete das Straßenschild.
»Endlich«, schnaufte Viola. »Fast geschafft.«
»Und du weißt auch genau, wo du hin willst, ja?«
»Es ist nicht mehr weit. Nur noch da vorne rechts und bis zum Ende der Straße.«
Und tatsächlich. Fünf Häuser weiter stellte ihre Mutter den roten Golf vor einem kleinen, untersetzten Haus in nahezu ebenso dreckigem Rot ab und gab bekannt: »Sie haben ihr Ziel erreicht.«
Mara konnte nicht genau sagen, was sie erwartet hatte, aber nicht das, was sie hier vorfand. Das kleine, zweistöckige Haus war geradezu aus einem Schwedenreiseführer ausgeschnitten. Es fehlte nur etwas neue Farbe. Es gab einen kleinen, verwilderten Vorgarten mit einem blechernen Briefkasten, auf dem eine hässliche Trollfigur thronte. In seinen Wurstfingern hielt er ein Schild mit der Aufschrift, »Sundqvist«.
»Keine Angst. Deinen Namen Pinseln wir auch noch drauf«, lachte Viola.
»Jetzt komm erst mal mit rein. Du wirst es toll finden.«
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die in diesem Ort aufgewachsen war, hatte Mara das Haus noch nie zuvor gesehen. Allzu neugierig war sie nicht, ließ sich aber dennoch mitziehen. Als sie durch die kleine Tür mit dem geriffelten Sichtfenster trat konnte sie durch einen winzigen Flur direkt in das zweigeteilte Wohnzimmer blicken, das wirkte als wäre es von ihrer Großmutter eingerichtet worden.
Im vorderen Bereich stand ein Esstisch auf geschwungenen Beinen, mit einer zierlichen Häkeldecke geschmückt. Darum standen vier gedrungene Stühle aus dunklem Holz mit Blümchenmusterbezug. Das ganze wurde noch durch den alten, extrem dicken Teppich unterstrichen, über den Mara beinahe stolperte. Neben der Treppe befand sich eine Tür, die in die altmodische Küche führte. Auf der anderen Seite gab eine Schiebetür den Blick auf zwei alte Ohrensessel vor einem schmiedeeisernen Ofen frei. Auf dem Ofen saß eine weitere Porzellanfigur eines hässlichen Zottelviehs mit einem riesigen Pickel auf der Nase und grinste sie an.
»Das ist nicht dein Ernst«, konstatierte das junge Mädchen und blickte ihre Mutter mit vorwurfsvollen Augen an.
»Ist es nicht hübsch? Die Sachen hat Oma uns hinterlassen. Komm, ich zeig dir den Rest.«
Die Erkenntnis, dass das Haus tatsächlich von ihrer Großmutter eingerichtet worden war machte Mara nicht viel Hoffnung auf die restlichen Zimmer.
»Vielleicht hätte sie sie einfach mitnehmen sollen«, murmelte sie und folgte ihrer Mutter in das obere Stockwerk. Der Tod ihrer Mutter hatte Viola überhaupt erst auf die Idee gebracht nach Schweden auszuwandern und in das Haus ihrer Kindheit zurück zu kehren. Mara hatte noch nie mehr als ein paar Fotos von der Heimat ihrer Mutter gesehen und war bis jetzt auch nicht sehr angetan. Doch Viola schien es offensichtlich neues Leben einzuhauchen. Eigentlich würde sich Mara ja für sie freuen, wenn sie nicht hätte darunter leiden müssen.
Im oberen Stock befanden sich vier weitere Zimmer. Eines, das offensichtlich als Schlafzimmer gedient hatte und nun von ihrer Mutter in Beschlag genommen wurde. Dort lagerten noch einige Kisten und Kleiderbeutel. Weiterhin fand sich eine Art Haushaltskammer, welche vollgestellt war mit Besen, Eimern, Wäscheständern und sonstigem Hausgerät, das Mara niemals anrührte. Direkt daneben lag ein kleines Bad mit winzigem Waschbecken und provisorischer Dusche, welche statt mit Glas mit einem Blümchenvorhang verkleidet war. Das letzte Zimmer sollte scheinbar ihr eigenes werden. Es war bereits eingerichtet mit Maras altem Bett und Kleiderschrank. Doch neben den beiden modernen Möbeln, die ihr Vater ihr gekauft hatte, stapelten sich ebenfalls Kisten.
»Das war Omas Arbeitszimmer. Ich habe es noch nicht geschafft, es vollkommen zu entrümpeln. Das können wir ja dann nach dem Kaffee machen.«
Mara antwortete nicht, sondern betrachtete die gelbbraune Blümchentapete, welche die Wände des kleinen Zimmers zierte. Zwischen den gelbweißen Blüten auf dem brauen Untergrund tummelten sich allerlei Vögel und kleine Tiere. Der Kontrast zum glatten weiß ihrer Möbel tat schon beinahe weh.
»Wunderschön… «, murmelte sie und warf ihren Rucksack auf ihr Bett, das unter dem Fenster aufgebaut war.
»Ich mache uns Essen. Mach es dir schon mal gemütlich«, flötete ihre Mutter und verschwand wieder die Treppe hinunter. Unten konnte Mara sie den Herd in der Küche anheizen hören. Gibt es überhaupt Strom in dieser Bruchbude?
Sie drehte sich einmal im Kreis und besah sich ihres neuen Reiches. Um sich hier wohnlich zu fühlen würde ihr offensichtlich noch einiges an Arbeit bevor stehen. Die große Frage war, ob sich der Aufwand überhaupt lohnen würde. Immerhin hatte sie nicht vor, lange in Schweden zu bleiben. Nachdem sie sich ein weiteres Mal im Kreis gedreht hatte, wandte sie sich ihrem Schrank zu. In eine der Schranktüren war ein großer Spiegel eingelassen, in dem sie sich betrachten konnte. Aus dem milchigen Glas blickte sie ein junges Mädchen am Anfang der Pubertät in kurzen Jeans und pastelllila Pullover an. Ihre braunschwarzen Haare strubbelten bis zu den Schultern herab und rahmten das blasse Gesicht ein. Die braunen Augen schienen müde und versteckten sich hinter dem Pony.
»Du hättest mir ja auch sagen können, dass meine Haare völlig ungepflegt aussehen«, brüllte sie die Treppe hinunter. Von ihrer Mutter bekam sie nur ein fröhliches Pfeifen als Antwort. Grummelnd ging Mara zu ihrem Rucksack und kramte ein paar Haargummis hervor, um ihre widerspenstige Frisur zu bändigen. Dann warf sie einen Blick aus dem Fenster, welches nach hinten hinaus wies. An die Rückseite des kleinen Hauses schloss sich eine hölzerne Terrasse mit Garten an, der beinahe übergangslos in einen Wald endete. Das Unterholz und den Rasen trennte nur ein kleiner, schon ziemlich betagter, weißer Holzzaun. Gibt es in diesem Land eigentlich auch irgendetwas aus Metall?
»Prinzessin! Es gibt Kaffee.«
»Jaja. Bin ja schon auf dem Weg.«
Mara sprang die Treppe hinunter und fand ihre Mutter an dem kleinen Tisch im Wohnzimmer sitzend, mit zwei Tassen frisch gebrühtem Kaffee. Seitdem sie vor knapp zwei Jahren bei ihrem Vater das erste Mal Kaffee getrunken hatte, war Mara regelrecht süchtig nach dem braunen Trunk. Am besten ohne Milch, dafür mit viel Zucker. Zwischen den beiden Tassen stand ein Teller auf dem ein seltsames, kringelförmiges Gebäck lag.
»Was ist das?«, fragte sie beim Hinsetzen.
»Kanelbullar. Die schmecken super. Probier einfach mal einen.«
Zögerlich nahm Mara einen in die Hand und biss ab. Zu ihrer Überraschung schmeckte das Teiggebäck nicht so süß wie erwartet, dafür um einiges besser als gedacht, mit einer erheblichen Note Zimt.
»Und? Was hältst du von Schweden?«, fragte Viola nach dem zweiten Kanelbulle.
»Nette Landschaft. Aber das nächste Kino ist sicherlich erst an der Staatsgrenze, oder?«
»Es gibt noch andere Dinge als Fernsehen und Kino.«
»Ja, zum Beispiel Wandern. Wuhuu!«
Viola schüttelte den Kopf, konnte sich eines Lächelns aber nicht erwehren.
»Es wird dir hier gefallen.«
»Das bleibt abzuwarten. Hast du eigentlich schon einen Job?«
»Nett, dass du fragst. Noch nicht, aber ich habe bereits ein paar Sachen rausgesucht und ab Morgen geht es gleich mit den Bewerbungsgesprächen los.«
»Das ist gut«, erwiderte Mara.
Sie grinste in sich hinein. Die Tatsache, dass ihre Mutter noch keinen Job hatte, machte es noch viel wahrscheinlicher, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft wieder nach Berlin zurück fahren würden.
Nach dem Essen schafften sie die Kisten aus dem ehemaligen Arbeitszimmer hinunter in den Keller, dessen Eingangstür sich an der Terrasse versteckte. Das Gewölbe war dunkel, stickig und mit Spinnenweben regelrecht tapeziert. Mara war froh, als alle Kisten verstaut waren. Danach begannen sie das Auto zu entladen und die Sachen in ihre Zimmer zu räumen.
Mara bezog ihr Bett, räumte ihre Kleider in den Spiegelschrank und hing eine Reihe von Fotos über ihrem Bett auf. Größtenteils waren sie von ihr und ihrem Vater im Berliner Zoo. Auf zwei Fotos war auch ihre Mutter zu sehen, wie sie glücklich in den Armen von Maras Vater lag. An der Dachschräge hing sie umständlich mehrere Poster auf. Nun sammelten sich Sweenie Todd, Iron Man und die Salvatore Brüder über ihrem Kopf.
Als der Tag sich dem Ende neigte zog erneut Nebel auf und hüllte die Landschaft in einen grauen Schleier. Während ihre Mutter bereits schlief blickte Mara aus ihrem Fenster in den Garten und versuchte sich mit ihrer neuen Situation anzufreunden. Als ihre Eltern sich noch nicht zerstritten hatten, hatten sie zusammen im Berliner Loft ihres Vaters gewohnt, welches einen ganz anderen Standard als diese Holzhütte bot. Abgesehen davon, dass in der Innenstadt immer etwas los war.
Mara hatte es gut in der geräumigen, modern eingerichteten Wohnung gefallen. Nicht nur, dass man durch die großen Fenster stets den Blick über die Stadt gehabt hatte, nein, es hatte sogar einen Lieferservice für Essen gegeben. Ihr eigenes Zimmer war im Gegensatz zu diesem hier riesig gewesen und mit einem eigenen Fernseher ausgestattet. In diesem neuen Haus gab es scheinbar nicht mal ein Radio und ihre Mutter hatte nichts darüber gesagt, ob sie sich einen Fernseher anschaffen wollte.
Versunken in ihre Gedanken ließ das junge Mädchen den Blick über den vernebelten Garten schweifen, als sich hinter dem Zaun etwas zu bewegen schien. Nicht nur ein Blatt im Wind, sondern ein Schatten. Ein großer Schatten. Was ist das schon wieder. Sag mir nicht, dass es hier Wölfe gibt.
Mara kniff die Augen zusammen und fokussierte die Stelle zwischen dem großen Strauch und der Wäscheleine, an der sie etwas gesehen hatte. Nichts rührte sich. Schon glaubte sie, es sich wieder wie die Erscheinung auf der Brücke eingebildet zu haben, doch dann trat eine Gestalt aus dem Nebel.
Es war ein übergroßer Mann in einen langem Regenmantel und hohe Stiefeln gekleidet, mit flatterndem Schal und Zylinder. Die Schultern waren seltsam breiter als der Rest des Körpers, so als wäre er besonders muskulös. Und unter der breiten Krempe des Hutes war das Gesicht nicht zu erkennen. Was macht so ein Kerl bei uns auf dem Grundstück?
Dann hob der Mann den Kopf und starrte sie direkt an. Sie konnte sein Gesicht unter dem hochgezogenen Schal und der großen Sonnenbrille zwar nicht erkennen, doch es war, als würde er ihr direkt in die Augen sehen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Plötzlich hob er die Hand und schien ihr zu winken. Erschrocken ließ sie sich fallen und kauerte sich auf ihrer Matratze zusammen. Was ist das für ein Kerl? Hat er mich gesehen? Wer trägt nachts eine Sonnenbrille?
Nervös versuchte sie sich wieder aufzurichten und über den Fensterrahmen hinaus zuschauen. Doch zu ihrem Glück war von der unheimlichen Gestalt in ihrem Garten nichts mehr zu sehen.