Читать книгу Im Haus des Vaters - Marcia Rose - Страница 10

KAPITEL 8

Оглавление

Freitag, 28. Dezember1951

Die Kinder bastelten eifrig Papierschlangen, spielten mit ihren Bauklötzen und den Fingerfarben und zankten sich. In der Ecke des Zimmers saß Adele Lowenstein und brachte einem Grüppchen ein Hanukkah-Lied bei, das sie so oft wiederholten, bis Dorothy der Kopf beinahe ebenso schmerzte wie die Füße. Sie sollte sich für ihre Arbeit in der Kinderkrippe endlich bequemere Schuhe zulegen. Sie wischte gerade den Tisch ab, auf dem die Kleinen mit Knetmasse gespielt hatten, als sie im Augenwinkel eine Bewegung registrierte.

Sie wandte sich um und sah ihn im Türrahmen stehen, wie immer lässig, als wäre er rein zufällig vorbeigekommen. Ihr Herz begann zu hämmern. Eilig wandte sie sich ab und bearbeitete die Tischplatte weiter.

Doch es gelang ihr nicht, das Bild zu verdrängen – Frank in Freizeithosen und kariertem Hemd mit offenem Kragen. Er trug kein T-Shirt darunter – Unterhemden waren etwas für Weicheier, sagte er –, so dass das dichte schwarze Brusthaar hervorquoll. Sie wollte nicht an die Haare auf seiner Brust denken, da ihr allein beim Gedanken daran schwindlig wurde. Sie, eine verheiratete Frau mit drei kleinen Kindern. Das war doch lächerlich! Großer Gott, sie war zweiunddreißig Jahre alt und kein Backfisch mehr. Sie hatte sogar schon die ersten grauen Haare. Aber er war so wunderschön. Und wenn er sie berührte, war es, als stünde sie förmlich in Flammen. Es war so aufregend. Sie fühlte sich fast wieder wie ein junges Mädchen.

Sie trat ans Waschbecken, wusch den Putzlappen aus und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihre dichten Locken könnten einen Kamm gebrauchen. Aber dafür, dass es zwei Uhr nachmittags und sie seit sieben Uhr früh auf den Beinen war, sah sie nicht allzu übel aus. Sie sollte ihre Lippen nachziehen, aber der Lippenstift würde unter seinen Küssen ohnehin sofort wieder verschwinden. Erneut spürte sie dieses Prickeln.

Gleich würde sie Adele oder Harriet zurufen, sie müsste kurz zur Toilette.

Sie würde den Krippenraum verlassen und um die Ecke biegen, wo er sie vor dem Heizungsraum bereits mit verschränkten Armen an der Wand lehnend erwartete. Und er würde lächeln, sobald er sie sah. Dieses Lächeln! Seine Zähne waren strahlend weiß. Sämtliche Frauen fanden, dass er ein Bild von einem Mann war. Er hatte zwar zahllose Freundinnen gehabt – die Frauen waren ganz verrückt nach ihm –, aber noch keine als die künftige Mrs. Frank Green ausgewählt.

Von Zeit zu Zeit keimte der Verdacht in ihr auf, dass sie wahrscheinlich nur seine neueste Eroberung war und er mit ihr spielte. In diesen Momenten schwor sie sich, ihre Affäre so schnell wie möglich zu beenden und nicht mehr an ihn zu denken. Beim nächsten Mal würde sie mit ihm Schluss machen. Sie würde ihn einfach nicht beachten, wenn er in der Krippe auftauchte.

Doch wann immer sie ihn sah, hatte sie nur einen Wunsch: Bei ihm sein, seine Arme um sich spüren, seinen Duft einatmen und ihn sagen hören, wie sehr er sie liebte und sich nach ihr sehnte. Genauso wie jetzt. Und in diesen Sekunden gab es nichts auf der Welt, was wichtig genug sein könnte, um sie von ihm zu trennen.

Was sie tat, war schlecht. Das wusste sie genau. Vielleicht war ja auch sie selbst schlecht. Hatte sie sich damals nicht unter die Treppe ihres Wohnhauses in Brooklyn geschlichen, um sich dort mit Leon Feld zu treffen, als sie beide gerade mal dreizehn waren? War sie nicht zittrig vor Aufregung gewesen? Und hatte sie später nicht noch viel schlimmere Dinge getan? Und sie hatte all das genossen, auch nach all den Problemen und ihren Schwüren, die sie Gott geleistet hatte. Es war so beschämend. Vielleicht war ja etwas in ihr, das sie immer wieder vom richtigen Pfad abkommen ließ.

Sie musste mit Frank Schluss machen. Eines Tages würde Jonah ihnen auf die Schliche kommen. Früher oder später würde irgendjemand sie erwischen. In einem anderen Wohnhaus dieser Größe mochte ein Einzelner vielleicht nicht auffallen, aber hier kannte jeder jeden. Es war, als lebte man in einer Kleinstadt – in einer höchst ungewöhnlichen Kleinstadt mit höchst fortschrittlichen Bewohnern. Sie könnte niemals in der Coop-Siedlung leben, hatte einmal eine Frau zu ihr gesagt. »Wenn dort einer arbeitslos wird, musst du seine Kinder durchfüttern.« Damit hatte sie allgemeines Gelächter ausgelöst. Die Menschen hier waren einander so nahe, und das war ein gutes Gefühl.

Andererseits wusste natürlich jeder hier über alles Bescheid, was die anderen Bewohner taten. Verlor man seinen Job, erfuhren alle davon. Hatte man Streit mit dem Ehemann, wussten es alle. Ob man seine Schwiegermutter nicht leiden konnte, seine Kinder schlug oder eine Affäre hatte – früher oder später bekam jeder alles mit, egal was es war. Aber sie konnte nichts dafür, schließlich hatte sie es sich nicht ausgesucht, sich in diesem Alter noch einmal zu verlieben. Also entschuldigte sie sich auch dieses Mal bei den anderen und machte sich auf den Weg.

Er war da. Natürlich war er da. Und dann spürte sie seine Arme um sich, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte und gierig nach seinem Mund suchte. Sie küssten sich voller Leidenschaft, stöhnend vor Verlangen. Wie kam es nur, dass sie ihm nie nahe genug sein konnte? Sie presste sich gegen ihn, drängte ihm ihre Hüften entgegen, rieb sich mit der Wange an seinem Kinn und genoss das raue Gefühl auf ihrer Haut, wohl wissend, dass es Spuren auf ihren Wangen hinterlassen würde. Doch es genügte ihr nicht. Sie hatte ihn seit vorgestern nicht mehr gesehen, und auch da nur für ein oder zwei Minuten, so wie jetzt. Es war zwölf Tage her, seit sie das letzte Mal im Bett gelegen hatten. Sie sehnte sich nach ihm, so unendlich!

Er küsste sie wieder und wieder, bis sie beide kaum noch Luft bekamen, dann löste er sich von ihr und legte die Hände zärtlich um ihr Gesicht. »Dorothy, Dorothy, das ist doch verrückt. Bitte komm zu mir, verlass deinen Mann. Sag ihm die Wahrheit, verlass ihn, und komm zu mir.«

»Oh, Frank, du weißt genau, dass ich das nicht kann.«

»Du liebst ihn doch nicht mehr. Das hast du schon hundertmal gesagt. Es ist doch sinnlos, mit einem Mann zusammenzuleben, den du nicht mehr liebst.«

»Die Kinder –«

»Aber es nützt keinem etwas, wenn sie bei Eltern leben, die sich nicht mehr lieben.«

Sie musste lachen. Er war so ernst und beharrlich. Und so naiv. »Frankele, man merkt, dass du noch nie verheiratet warst. So einfach ist das alles nicht. Es gibt noch andere Dinge, die zwei Eheleute aneinander binden: die Kinder, ihr gemeinsames Leben und all das, was sie miteinander durchgemacht haben. Bei dir klingt das, als wäre das Leben der reinste Liebesrausch. Aber so ist das nun mal nicht.«

Er küsste sie erneut. »Aber so könnte es zwischen uns sein.«

»Frank –«

»Dorothy, ich bin völlig verrückt nach dir. Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen.«

»Bitte, sag so etwas nicht. Du weißt genau, dass das unmöglich ist. Keiner hier in der Siedlung würde je wieder ein Wort mit uns reden.«

»Dann gehen wir eben weg. Wir fangen ganz von vorn an.«

»Und was soll mit meinen drei kleinen Kindern passieren?«

»Ich will auch sie. Dot, ich meine es ernst. Ich liebe sie. Und ich liebe dich. Wir können so nicht weitermachen. Kommt mit mir. Und nimm die Kinder mit.«

»Auch Irwin?«

Einen Augenblick starrte er sie erschrocken an, ehe ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien. »Immer einen Scherz auf den Lippen, Dorothy. Was soll ich nur mit dir machen?«

»Mit mir schlafen. Und zwar hoffentlich bald.«

»Ich will für den Rest meines Lebens mit dir schlafen.«

»Bitte, fang nicht wieder damit an. Du weißt doch, wie unglücklich es mich macht, wenn du so etwas sagst. Bitte, Frank, mach es nicht noch schlimmer, als es schon ist.«

»Was meinst du mit ›noch schlimmer‹?«

»Du weißt selbst, dass das, was wir tun, falsch ist.«

»Es ist nicht falsch, einander zu lieben«, gab er mit seinem gewohnten Starrsinn zurück. »Oh Gott, ich liebe dich, Dorothy. Versprich mir, dass du nie aufhören wirst, mich zu lieben.«

»Natürlich werde ich dich immer lieben.«

Er hielt sie noch einen Augenblick in seinen Armen, ehe er sie freigab. »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Plötzlich sah er traurig aus. Oder betrübt. Aber sie hatte keine Zeit, ihn aufzumuntern. Sie war schon viel zu lange weg. Hastig gab sie ihm einen Abschiedskuss und lief in die Kinderkrippe zurück. Sie spürte seinen Blick, bis sie um die Ecke bog.

Als sie durch die Tür trat, kam Adele ihr kopfschüttelnd entgegen. »Das war die längste Pinkelpause der Welt, Dorothy. Natürlich hat dein Kleiner genau in dem Moment, als du draußen warst, seinen Lastwagen beiseite gestellt, sich umgesehen und nach seiner Mommy verlangt.« Sie lachte. »Wo warst du denn?«

Dorothy spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, sie bemühte sich jedoch, ihre Stimme normal klingen zu lassen. »Frage ich dich vielleicht nach deinen Toilettengewohnheiten aus, Adele?« In diesem Augenblick kam Paul, quengelte und rieb sich mit seinen Fäustchen die Augen. Er war ein süßes Kerlchen, so hübsch, so reizend und so klug. Aber im Lauf des Tages wurde er eben irgendwann müde, deshalb hätte sie ihn nicht allein lassen sollen, ohne es ihm zu sagen. Beim nächsten Mal würde sie daran denken.

Sie musste den schlafenden Paul nach Hause tragen, die Stufen bis zur Wohnung hinauf. Mit seinen vier Jahren war er fast alt genug für den Kindergarten und viel zu groß, um noch getragen zu werden. Doch er erklärte, er sei zu müde zum Gehen, da brachte sie es nicht über sich, ihn abzusetzen. Sie verwöhnte diesen kleinen Kerl nach Strich und Faden.

Nachdem sie ihn aufs Sofa gelegt hatte, machte sie sich an die Vorbereitung des Abendessens. Es war noch Braten da, dazu würde sie ein paar Kartoffeln und Möhren kochen – und schon war das Essen fertig.

Was für ein Witz, so zu tun, als denke sie ans Essen, wo es doch nur darum ging, ihre Gedanken daran zu hindern, ständig nur um Frank zu kreisen. Eigentlich hätte sie sich am liebsten hingesetzt, nach draußen gestarrt und ihre Begegnung mit ihm noch einmal Revue passieren lassen, ihre Leidenschaft und ihr Verlangen nacheinander. Ein solches Gefühl hatte sie noch nie erlebt – das einen übermannte und schwindlig, hilflos und atemlos vor Begierde machte. Allein beim Gedanken daran spürte sie die Erregung in sich aufkeimen, und sie hatte Mühe, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Cookie und Irwin polterten mit dem üblichen Lärm herein. »Irwin, hör auf damit! Ich meine es ernst! Mom! Sag du ihm, er soll aufhören!«, schimpfte Cookie. Sie erklärte zwar nicht, womit er aufhören sollte, doch das spielte keine Rolle, da er sowieso ein notorischer Plagegeist war.

»Irwin, wie oft muss ich es dir noch sagen?«

Aber er hörte nicht, sondern sprang weiter herum und klappte ein gefaltetes Blatt Papier auf und zu. »Cookie hat Läuse! Cookie hat Läuse«, rief er, und wann immer Cookie versuchte ihn zu fassen, duckte er sich, lief um sie herum und fing von vorn an. »Läuse, Läuse. Ich hab mit meinem Lausfänger Cookies Läuse gefangen!«

»Irwin! Genug jetzt! Das reicht. Du machst uns ja noch alle verrückt!«

»Verrückte Läuse! Verrückte Läuse!«

Dorothy richtete den Blick gen Himmel. »Dieser Junge bringt mich noch um den Verstand«, meinte sie. »Irwin, raus hier! Und häng deine Jacke auf.«

»Und Cookie? Cookie muss ihre Jacke auch aufhängen. Aber nicht neben meine, weil ihre voller Läuse ist.«

Irgendwann würde sie die Beherrschung verlieren. Allein seine Stimme, dieser nasale, weinerliche Unterton zerrte an ihren Nerven. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, woher er das hatte. Und jetzt weinte Cookie auch noch! Dot wünschte sich, Cookie wäre ein wenig härter im Nehmen und würde endlich lernen, ihm keine Beachtung zu schenken. »Wenn du ihn nicht beachtest, wird er schon von selbst aufhören«, sagte sie zum hundertsten Mal.

»Nein, tut er nicht.«

Pauls schlaftrunkene Stimme drang aus dem Wohnzimmer. Er rief nach ihr. »Seht nur, was ihr angerichtet habt. Jetzt ist Paul aufgewacht. Los, geh mit ihm ins Badezimmer, Cookie, und halt ihn mir für eine Weile vom Hals, ja? Lies ihm eine Geschichte vor.«

Als die Kinder ins andere Zimmer verschwunden waren, machte sie sich wieder an die Arbeit. Oy, was für ein Leben. Das hatte sie nicht im Sinne, als sie Frank erklärte, sie habe drei kleine Kinder. Wenn in diesem Augenblick die Tür aufginge, er hereinkäme und sie bäte, mit ihm zu kommen, wäre sie auf und davon.

Da ging die Tür tatsächlich auf, und sie fuhr erschrocken zusammen, aber es war natürlich nicht Frank, sondern Jonah, der sich über ihren Bruder beschwerte, bevor er noch seine Jacke ausgezogen hatte.

»Ist das zu fassen? Dieser Mann hält alle Arbeiter für dumm. Heute hat er wieder...« Damit hob er zu einem seiner üblichen Monologe über Gewerkschaften, Überstunden, Lohnschecks und Gott weiß was an. Sie hörte schon lange nicht mehr zu, da sie die ohnehin immer gleiche Leier längst kannte. Der Boss war der reinste Teufel, wohingegen die Arbeiter dem Himmel entstiegen waren. Nun ja, wenigstens war er heute Abend guter Laune, schlimmer waren die Tage, an denen er beharrlich schwieg.

»Jack nimmt eben, was er kriegen kann. Und wieso auch nicht? Versuchen wir nicht alle, das Beste für uns und unsere Familien herauszuschlagen?«

»Das ist aber nicht dasselbe. Er quetscht seine Arbeiter regelrecht aus, siehst du das denn nicht? Er schlägt Profit aus ihrem Schweiß. Und gibt er seinen Arbeitern etwa was ab, wenn er höhere Gewinne macht? Das glaubst du doch wohl nicht im Ernst! Seine drei kleinen Prinzessinnen kriegen Pelzmäntelchen, so sieht es doch aus.«

Dot, die gerade Kartoffeln schälte, unterbrach ihre Tätigkeit und wandte sich zu ihm um. »Ich hoffe nur«, erklärte sie mit ernster Miene, »du redest nicht so daher, wenn wir sie nächste Woche zu Hanukkah besuchen. Lass uns zur Abwechslung einmal in Ruhe und Frieden feiern... Was hältst du davon?«

»Müssen wir denn überhaupt hingehen? Was ist daran so toll? Er zeigt uns doch nur, dass er der große Boss ist, hält uns all seine Schätze unter die Nase und gibt uns das Gefühl, die armen Verwandten zu sein.«

»Du fühlst dich vielleicht so, Jo. Ich und die Kinder sind gern dort. Ich mag Sylvia, sehr sogar. Er ist vielleicht ein Kapitalist und beutet seine Arbeiter aus ... Aber er ist immer noch mein Bruder, und ich liebe ihn. Und wenn es dich so schrecklich unglücklich macht, für ihn zu arbeiten, wieso kündigst du dann nicht? Niemand zwingt dich, für ihn zu arbeiten.«

»Das weiß ich doch. Du brauchst es mir nicht ständig unter die Nase zu reiben. Ich verdiene gutes Geld bei ihm. Und durch ihn haben wir ein Dach überm Kopf. Aber, verdammt noch mal, Dot, es ist so frustrierend. Er behandelt seine Männer, als wären sie unmündige Kinder. Was er sagt, ist Gesetz, und die Männer sind vom Kapitalismus so versklavt, dass sie noch nicht einmal mitbekommen, was los ist. Ich predige ihnen die ganze Zeit, dass es einen besseren Weg gibt, aber ich stoße nur auf Widerstand.«

»Jo, tu mir bitte einen Gefallen. Versuch nicht, Jacks Arbeiter zu belehren. Ich verstehe, es ist deine Pflicht, und mir ist klar, dass es besser für sie wäre, gewerkschaftlich organisiert zu sein, aber du weißt doch, wie wütend ihn das macht. Und wir wollen doch keine Schwierigkeiten in der Familie haben. Bitte, lass uns Hanukkah mit den latkes, den Kerzen und den Geschenken genießen. Um der Kinder willen.«

»Du weißt genau, dass ich mich zusammenreiße ... solange er mich in Ruhe lässt. Ich lasse sogar die Tischgebete über mich ergehen. Tischgebete! Als würde irgendeiner sie erhören!« Er lachte, trat neben sie und küsste ihren Nacken. »Ich mache mich fertig fürs Essen. Riecht gut. Vertraut, aber gut.« Und damit ging er lachend ins Badezimmer.

Es war eben so, dass es nun schon zum dritten Mal denselben Braten gab, na und? Sie war keine besonders gute Köchin. Wenn es nach Jo ginge, hätte ihr der Kampf, dass ihre Kinder eines Tages in einer besseren Welt leben konnten, wichtiger sein sollen, als dass sie ein leckeres Abendessen auf den Tisch bekämen.

Sie schälte die Kartoffeln zu Ende und gab sie zum Fleisch. Fertig. Es roch tatsächlich gut, obwohl sie das Kochen hasste. Zufrieden blickte sie sich in der Wohnung um. Es war sauber, ordentlich und hübsch. Ventilatoren, viele Fenster, durch die die Sonne und frische Luft hereinströmten. Der Geruch nach dem Abendessen lag in der Luft, ihr Mann wusch sich im Badezimmer, und ihre drei Kinder steckten die Köpfe über einem Buch zusammen. Das ... das war ihr Leben. Das war die Realität.

Wie konnte sie nur auf den Gedanken kommen, sich davonzustehlen und einem anderen Mann an den Hals zu werfen? Warum glaubte sie, in einen anderen Mann verliebt zu sein? Verliebt – was bedeutete das überhaupt? Wie dumm von ihr, die Familie aufs Spiel zu setzen. Und wofür? Für einen Mann, der zufällig mit einem attraktiven Gesicht und einem Händchen für Frauen zur Welt gekommen war. Aber damit war jetzt Schluss.

Später, als die Kinder im Bett lagen und ausnahmsweise friedlich schliefen, beschloss sie, sich den Luxus eines ausgiebigen heißen Bades zu gönnen. Sie gab ein wenig von dem Badesalz ins Wasser, das sie von Sylvia zum Geburtstag bekommen hatte, und sog tief den blumigen Geruch ein. Wie oft hatte sie denn schon Gelegenheit, ganz allein zu sein und das zu tun, wozu sie Lust hatte?

Eigentlich war sie sogar froh, dass Jonah heute Abend zu einer Versammlung gegangen war. Als er ihr beim Essen mitteilte, dass irgendetwas Bedeutungsvolles in der Luft liege und ein Sondertreffen einberufen worden war, ärgerte sie sich im ersten Moment darüber. Warum musste er ausgerechnet an diesem Abend zu einer Versammlung, wo sie doch gerade so zufrieden mit ihrem Leben und von Zuneigung für ihn erfüllt war? Außerdem vermutete sie, es würde lange dauern. Wahrscheinlich würde er nicht vor Mitternacht nach Hause kommen. Aber inzwischen störte es sie nicht mehr. Sie ließ sich zurücksinken und genoss die angenehme Wärme.

Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel erschien Franks Gesicht in ihrer Vorstellung, und all ihre guten Vorsätze waren auf einen Schlag verschwunden. Sie schloss die Augen und dachte daran, wie sie sich das letzte Mal geliebt hatten, wie wunderschön, wie befriedigend es gewesen war und wie anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Jonah war ein guter Mann, und sie bewunderte ihn. Aber wenn er seine Hand auf ihre Brust oder ihre Hüfte legte, war es eben nur eine Hand auf ihrem Körper und keine Berührung, die loderndes Feuer in ihrem Inneren auslöste und ihren Atem stocken ließ.

Und wenn er in sie eindrang, fühlte es sich nett an, gut, behaglich. Aber mehr auch nicht. Und so war es lange, lange Zeit gewesen. Doch wenn sie mit Frank zusammen war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihre Sinne schienen völlig überwältigt zu sein. Selbst nachdem er den Höhepunkt erreicht hatte, drängte er sich noch in sie, versuchte, ganz und gar mit ihr zu verschmelzen, während sie die Hände um seine Hinterbacken legte und ihn an sich zog, weil sie ihn noch weiter in sich spüren wollte, vollkommen, mit Haut und Haar. Und wenn er fort war, erinnerte sie sich nur an die wilde, ungezügelte Ekstase, mit der sie sich einander hingegeben hatten.

Auch jetzt, als sie in dem heißen, duftenden Wasser lag, musste sie sich eingestehen, dass sie ihn wollte. Sie wollte ihn, sehnte sich nach ihm. Dorothy brach in Tränen aus. Es war so kompliziert und so hoffnungslos. Und sie war so schrecklich verliebt!

Weinend stieg sie aus der Wanne, griff nach einem Handtuch, trocknete sich ab und zog sich an, dann setzte sie sich vor den Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete ihr Gesicht eingehend. Ja, sie war eine gut aussehende Frau. Und sie war mit den Jahren offener und lebendiger geworden. Nachdem Yetta sie verlassen und damit gezwungen hatte, sie selbst zu sein, hatte sie festgestellt, wie herrlich es war, nicht nur als Teil eines Zwillingspaares, sondern als eigenständiger Mensch wahrgenommen zu werden. Warum hatte sie es dann nur so eilig gehabt, sich an Jo und die Kinder zu binden, was verhinderte, dass sie ihr eigener Herr war?

Sie kannte die Antwort auf diese Frage. Verheiratet zu sein war der Beweis dafür, dass man erwachsen war. Alles andere war nur Spielerei. Erst in einer Ehe fing man an, so zu sein, wie man wirklich war, hieß es immer. Was für ein Unsinn! In Wahrheit war man in der Ehe mehr dem Ego eines anderen Menschen ausgesetzt denn je zuvor. Man verlor sogar den eigenen Namen. Wurde zur Mrs. Sein Name.

»Und ich glaubte, er sei etwas Besonderes«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Das ist er auch, aber eben nicht so, wie ich dachte.« Jonah war der Kriegsheld, der Mann mit Idealen und Prinzipien. Und dafür hatte sie ihn so sehr bewundert. Er war ganz anders als Pa. Aber war er das wirklich? Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher. Er war ruhiger, vernünftiger, und man konnte besser mit ihm reden, aber auch er war in seiner Meinung festgefahren, starrsinnig und zornig auf die ganze Welt um ihn herum. Sie schnitt eine Grimasse. Allesamt waren sie Maulhelden. Alle miteinander!

Um Viertel vor eins betrat Jonah leise das Schlafzimmer. Sie war noch immer hellwach und bemerkte, dass er sehr aufgebracht war. Statt wie sonst unter die Decke zu kriechen, ging er im Zimmer auf und ab. Hin und her, hin und her. »Was ist los?«, fragte sie.

»Oh, du bist noch wach.« Er wunderte sich nicht einmal darüber. »Ich habe gekündigt, Dot.« Seine Stimme klang gequält.

»Was gekündigt, um Himmels willen.«

»Meine Parteizugehörigkeit. Ich bin ausgetreten. Aus der Partei. Was wohl sonst?«

Sie setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. Was bedeutete das? Hier in der Siedlung gab es doch ständig politische Querelen. Für eine Gemeinschaft, deren Bewohner dieselben Ziele verfolgen und an dieselben Dinge glauben sollten, existierten erschreckend viele Splittergruppen. »Was ist denn passiert?«, erkundigte sie sich.

»Frank Green ist ein Spitzel, heißt es.«

Einen Augenblick lang glaubte sie, ihr Herzschlag hätte ausgesetzt, und sie hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. »Wie kommen sie denn darauf?«

»Oh, ich weiß, dass du nichts für Frank Green übrig hast.« Obwohl ihr Puls raste und sie Übelkeit in sich aufsteigen spürte, frohlockte sie innerlich. Es hatte funktioniert! In der Öffentlichkeit ignorierte sie Frank geflissentlich. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, Jo glauben zu machen, dass sie Frank und seine Frauengeschichten missbilligte. Und es hatte funktioniert!

»Und stimmt es?«, fragte sie. »Ist er tatsächlich ein Spitzel?« Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass Frank ihr am Nachmittag das Versprechen abgenommen hatte, sie müsse ihn immer lieben, was auch passiere. Hatte er das damit gemeint? War das der Grund, weshalb er ihre Nähe gesucht hatte? Oh Gott!

»Das kann doch nicht sein!«, stieß Jonah hervor und ballte die Fäuste. »Dieser Mann ist mein Freund, Herrgott noch mal! Wir haben uns ... Du weißt ja, wo wir uns kennen gelernt haben. Auf dem Schlachtfeld. Er hat mir das Leben gerettet. Er hat an meinem Tisch gesessen und gegessen. Ich kann nicht glauben, dass er ein Verräter ist!«

Dorothy war nicht imstande, etwas zu erwidern. Ihre Gedanken wirbelten wild umher.

»Verdammt«, fuhr Jonah fort, »ich kann es einfach nicht glauben. Aber einige Parteimitglieder sind bereits verhaftet worden. Allesamt eingebürgerte Einwanderer. Sie könnten des Landes verwiesen werden. Ich könnte des Landes verwiesen werden!«

»Oh Gott, Jonah. Nein!«

»Doch, doch!«

»Aber das bedeutet –«

»Verdammt, glaubst du etwa, ich weiß nicht, was das bedeutet? Es bedeutet, dass du keinen Mann mehr hast, der sich um dich kümmert. Glaubst du vielleicht, mir gefällt diese Vorstellung? Aber es kann nicht Frank sein! Er hat sich doch immer so für die Partei eingesetzt. Nein, sie müssen sich irren. Jemand, der ihn nicht leiden kann, versucht ihn anzuschwärzen, das ist alles.«

»Kannst du sie denn nicht davon überzeugen?«

Jonah lachte bitter. »Ha! Sie haben Beweise, sagen sie. Es heißt, er sei weg.«

»Weg!« Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihr aus. »Was meinst du damit?«

»Verschwunden.«

»Aber...« Vorsichtig, ganz vorsichtig. »Warum sind sie sich denn so sicher?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie heute Abend gesagt haben, wir sollen sofort melden, wenn wir ihn sehen oder etwas von ihm hören. Es sei unsere Pflicht. Sie haben darauf bestanden.«

»Und was hast du gesagt?«

Er verzog das Gesicht, ohne seine Wanderung zu unterbrechen. »Was ich gesagt habe? ›Scheiß drauf, ich gehe‹, das habe ich gesagt.«

»Oh jo!«

»Soll ich mich vielleicht gegen einen Mann stellen, der jahrelang mein bester Freund war? Niemals!« Er schlug mit der Faust auf die Kommode. »Verdammt noch mal, Dorothy, das habe ich schon immer an einigen in der Partei gehasst – dass sie ihre Prinzipien auf Verlangen ändern. Aber ich kann das nicht! Ich meine, glaubst du vielleicht, ich bin gern ausgetreten? Natürlich nicht! Ich hasse es! Ich hasse es, wenn man mich zwingt, mich zu entscheiden.«

»Ich finde, du solltest zurückgehen und ihnen sagen, dass du deine Meinung geändert hast und dabeibleiben willst.«

»Machst du Witze? Glaubst du vielleicht, sie trauen mir nach alldem noch?«

»Weißt du, was ich an dieser Siedlung so hasse? Oberflächlich betrachtet sind wir alle hier eine große, glückliche Familie, aber im Grunde herrscht nichts als Wut, Neid und Argwohn. Es gibt viel zu viel Geheimniskrämerei, zu viele Verdächtigungen und Verleumdungen. Trotzkisten! Leninisten! Ha! Welche Rolle spielt das denn? Wenn sie nicht damit aufhören, stecken wir alle noch bis zum Hals in Schwierigkeiten. Aber hat denn jemand Frank mit diesen Vorwürfen konfrontiert?«

»Sie haben den ganzen Tag versucht, ihn zu fassen zu bekommen. Er war nicht bei der Arbeit und nicht zu Hause. Er hat weder die Tür aufgemacht, noch ist er ans Telefon gegangen.«

Dorothy schloss die Augen, während sich ihre Angst weiter ausbreitete. War er tatsächlich verschwunden? Bitte nicht, dachte sie voller Inbrunst. Bitte, bitte nicht.

Sie holte tief Luft. »Na und?«, erklärte sie tapfer. »Du kennst doch Frank. Er liegt in irgendeinem Bett.« Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen, aber es musste sein. »Inzwischen ist er vielleicht längst zu Hause. Es ist spät, und er arbeitet. Ich finde, du solltest nachsehen gehen, jetzt gleich, und ihm sagen, was los ist.«

Ausnahmsweise hörte er auf sie und machte sich auf den Weg, während sie aus dem Bett stieg. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an. Mach dir keine Gedanken, sei nicht albern, beschwor sie sich pausenlos im Stillen. Er ist nicht fort, das kann doch nicht sein. Er treibt sich sicher nur irgendwo herum. In ein paar Minuten würde Jo zurückkommen, grinsen und über diese Dummköpfe schimpfen, die viel zu schnell falsche Rückschlüsse gezogen hatten. Er würde wettern, wie dieser Mistkerl McCarthy es geschafft hatte, aus einem Freund einen Feind zu machen, einen Kameraden gegen den anderen aufzubringen. Und dann wäre dieser Albtraum vorbei.

Sie setzte sich aufs Bett, knetete die Hände und spürte, wie sich der Schweiß in ihren Achselhöhlen sammelte. Es musste alles in Ordnung sein. Wie sollte sie damit fertig werden, wenn es nicht so war? Als sie Jonah an der Wohnungstür hörte, hämmerte ihr Herz. Ein Blick in sein Gesicht genügte.

»Weg.« Jonah legte sich eine Hand über die Augen. »Die Tür steht offen, alle Schränke sind leer. Keinerlei Unterlagen. Nichts. Ich war ein Narr, ein verdammter Narr!«

»Was willst du jetzt tun?«

»Was kann ich schon tun? Abwarten, ob er Kontakt zu mir aufnimmt. Dann rede ich mit ihm und sehe, was passiert. Verdammt, ich bin in dieses Land gekommen, um frei zu sein, und jetzt warte ich darauf, dass Herbert Brownells Schergen mich abholen! Tja, aber ich lasse mich nicht einfach so abschieben. Ab sofort gehst du nicht mehr an die Tür, egal wer davorsteht. Hast du mich verstanden? Du machst niemandem auf. Niemandem! Und morgen sagst du das auch den Kindern. Irgendjemand hält nicht dicht, und das bedeutet, dass keiner von uns hier mehr sicher ist.«

Er zog sich aus und ließ seine Kleider achtlos auf den Boden fallen. Kurz darauf lag er neben ihr, grunzte, drehte sich auf die Seite und schlief ein.

Sie hatte weniger Glück. Lange lag sie wach, lauschte dem langsamen, traurigen Schlag ihres Herzens, ließ die langsamen, traurigen Tränen über ihre Wangen und auf ihr Kopfkissen fließen. War er wirklich weg? Ohne sich von ihr zu verabschieden? Nur die wenigen Worte am Nachmittag? Vielleicht war Jonah nicht der einzige verdammte Narr hier. Frank war auf und davon. Es war vorbei.

Im Haus des Vaters

Подняться наверх