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KAPITEL 3

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Sonntag, 12. Juli 1987

Jonah nahm sich alle Zeit der Welt, während er die Treppe vor dem Haus hinunterstieg. Dorothy sah ihm zu und hätte am liebsten seinen Arm genommen und ihn ein wenig zur Eile angetrieben, doch wenn sie das tat, würde er nur wütend werden und schimpfen. Und Streit wollte sie heute Abend ganz bestimmt nicht. Sie war müde. In letzter Zeit war es anstrengend, an großen Partys teilzunehmen, zu plaudern, fröhlich zu wirken und den Schein zu wahren.

Auf dem Weg zum Broadway stieß Jonah sie in die Rippen. »Siehst du?« Sie sah ihn an. Er grinste. »Ich hab doch gewusst, dass dieser alte Mistkerl sich mit mir aussöhnen will. Natürlich würde er es nie zugeben, aber er weiß ganz genau, wer hier im Recht ist und wer nicht.«

»Entschuldige, Mr. Oberschlau, aber wer hat denn um ein Treffen gebeten? Für mich sieht es nicht so aus, als wäre es ein Mann namens Jack Strauss gewesen. Und außerdem wissen wir noch nicht mal, ob es überhaupt so weit kommt.«

»Ach, hör auf.« Er winkte ab. »Du hast ja gesehen, wie schnell Deena zurückgerufen hat. Das hat doch etwas zu bedeuten.«

Dorothy stieß einen Seufzer aus. »Du hast wohl vergessen, wie Jack ist, Jonah. Ich habe ihn selbst seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, aber ich bin immerhin mit ihm aufgewachsen. Jack hat noch nie in seinem Leben gesagt: ›Es tut mir Leid‹.«

»Entschuldige, Liebes. Du vergisst, dass Jack auch nicht jünger wird. Aber es tut ihm Leid, ob er es nun sagt oder nicht, glaub mir.«

Schweigend überquerten sie die Columbus Avenue. Früher, dachte Dorothy traurig, konnten sie eine belebte Straße überqueren und sich trotzdem weiter unterhalten und dabei sogar noch die Sonderangebote in den Schaufenstern des Supermarkts ansehen. Alt zu werden war wirklich eine üble Sache. Doch jetzt war sie dankbar, einen Augenblick Zeit zu haben, um ihre Gedanken zu ordnen, ehe sie wieder miteinander sprachen. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen. Sie bewegte sich auf sehr dünnem Eis.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie, als sie auf der anderen Straßenseite angekommen waren. »Du bist doch derjenige, der gedroht hat, jedes Familienmitglied zu enterben, das es wagt, auch nur den Namen dieses schmutzigen Kapitalisten in den Mund zu nehmen ... schon vergessen? Und trotz Cookies Tränen hast du ihr nicht erlaubt, sich mit Deena zu treffen oder auch nur mit ihr zu telefonieren. Weißt du das nicht mehr? Also, was soll dieses ganze Theater jetzt plötzlich?«

»Ich habe eben nicht mehr so viel Zeit zu verlieren.«

»Jonah, ich sage es ja nicht gern, aber du und mein Bruder, ihr seid heute keinen Deut anders als damals. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, sowie ihr einander gegenübersteht, fangt ihr wieder an zu streiten. Ich halte die Idee mit dem Familientreffen für ein Hirngespinst.«

»Hirngespinst! Wir sind doch zwei alte Männer, die gern eine Meinungsverschiedenheit aus dem Weg räumen wollen.«

Dorothy blieb stehen, und da sie sich bei ihm untergehakt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. »Jonah«, rief sie. »Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Eine Meinungsverschiedenheit? So nennst du das? Es war eher wie der dritte Weltkrieg! Und jetzt erwartest du allen Ernstes, dass sich siebenunddreißig Jahre Feindseligkeit einfach so vom Tisch wischen lassen.« Sie schnippte mit den Fingern.

Doch seine starrsinnige Miene und seine zusammengepressten Lippen verrieten ihr, dass er nicht von der Idee lassen würde, sich mit seinem Schwager auszusöhnen. Und wenn Jonah sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, brauchte es schon eine Atombombe, um ihn davon abzubringen. Er warf ihr von der Seite einen

argwöhnischen Blick zu, während ihn der Verdacht beschließ dass sie ... Wie nannten die Kinder es immer? Etwas im Schilde führte. Und er hatte Recht.

»Dorothy, willst du mir nicht verraten, was dir wirklich durch den Kopf geht?«

»Wovon redest du? Ich habe dir doch gesagt, was ich denke.«

Er lachte spöttisch. »Dorothy, Dorothy, ich kenne dich viel zu lange ... du kannst mich nicht zum Narren halten.«

Das glaubst du, dachte sie und zerrte ihn weiter, damit sie die Amsterdam Avenue überqueren konnten, solange die Ampel noch auf Grün stand. Sie lächelte insgeheim. Jonah hatte schon immer geglaubt, sie sei ein offenes Buch für ihn. Oh, Jo, Jo! Habe ich dir wirklich einen Gefallen getan? Sie würde unbedingt vorher mit Jack reden und ihn warnen müssen, nicht zu viel zu sagen. Einfach den Hörer abnehmen und ihn anrufen ... ein seltsamer Gedanke, nach all den Jahren des unfreiwilligen Schweigens. Wenn Jonah davon erfahren würde! Das wäre ein schönes Durcheinander! Er könnte vielleicht seine Versöhnung mit Jack bekommen ... mit ihr jedoch würde er nie wieder ein Wort wechseln.

»Du kennst mich?«, fragte sie. »Tja, aber ich kenne Jack. Und ich sage dir, er vergisst nie im Leben etwas. Er ist vielleicht bereit, sich mit dir zu treffen. Na und? Er sorgt schon dafür, dass er die Fäden in der Hand behält. Das hat er immer getan ... bei allem und jedem.«

»Aber dieses Mal kommt er nicht damit durch. Nicht mit mir!«

»Mr. Wichtigtuer. Okay, dann tun wir eben so, als wäre er butterweich. Wo liegt das Problem? Du hast seit siebenunddreißig Jahren kein Wort mehr mit ihm gewechselt, und du hast nie etwas vermisst –«

»Wer sagt das?«, unterbrach er. »Vielleicht habe ich es vermisst, mich mit ihm zu streiten. Vielleicht habe ich auch ein schlechtes Gewissen wegen dir.«

Sie sah ihn an. »Jo, du weißt genau, dass du dich mit Jack nie gut verstanden hast. Vom ersten Augenblick an nicht, als er nach Washington kam, um dich unter die Lupe zu nehmen.« Sie hielt inne und begann zu lachen. »Erinnerst du dich noch an diesen Tag?«

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«, meinte er und stimmte in ihr Gelächter ein. »Er kam in dein Apartment, zu allem bereit...«

1942. In Washington herrschte ein ungewöhnlich strenger Winter. Der eisige Wind pfiff durch die Straßen, und über der Stadt hing eine Decke aus dichten dunkelgrauen Wolken. In ihrem kleinen Apartment in der Q Street hängte Dorothy Strauss abends Decken vor die Fenster, damit die Kälte nicht ins Zimmer drang. Aber nun war es Samstagnachmittag, und die bleiche Sonne kämpfte sich durch die Wolken und verströmte ihr fahles Licht. Ein wenig nervös blickte Dot sich im Wohnzimmer um.

Letzte Woche hatte sie den Brief abgeschickt, in dem sie Ma und Pa informierte, dass sie Jonah Golodny heiraten würde, den die Eltern noch gar nicht kennen gelernt hatten. Sie war erstaunt über ihre eigene Courage. Yetta hatte schon tausendmal zu ihr gesagt: »Du bist ein Hasenfuß, Dot. Du machst dir viel zu viele Sorgen darum, was sie denken. Tu einfach, was du für richtig hältst. Das ist das Geheimnis des Lebens.« Doch Yetta hatte gut reden. Sie machte grundsätzlich, was sie wollte, das hatte sie schon immer getan.

Sie waren Zwillinge, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie die feigere von ihnen war, während Yetta jede Menge Mumm in den Knochen hatte und außerdem über größeres künstlerisches Talent verfügte. Yetta war stets diejenige gewesen, die sich mit ihrem Pa gestritten, Ma Widerworte gegeben hatte. Und wäre Yetta nicht gewesen, würde Dot noch heute in der Wohnung ihrer Eltern sitzen und unter den wachsamen Augen ihres aufbrausenden, strengen Vaters leben.

In der Zeit, als sie Jonah beim Picknick des Russian War Relief, einer Organisation, die Spenden für die Sowjet-Alliierten sammelte, kennen lernte, teilte sie sich ein Apartment mit Yetta. Ihre Schwester hielt es für dumm, ihren Eltern von den Männern zu erzählen, die sie kennen lernten. »Sie brauchen nicht alles zu wissen«, erklärte sie. »Wenn du erst mal den Mann gefunden hast, den du heiraten willst, ist immer noch mehr als genug Zeit, es ihnen zu sagen. Pa schreit Zeter und Mordio, egal was du tust und mit wem du es tust. Also erzähl lieber nichts über dein Privatleben. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

Dorothy hatte ihren Rat beherzigt und den Mund gehalten. Und sie fühlte sich gut dabei. Das erste Mal in ihrem Leben genoss sie so etwas wie eine Privatsphäre; und dass Yetta zur Zeit bei der Armee war, war sogar noch besser. Denn auch Yetta hatte sie herumkommandiert. Oh, sie liebte ihre Zwillingsschwester von ganzem Herzen, aber Yetta war herrschsüchtig.

Tja, Dorothy hatte den Mann gefunden, den sie heiraten wollte, und Ma und Pa wussten Bescheid. Deshalb würde ihr Bruder Jack kommen, um sich ein Bild von ihm zu machen. Sie kannte den Inhalt des Telegramms inzwischen auswendig.

ANKOMME UNION STATION 12.15 UHR STOP

MUSS MIT DIR REDEN STOP

GRUSS JACK

Was meinte er damit? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Bei Jack konnte man das nie so genau sagen. Meistens hielt er zu seinen Schwestern und forderte Pa geradezu heraus, sich mit ihm anzulegen. So auch, als sie nach Washington gehen wollten, um sich dort eine Arbeit zu suchen. »Willst du, dass sie eines Tages weglaufen und du nicht weißt, wo sie sind?«, hielt er ihm vor. »Willst du das etwa?« Als Jack anfing zu schreien, wusste Pa, dass er verloren hatte und sie gehen lassen musste.

Andererseits konnte Jack auch wie Pa sein, konnte schimpfen, wettern und darauf bestehen, dass alles nach seinem Kopf ging. Sie konnte nur hoffen, dass es heute nicht so war. Heute musste er ihr wunderbarer Bruder sein, der für alles Verständnis aufbrachte.

Es war halb zwei. Obwohl die Straßenbahnen wegen des Krieges überfüllt waren, musste Jack doch jeden Augenblick eintreffen. Jonah hatte versprochen, gegen Mittag hier zu sein und ihr zur Seite zu stehen, aber wie üblich kam er zu spät. Einige seiner Kameraden von der Lincoln Brigade waren in der Stadt, und er hatte sich am Morgen auf den Weg gemacht, um sich mit ihnen zu treffen. Sie hatte ihn beim Leben seiner Mutter schwören lassen, Jacks Besuch nicht zu vergessen, aber sie wusste nur zu gut, was passierte, wenn er mit seinen alten Freunden beisammen war. Sie redeten und redeten und redeten und ließen all die Schlachten noch einmal Revue passieren. Sie waren überzeugt, dass die ganze Welt damals zu dumm gewesen sei, um sie in ihrem Kampf gegen Franco zu unterstützen, und dass dessen Aktivitäten nur eine Generalprobe für Hitlers Auftritt auf der Weltbühne gewesen seien. Allesamt waren sie Idealisten und Kriegshelden. Sie hatten ja Recht. Doch trotzdem wäre sie froh, wenn Jo bei der Ankunft ihres Bruders hier wäre.

Es läutete an der Tür. Jonah. Endlich. Sie umarmte ihn und hielt ihn lachend fest. »Was ist?«, fragte er. »Wieso auf einmal so leidenschaftlich?« Um zu zeigen, dass seine Worte scherzhaft gemeint waren, küsste er sie eilig. Er roch nach Alkohol. Bei den Zusammenkünften mit den Kameraden floss stets eine Menge spanischer Rotwein. Er sah sich um. »Ich dachte, dein großer Bruder sei schon da.«

»Er muss jede Minute kommen«, erwiderte sie.

»Muss ich ihn eigentlich in all meine Zukunftspläne einweihen?« Jo lachte, sie hingegen blieb ernst. Ihr war durchaus klar, dass Ma und Pa über ihre Ankündigung, sie werde schon bald hier in Washington heiraten, nicht allzu glücklich waren. Sie erwarteten von ihr, dass sie gemeinsam mit ihrem Verlobten nach Hause kam, um sich der üblichen Prozedur zu unterziehen: Verlobung, Abendessen mit Verwandten, die Unterredung mit dem Rabbi und schließlich die Hochzeit. Sie konnte sich die Reaktion ihres Vaters auf den Brief lebhaft vorstellen.

»Jo, versprich mir ...«

»Was denn noch?«, fragte er sanft, legte ihr einen Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht an. »Ich habe doch schon versprochen, dich für immer zu lieben. Reicht das denn nicht?«

Dot blickte in seine grau-grünen Augen, diese sanften Augen, die von weichen, bleichen Wimpern gesäumt waren. Sie liebte sein Gesicht, seine regelmäßigen Züge mit den zahllosen Sommersprossen, den tief liegenden Augen, dem Lächeln und dem Grübchen neben dem linken Mundwinkel. Er war groß und schlank, ganz anders als der dunkle, lebhafte Typ, der in ihrer Familie vorherrschte, und so anders als ihr Vater und Jack mit ihrem kräftigen, muskulösen Körperbau. So anders, so freundlich. Sie seufzte und lächelte zu ihm auf. Wenn er Jack erst einmal kennen gelernt hatte, würde er sie besser verstehen.

Es begann sofort, als Jack zur Tür hereinkam. Er hatte sich seinen weichen Wollmantel lässig um die Schultern gehängt und war sorgfältig gekleidet: graue Hosen, ein weißes Hemd, ein grau-rot karierter Pullover, und in der Hand hielt er einen nagelneuen grauen Filzhut – so als wäre er geradewegs der Saturday Evening Post entstiegen. Schlagartig wurde sich Dot Jos roten Wollhemds, der abgetragenen grünen Tweedhosen und seiner ausgetretenen braunen Schuhe bewusst. Und ihr entging auch nicht der kurze, kühle Blick, mit dem Jack ihn musterte, und dieses höhnische Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Jonah wurde starr neben ihr.

Sie stellte sie einander vor. »Sie sind also der Kerl, der mir meine kleine Schwester wegnehmen will«, erklärte Jack, noch ehe sie sich gesetzt hatten.

»Als wegnehmen würde ich es nicht bezeichnen«, erwiderte Jo und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. Er kreuzte die Arme vor der Brust, während Jack sich auf ihren einzigen Sessel setzte, die Beine übereinander schlug und die Hände in den Schoß legte. »Dorothy und ich lieben uns.« Die beiden Männer musterten einander mit einem überlegenen Lächeln. Noch ein kleines bisschen entspannter, und sie schlafen ein, dachte Dorothy.

»Tja...« Jack griff beiläufig unter seinen Pullover und zog den hellblauen Umschlag hervor, den Dorothy nur zu gut kannte. »In dem Brief steht, dass ihr beide hier heiraten wollt, statt nach Hause zu kommen und euch von Rabbi Friedman trauen zu lassen, wie es sich gehört und wie alle es erwarten.«

»Das stimmt.« Jonahs Stimme verriet ihr, dass ihm Jacks Wortwahl nicht entgangen war; dieses »wie es sich gehört«, ganz zu schweigen von dem »wie alle es erwarten« und das Wort »Rabbi«. »Genau das haben wir vor, und genauso machen wir es auch.«

»Dorothys Eltern wollen aber, dass sie nach Hause kommt und dort heiratet. Und ein Rabbi soll die Zeremonie vornehmen. Unter dem Baldachin.«

»Ein Rabbi? Nie im Leben!«

»Jack, Jack, ich muss es dir erklären. Jo ist ein Ungläubiger.«

»Ein was

»Reden wir doch nicht um den heißen Brei herum. Ich bin Marxist, ein Mitglied der Arbeiterklasse, und ich glaube nicht an etablierte Religionen oder irgendeine ihrer veralteten Zeremonien.«

Dorothy gelang es nicht, Jonah anzusehen, da ihre Augen wie gebannt auf dem Gesicht ihres Bruders hingen, das zuerst blass, dann rot und schließlich wieder blass wurde. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam. »Ein Roter! Sie sind ein gottverdammter Roter!«, spie er schließlich hervor.

»Ganz genau! Und ein gottverdammter Roter lässt sich nicht von einem Rabbi trauen!«

»Ein gottverdammter Roter wird meine Schwester auf keinen Fall heiraten!«

»Wer sagt das?«

»Ich sage das!« Jacks Kiefer bebte angriffslustig, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während Dots Herz zu hämmern begann. Kein Streit! Bitte kein Streit! Sie wollte sich nicht zwischen den beiden entscheiden müssen. Jack war ihr großer Bruder, ihr Beschützer, seit sie denken konnte. Er hatte sie und Yetta in die Schule begleitet, als sie noch kleine Mädchen waren, jeden üblen Burschen in der Nachbarschaft eingeschüchtert und ihr das Leben gerettet.

Und Jo – allein eine Berührung von ihm reichte schon, um ihr Herz bis zum Hals klopfen zu lassen. Er war so aufregend, ein Held! Seit dem Krieg in Spanien hinkte er ein winziges bisschen. Er hatte in Spanien gekämpft! Sie, die kleine Dot Strauss aus der New Lots Avenue in Brooklyn, ging Hand in Hand mit einem Mann durch die Straßen der Hauptstadt, der in Spanien gegen den Faschismus gekämpft hatte! Allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Stolz.

»Unser Vater«, fuhr Jack fort, »bekommt einen Wutanfall, wenn Dot nicht von einem Rabbi getraut wird. Er ist kein Mann, der seine Meinung so ohne weiteres ändert. Und unsere Mutter bekommt wahrscheinlich eine Herzattacke. Nein, nein, das ist völlig unmöglich!«

»Geht es hier Jetzt um unsere Väter? Ich will Ihnen etwas über meinen Vater erzählen. Als er vierzehn Jahre alt war, ging er auf dem Heimweg von der Schule über eine Brücke – sie führte über den Dnjepr, in Russland –, als zwei Soldaten ankamen, denen offenbar langweilig war und die nichts Besseres zu tun hatten, als auf ihn loszugehen. ›Wie wär’s mit einer Runde schwimmen, du kleiner Judenbengel‹, riefen sie und schwangen ihn über die Brüstung. Aber mein Vater ließ sich nicht so einfach mitten im Winter ins Wasser werfen. Er kämpfte wie ein Löwe. Am Ende bekam er das Geländer zu fassen und baumelte in der Luft. Die Soldaten fingen an, auf seinen Händen herumzutreten, damit er losließ. Dann kamen ein paar Männer auf einem Karren vorbei, sahen, was passierte, und verjagten die Soldaten. Erzählen Sie mir also nichts von Ihrem starrsinnigen Vater. Kein Mann auf dieser Welt hat einen solchen Dickschädel wie meiner. Und ich schlage ihm nach.«

Jack schüttelte noch immer den Kopf. »Sie kennen Saul Solomon Strauss nicht, Golodny. Wenn Sie Zweifel daran haben, dass er Ärger macht, fragen Sie ruhig Dot.«

Jo lächelte. »Hey, es könnte schlimmer sein. Wir könnten ja beschließen, überhaupt nicht zu heiraten. Sie kennen uns Rote doch ... wir glauben an die freie Liebe.«

»Sie tun – was

Genug jetzt, dachte Dorothy. »Hört auf. Alle beide«, erklärte sie scharf. »Es geht hier auch um mich. Und es steht keinem von euch zu, über mein Leben zu entscheiden.« Sie war selbst überrascht, dass sie den Mut aufbrachte, so mit Jack zu reden. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde, als er sie finster anstarrte. Nein, sie würde nicht zulassen, dass das passierte.

Stünde Yetta in diesem Augenblick zwischen den beiden Streithähnen, würde sie ihnen sagen, was sie tun würde ... Und dann würde sie zu dem kleinen Klapptisch gehen und sich einen Schluck von dem Seagram’s Seven eingießen. Ab sofort wollte sie nicht mehr die arme kleine Dot sein, sondern Yetta, die sich einen Teufel darum scherte, was andere von ihr dachten.

Sie straffte die Schultern, so wie Yetta es getan hätte. »Sie können so viele Wutanfälle und Herzattacken bekommen, wie sie wollen«, erklärte sie mit klarer Stimme. »Es kümmert mich nicht. Ich heirate Jonah so, wie er es will, und damit ist der Fall für mich erledigt. Was für eine Rolle spielt das schon, solange wir zusammen sind? Dann ist er eben ein Linker. Ich bin stolz darauf, und ich bin stolz auf ihn. Die Roten tun wenigstens etwas für die Arbeiterklasse – zu der Pa ebenfalls gehört, falls du das vergessen hast, Jack. Du wirst schon sehen, was passiert, wenn der Krieg erst vorbei ist: Dann werden die Kommunisten mit all ihren Ideen da sein. Wer hat denn deiner Meinung nach das Sozialsystem erfunden? Wer hat für die Gewerkschaften in diesem Land gekämpft?« Sie hielt inne, ein wenig atemlos angesichts ihrer Unverfrorenheit. Sie hatte ja gar nicht gewusst, dass sie so gut reden konnte.

An diesem Samstagnachmittag war Jack sprachlos gewesen – etwas, das höchst selten vorkam. »Erinnerst du dich noch an meine flammende Rede? An Jacks Gesicht?«, fragte sie Jonah jetzt.

Jonah lachte. »Ein einziges Mal fiel ihm keine Erwiderung ein. Er traute seinen Ohren nicht, dass seine kleine Schwester, seine süße, unschuldige, reine Kapitalistenschwester all dieses böse linke Gedankengut aufgeschnappt hatte.«

»Nein«, widersprach Dot. »Er war nur überrascht, dass ich so schnell reden konnte. Der arme Jack, er dachte, Yetta sei die Einzige von uns, die ein loses Mundwerk hat.«

»Hätte er geahnt, wozu Yetta fähig ist«, meinte Jonah, noch immer lachend, »hätte er seine Zeit bestimmt nicht mit uns vergeudet.«

Dot stimmte in sein Gelächter ein. Yetta! Sie war dem Frauencorps beigetreten, nach Europa gegangen und nie wieder zurückgekommen. Brooklyn? Nie im Leben. Seit 1945 hatte Yetta die USA nur ein- oder zweimal besucht. Paris, London, Mallorca, sogar zwei idyllische Jahre im jugoslawischen Ljubljana. Und in jeder Stadt ein weiteres Kind. Nie einen Ehemann, aber einen ganzen Stall voller Kinder. Diese Yetta!

Dorothy stieß einen lauten Seufzer aus. Es gab Tage, an denen sie ihre Zwillingsschwester schmerzlich vermisste. Sieben Jahre waren seit Yettas letztem Besuch vergangen, und Dot fragte sich, ob sie wohl inzwischen alt geworden war. Unvorstellbar! Yetta würde dem Zahn der Zeit niemals erlauben, sie auch nur zu streifen. Als Mädchen hatten sie einander wie ein Ei dem anderen geglichen, so dass die Leute sie nicht auseinander halten konnten. Es hatte zu ihren Lieblingsstreichen gehört, ständig ihre Identität zu vertauschen. »Du bist Dorothy.« »Nein, ich bin Yetta.« »Moment mal, vor einer Minute hast du doch erst behauptet, du wärst Dorothy.« »Nein, das war nicht ich.« Sie hatten diese Spaße geliebt. Aber das war so lange her, so schrecklich lange.

»Da ist Annie«, meinte Jonah. »Hast du einen Vierteldollar dabei?« Annie war eine seiner Obdachlosen, die an manchen Tagen so redselig sein konnte, dass man einfach weitergehen musste, wenn sie vor sich hinbrabbelte. An anderen Tagen hingegen hüllte sie sich in ihre abgenutzte Decke, wenn sie einen kommen sah. Jonah gab ihr stets ein wenig Kleingeld. Er nannte sie Annie, und an guten Tagen nannte sie ihn Jonah. Und wenn sie einen ausgezeichneten Tag hatte, wechselten sie sogar ein paar Worte.

Dot kramte ein paar Münzen aus ihrer Tasche. Jonah ging zu Annie hinüber, doch offenbar war heute einer ihrer schlechten Tage. Sie zog den Kopf ein und weigerte sich, ihn anzusehen und die Hand nach dem Geld auszustrecken. Also beugte er sich vorsichtig hinunter und legte die Münzen auf die prall gefüllten Plastiktüten. Als er wieder neben Dot trat, standen Tränen in seinen Augen. Wie sehr sie das hasste! Seit der Krebs wieder ausgebrochen war, ließ er seinen Tränen viel zu oft freien Lauf. Nur weil er älter wurde und krank war, musste er doch nicht seine Würde verlieren.

»Es ist schrecklich«, meinte er. »Schrecklich, dass wir Menschen so leben lassen. In Decken gehüllt, auf der Straße, wo jeder üble Bursche über sie herfallen kann. In den sozialistischen Ländern dürfen die Armen nicht in den Hauseingängen und Gassen hausen. In China kümmert sich der Staat um alle. Und in Kuba –«

»Keine Politik, ja, Jonah? Was haben China und Kuba mit Bürgermeister Koch zu tun? Er trifft doch die Entscheidungen hier. Was nützt es Annie, wie es in China zugeht. Sie hätte doch viel mehr davon – und auch all die anderen Obdachlosen –, wenn wir alle so wütend wären, dass wir hier etwas unternehmen. Hier in New York! Wut und Taten, Jo, das sind die Dinge, die wir brauchen, wenn wir eine gerechte Welt wollen, und kein sentimentales Gequatsche darüber, wie wunderbar alles in China ist.«

Früher hätte er ihr zugestimmt, doch heute zuckte er nur die Schultern und blickte sie an. »Dorothy, du bist so hart geworden. Wie kommt das nur?«

»Das waren deine eigenen Worte, wie du weißt«, antwortete sie nach einem kurzen Augenblick. »Wut und Taten. Deine Worte.«

»Tja«, meinte er, »offenbar werde ich wirklich alt und vergesse manche Dinge. Und, willst du mich deswegen verklagen?« Er lächelte. Diese Worte waren stets ihr Code gewesen, eine Art »Es tut mir Leid«.

»Oh, Jo, du warst so ein Unruhestifter«, meinte sie. Inzwischen standen sie vor ihrem Apartmentgebäude. Dot schloss die Tür auf und wartete geduldig, bis Jonah die vier Stufen mühsam erklommen hatte. »Ich sehe dich noch heute vor mir, wie du auf der Straße stehst, Flugblätter verteilst und mit den Leuten redest. Das war 1962. ›Lasst uns unseren Brüdern und Schwestern im Süden helfen. Helfen wir ihnen, endlich die Freiheit zu bekommen, die man ihnen schon vor hundert Jahren versprochen hat.‹ Oh, ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. ›Auch wenn es spät ist, aber es ist immer noch besser als die Sklaverei, besser als die Vorurteile, besser als die Sklaverei hinter all diesen Vorurteilen.‹ Oh, du konntest schon immer gut reden, Jonah, wenn du bei einer Versammlung warst, auf Politiker getroffen bist oder draußen auf der Straße gekämpft hast. Nur bei uns ...« Sie ließ die Worte verklingen und hielt ihm die Aufzugtür auf.

Während der Aufzug nach oben rumpelte, musterte sie ihn und bemerkte, dass er im harten, kalten Licht der Kabine gar nicht gut aussah. »Alles in Ordnung mit dir, Jonah?«

»Natürlich, es geht mir gut. Ein bisschen müde vielleicht, nur ein bisschen müde. Weißt du, Dot, als du vorhin darüber geredet hast, wie ich Flugblätter auf den Straßen verteilt habe, hatte ich auf einmal ein Bild von dir vor Augen, wie du diese rosafarbenen Blätter in der Hand hältst... Keine Ahnung, was draufstand und in welchem Jahr das war, es muss wohl Ende der Vierziger gewesen sein ... Du und die beiden Kinder. Cookie war noch im Krabbelalter und hatte diese hellroten Locken. Und Irwin saß in seinem roten Kinderwagen, während du die Flugblätter verteilt hast. Er war noch ein Baby, aber schon mitten im Geschehen.«

»So war es doch oft, Jo«, erklärte sie trocken, »sehr oft.«

»Ich weiß, ich weiß, aber ich erinnere mich noch an dieses eine Mal, weil Irwin wie am Spieß geschrien hat, als ich mit meiner Rede beginnen wollte. Weißt du noch? Er wollte zu seinem Papa. All das ist so lange her. Und jetzt? Heute hängt er dort oben in Boston herum, arbeitet als so genannter Künstler, borgt sich Geld von seiner Schwester und seinem Bruder, und von dir auch – oh ja, ich weiß alles – und belügt alle über seine Herkunft. Er verleugnet seine Familie und nennt sich Win. Win

Jonah sprach den Namen so angewidert aus, dass sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. »Irwin mochte sich noch nie so, wie er war. Erinnerst du dich noch an dieses Jahr, als er Orthodoxer war?« Der Aufzug kam zum Stehen, und sie traten hinaus, wobei sie sich gegen den Rahmen lehnte, so dass die Tür nicht zugleiten konnte. »Und weißt du noch, als er ein Jahr in einem Kibbuz zugebracht hat? Und dann bei diesem Guru in Indien? Als er für Reagan gearbeitet hat?«

Sie schloss die Wohnungstür auf und knipste das Licht an. »Der arme Irwin, er hatte schon immer ein Problem mit seiner Identität.«

»Wir sollten ihm ein Armband mit seinem Namen darauf besorgen, dann weiß er, wer er ist«, brummte Jonah, ehe sich seine Augen unvermittelt mit Tränen füllten. »Dorothy, was haben wir mit unseren Jungs nur falsch gemacht? Der eine denkt nur an Geld und der andere nur an sich selbst. Engagiert sich auch nur einer von ihnen politisch? Ist einer von ihnen ein richtiger Mann, der bereit ist, für etwas wirklich Wichtiges zu kämpfen, frage ich dich.«

Was meinst du damit, dass wir etwas falsch gemacht haben?, hätte sie ihn am liebsten gefragt. Du warst doch sieben lange Jahre nicht da, als sie so dringend einen Vater gebraucht hätten. Du warst nie für sie da, während ich alles getan habe, was ich konnte. Ich habe die Familie zusammengehalten, während du den Untergang des Kommunismus in Amerika betrauert hast.

Aber sie sprach ihre Gedanken nicht laut aus. Sie erwähnte diese sieben Jahre in Millville niemals, da er die Erinnerungen an diese Zeit stets unwirsch beiseite schob, so als verdiente sie es nicht, im Gedächtnis bewahrt zu werden.

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Jo, du solltest dich reden hören«, sagte sie so sanft, wie sie konnte. »Nie lässt du ein gutes Haar an unseren Söhnen. Als du noch jünger warst, hast du den Standpunkt der anderen immer verstanden, selbst wenn du anderer Meinung warst. Und deshalb habe ich dich sofort gemocht, als ich dir das erste Mal begegnet bin. Und jetzt... Jetzt kann man dir nichts mehr recht machen.«

Er musterte sie verblüfft. »Weißt du was, Dot? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du überhaupt sprichst.«

Im Haus des Vaters

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