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KAPITEL 5

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Freitag, 17. August 1945

Der Zug war zum Bersten voll, die Gänge verstopft. Die Reisenden standen so dicht beisammen, dass sich die Menge bei jeder Biegung von einer Seite zur anderen neigte. Und jedes Mal brachen alle in schallendes Gelächter aus.

Die sechsstündige Reise von der Union Station in D.C. bis zur Penn Station in New York war geprägt von Gelächter und allgemeiner Begeisterung. Es war wie in einem Backofen. Die Deckenventilatoren verquirlten wirkungslos die heiße Luft, ohne den Reisenden auch nur den Hauch einer Erleichterung zu verschaffen. Aber niemand beschwerte sich. Stattdessen herrschte ein Gefühl allgemeiner Euphorie vor. Der Krieg war vorüber! Die Japaner hatten sich vor drei Tagen ergeben. Bedingungslose Kapitulation! Endlich würden die Jungs nach Hause zurückkehren. Im Zug sah man bereits Soldaten in leichter Sommeruniform, Seeleute mit ihren Matrosenhemden und den kleinen weißen Hütchen, Marines, allesamt mit ihren Seesäcken und den Hundemarken um den Hals. Im Verbindungsgang zwischen zwei Waggons standen zwei weibliche Militärangehörige und ein Grüppchen Marines-Reservistinnen, sie rauchten und lachten. Glücklich. Alle waren so glücklich.

Dorothy saß eingequetscht auf ihrem Fensterplatz und bemühte sich, ebenfalls glücklich zu sein. Jonah hatte seinen Platz einem jungen Soldaten auf Krücken und dessen Kameraden überlassen. Welchen Grund hätte sie denn, sich zu beschweren? Dass sich eine Schweißspur über ihren Rücken zog, sie einen unerträglichen Juckreiz verspürte, sich aber nicht rühren und folglich auch nicht kratzen konnte? Über ihre Kopfschmerzen, verursacht vom Zigarettenqualm, ganz zu schweigen davon, dass Irwin sie mit seinem Weinen die ganze Nacht auf Trab gehalten hatte? Über Karla, die gerade zwei geworden war und nicht nur schwer auf ihrem Schoß war, sondern auch nicht stillsitzen wollte?

»Himmel noch mal, Karla, halt doch endlich still«, herrschte Dot sie an und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Karla war ein so liebes Kind, doch sie konnte nicht begreifen, wieso sie in diesem überfüllten, lauten Ding saß, das so schnell fuhr, dass New Jersey wie eine Spielzeuglandschaft an ihnen vorbeizog. Sie war doch fast noch ein Baby. Wer konnte ihr böse sein, wenn sie sich mit weit aufgerissenen Augen pausenlos umdrehte und zappelte, um ihre Umgebung zu betrachten.

Dorothy litt unter der Hitze, sie war völlig verschwitzt und wurde von allen Seiten platt gedrückt wie ein Pfannkuchen. Sie freute sich darauf, endlich die Penn Station und Jack zu sehen! Und Sylvia und die beiden Mädchen. Ihre letzte Reise nach New York lag beinahe ein Jahr zurück. Jack würde sie abholen, und gemeinsam würden sie mit dem Taxi nach Downtown fahren. Was für ein Luxus!

Sie war so müde, so unendlich müde. Es war ein glühend heißer August, und mit zwei Babys im Schlepptau und ... nein, lieber nicht darüber nachdenken. Irwin war eher ein quengeliges Kind, das ständig weinte, zu Koliken neigte und schlecht aß.

Sie solle sich entspannen, damit die Milch schön fließe, hatte der Arzt gesagt. Sollte sich doch der Doktor ständig die Nächte um die Ohren schlagen, mit einem brüllenden Baby und einem Mann, der nichts zu hören schien. Ob er ihr dann auch noch raten würde, sich zu entspannen? Na ja, wenn sie nach diesem Wochenende nach Hause kam, würde sie anfangen, Irwin auf das Fläschchen umzustellen, Arzt hin oder her. Aber ob ihre Tapferkeit auch noch ausreichte, wenn sie vor Doktor Weinstein saß und ihm gestand, dass sie seine Anweisungen missachtet hatte?

Karla wand sich auf ihrem Schoß und machte Anstalten aufzustehen. »Karla, Baby, nicht auf Mamas neuem Kleid«, sagte Dorothy. Doch der Rock war bereits knittrig, und ein paar Flecken waren ebenfalls darauf zu sehen. Was für ein Bild würde sie abgeben, wenn ihr Bruder sie an der Penn Station abholte! Einige Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst, ihr Kleid war zerknautscht, und sie trug keine Strümpfe – wo sollte man in Zeiten wie diesen auch Seidenstrümpfe herbekommen? Schließlich war bis vor wenigen Tagen Krieg gewesen.

Sie hob Karla auf ihre Schulter, damit sie über die Lehne des Sitzes spähen konnte. »Papa«, rief Karla, als sie Jonah wenige Meter entfernt stehen sah, der Irwin auf dem Arm hielt und mit der anderen Hand lebhaft gestikulierte.

Karla staunte, ihren Papa zu sehen. Dorothy dagegen war sich seiner Gegenwart nur allzu bewusst, da ständig hinter ihr seine Stimme dröhnte. Er tauschte Kriegserlebnisse mit irgendwelchen Soldaten aus, und der junge Mann mit den Krücken hatte sich ihnen zugewandt und sich in das Gespräch eingeschaltet. Sie amüsierten sich offenbar prächtig und ließen sich erschöpfend über Bomben, Granatwerfer, Kameraden und Schlamm aus, all dieses Kriegsvokabular, durch das sie sich von den gewöhnlichen Sterblichen unterschieden: Schützengraben ... Dosenverpflegung ... Bordwaffenbeschuss ... Handgranaten ... Maschinengewehre. Dot bekam beinahe Zustände. Die Art und Weise, wie sie redeten – so voller Begeisterung. Wenn man ihnen zuhörte, klang es fast, als wäre der Krieg ein Spiel. Ein Spiel! Bei dem man seine Beine oder gar sein Leben verlieren konnte!

Selbst Jonah, der noch immer zeitweise hinkte, bei fast jedem Wetterwechsel Schmerzen hatte und erst neulich schweißgebadet aus einem Albtraum aufgeschreckt war, redete so daher. »... zwanzig unserer Leute gegen all ihre Panzer und Flugzeuge. Aber wir haben gekämpft, bei Gott, ja, das haben wir. Und als uns die Munition ausging, haben wir eben die ungeladenen Waffen auf sie gerichtet.«

»In Italien«, platzte ein Soldat dazwischen, »in Italien haben wir nicht mal Munition gebraucht. Wir hätten auch mit Wasserspritzpistolen durch die Gegend laufen können. Die sind mit erhobenen Händen rausgekommen ...«

Dann wieder Jonahs Stimme: »Zwei volle Jahre haben wir gegen sie gekämpft – im Regen, im Schlamm, in der Kälte, bei Eis und in der Gluthitze ... Oh Gott, diese Stechmücken ...«

»Ja, schlimmer als Kugeln«, warf ein anderer ein. »Die haben einen regelrecht lebendig aufgefressen. Und in Guam waren die Stechmücken größer als Kugeln, das könnt ihr mir glauben.«

Gelächter. Karla lachte mit. »Papa«, rief sie, aber er hörte sie nicht. Er war viel zu beschäftigt, seine abenteuerlichen, glorreichen Tage wieder aufleben zu lassen. Männer! Dot hatte dieses Gerede schon hundertmal, nein, tausendmal gehört. Wann immer er sich mit seinen Kriegskameraden traf, war es dasselbe. Dieselben Worte, dieselben Geschichten, wieder und wieder und wieder. Was ihr jedoch am meisten zusetzte, war, dass all diese Geschichten, wie furchtbar die Realität auch gewesen sein mochte, jedes Schreckens beraubt waren. Die Männer erzählten sie, als wären es irgendwelche Begebenheiten aus früheren Tagen, die nichts mit dem wahren Leben zu tun hatten. Das Entsetzen, die Furcht – all das blieb den Nächten vorbehalten, den Albträumen. Sie war all das so leid. Es war an der Zeit, diese Erlebnisse hinter sich zu lassen, sie endgültig zu vergessen.

Doch sie durfte nicht so ungeduldig sein. Als sie Jonah kennen gelernt hatte, war sie von diesen Geschichten zutiefst berührt. Es war nicht fair, dass sie ihr jetzt so auf die Nerven gingen. Nicht sie war in Spanien gewesen, sondern er. Sie hatte nicht miterlebt, wie Freunde vor ihren Augen starben, er schon. Sie musste sich einfach mehr Mühe mit ihm geben, um ihn zu verstehen.

Hinter ihr stieß Jonah einen Schrei aus. Sie wusste genau, was das zu bedeuten hatte. »Du kleiner Teufel!«, rief er und im selben Atemzug: »Dorothy! Dein Sohn! Wer hätte gedacht, dass ein so kleines Kind einen derartigen Gestank verbreiten kann!«

Einer der Soldaten brach in Gelächter aus. »Der wäre die perfekte Geheimwaffe für uns gewesen«, erklärte er. »Dann wäre der Krieg wahrscheinlich schon letztes Jahr vorbei gewesen.«

Dorothy biss sich verärgert auf die Lippe. Das war nicht lustig. Insbesondere deshalb nicht, weil Jo jetzt völlig selbstverständlich das Baby ihr in die Hand drückte, damit sie es säuberte. Und als Nächstes kam bestimmt: »Nimm du den Kleinen, ich nehme Karla so lange.« Sie war schließlich trocken und sauber und brav. Und warum? Weil Dorothy es ihr beigebracht hatte. Aber worüber beschwerte sie sich eigentlich? Über einen Mann, der keine Windeln wechseln wollte? Welcher Mann würde das schon tun?

Deshalb lächelte sie nun doch, als sie Irwin entgegennahm. »Das versteh ich nicht. Ein Mann, der tapfer genug ist, sich einem Kugelhagel auszusetzen, erträgt keine schmutzige Windel?«, zwang sie sich zu sagen.

»Und, willst du mich deshalb verklagen?«, fragte er und lächelte ebenfalls.

Um vier Uhr nachmittags hatten sie endlich Sylvias und Jacks Apartment im Peter Cooper Village erreicht. Was für eine hübsche Gegend, wie ein richtiges Dorf, eingezäunt und mit Rasenflächen und Spielplätzen, mit eigenen Wachleuten und einer automatischen Sprechanlage, so dass kein Unbefugter das Gebäude betreten konnte. Das Apartment selbst war hübsch und hatte ein großes Wohnzimmer, wo sie es sich inzwischen bequem gemacht hatten.

Karla spielte fröhlich mit ihren beiden Cousinen Elaine und Deena. Die drei kleinen Mädchen lagen bäuchlings auf dem Wohnzimmerteppich und waren mit ihren Malbüchern und Stiften beschäftigt – nagelneue Buntstifte, von denen Dorothy sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, woher Jack sie hatte. Karla und Deena zuzusehen war einfach köstlich. Vom ersten Moment an hatten sie einander an den Händen gehalten und sich seitdem keine Sekunde mehr getrennt.

Dot ließ sich in dem Schaukelstuhl zurücksinken, dem Ehrenplatz, den sie wegen des Babys bekommen hatte, und lächelte beim Anblick der drei Kinderköpfe – zwei rabenschwarze Schöpfe und Karlas kupferfarbene Locken. Selbst Irwin war zur Abwechslung brav. Er lag in ihren Armen und schlief mit halb geöffnetem Mund tief und fest. Sie betrachtete ihn. Wieso nur war ihre Liebe zu diesem Kind nicht so groß?

Er war zu früh gekommen, das war wohl das Problem; zu einem Zeitpunkt, als sie Karla noch gestillt hatte. Normalerweise konnte man nicht schwanger werden, solange man noch stillte, zumindest behaupteten das alle, und sie hatte es geglaubt. Als ihr morgens pausenlos übel war, dachte sie, sie hätte die Grippe. Aber als diese ständige Müdigkeit einsetzte, war ihr alles klar. Noch bevor sie den Arzt aufgesucht hatte. Es war zwar eigentlich unmöglich, aber es war trotzdem passiert.

Die ganzen neun Monate litt sie unter entsetzlichen Übelkeitsanfällen, und als er endlich auf der Welt war und sie dachte, es würde nun alles gut werden, hatte er eine Kolik nach der anderen. Sie fühlte sich, als hätte sie seit zehn Jahren nicht mehr geschlafen. Wenigstens hatte sie jetzt einen Augenblick Ruhe. Sanft schaukelte sie im Stuhl hin und her und lauschte den Stimmen mit einem Ohr.

Jack redete übers Geschäft, wie immer. Irgendetwas von Land, das man kaufen musste, solange es noch billig war, und wie bitter nötig es sei, dass endlich neue Häuser gebaut würden. In diesem Punkt stimmte sie ihm zu. Sie lebten immer noch in der Zweizimmerwohnung in der Q Street, die Dot früher mit Yetta geteilt hatte. Die Kinder hatten das Schlafzimmer, und sie und Jo schliefen auf einem Klappbett im Wohnzimmer, das jeden Abend aufs Neue hergerichtet werden musste. Aber eine Wohnung in Washington zu finden war vollkommen unmöglich. Vielleicht jetzt, nachdem der Krieg vorbei war? Aber Jack sagte gerade, dass es mindestens noch zwei Jahre dauern würde, bevor irgendeines der Häuser bezugsfertig sei.

Sie versank in ihren eigenen Gedanken. Langsam verblassten die Stimmen im Hintergrund, vermischten sich mit den Geräuschen aus der Küche, wo Sylvia das Abendessen zubereitete ...

Ein durchdringender Schrei ließ sie zusammenfahren. Irwin. Beim Aufwachen, bevor er auch nur die Augen aufgeschlagen hatte, war er grundsätzlich quengelig. Und hungrig. Dot stieß einen Seufzer aus. Sie legte das Baby über ihre Schulter und beschwichtigte es, ehe sie aufstand. »Entschuldigt mich bitte, das Kind braucht etwas zu essen.«

»Wo hast du denn sein Fläschchen?«, erkundigte sich Jack. »Bleib ruhig sitzen, ich hole es dir.«

Dot lachte leise. »Ich bin sein Fläschchen, Jack.«

Zu ihrer Überraschung verzog er das Gesicht. »Du? Stillen? Wie eine Bäuerin?«

»Wie eine Frau«, erwiderte sie säuerlich, »dazu sind wir doch da.«

Er blickte sich eilig um. »Dorothy! Die Kinder!«

»Oh Jack, das kann doch nicht dein Ernst sein.«

Karla hatte dem Dialog gespannt gelauscht und stand auf. »Mama! Ich auch, Mama!«

Dorothy wusste nur zu gut, was sie wollte, würde es ihr aber nicht geben. »Nein, Karla, bubeleh. Für dich habe ich ein hübsches Fläschchen mitgebracht. Du bist doch schon ein großes Mädchen.«

»Nicht groß! Nicht groß!«

»Was will sie denn?«, fragte Jack, hob Karla hoch, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf, so dass sie quiekte, halb vor Aufregung, halb vor Angst. Nicht so hoch, hätte Dot am liebsten gesagt, aber das Kind schien Gefallen daran zu finden.

»Sie will auch die Brust haben«, erklärte Jonah. »Sie kann sich noch erinnern, wie es war, und deshalb ist sie eifersüchtig auf das Baby.«

»Ein so großes Mädchen wie du?«, fragte Jack grinsend und hielt sie auf Armeslänge von sich. »Deena trinkt schon aus einer Tasse. Du trinkst doch gern aus der Tasse, nicht, Deena?«

»Tasse, Tasse«, plapperte Karla, und Jack lachte amüsiert. »Das ist mein Mädchen. Siehst du, wie einfach das ist?«, sagte er zu Dorothy, die einiges zu diesem Thema zu sagen gehabt hätte, sich aber jeden Kommentar verkniff. Was wusste ein Mann schon über den tagtäglichen Umgang mit Kindern?

»Also, meine kleine Zuckerschnute, dann gehe ich jetzt in die Küche, wo wir dir eine hübsche Tasse heiße Milch kochen.«

»Koki, ich koki«, jubelte Karla.

»Habt ihr das gehört? Ich koki, hat sie gesagt. Das gefällt ihr wohl. Cookie. Okay, ab sofort werde ich dich Cookie nennen. Cookie!« Wieder warf er sie in die Höhe und lachte, als sie einen spitzen Begeisterungsschrei ausstieß.

»Ihr Name ist Karla«, erklärte Jonah verärgert.

»Karla ist doch ein Zungenbrecher. Cookie, das ist der perfekte Name für sie.«

»Soll ich dir mal was sagen, Strauss?«, meinte Jonah, »du bist ein Kapitalist, wie er im Buche steht. Du glaubst, du bist der Boss und kannst jeden herumkommandieren.«

Jack stellte das kleine Mädchen auf die Füße und wandte sich Jonah zu. »Ach ja? Und du bist ein Roter, wie er im Buche steht. Immer eine große Klappe, aber nichts dahinter. Du und dein Russland! Russland erklärt Japan den Krieg – fünf Minuten, bevor sie kapitulieren! Nachdem wir sie besiegt haben! Nennst du das einen Alliierten? Ich nenne das heiße Luft! Nichts als hohles Geschwafel!«

»Was meinst du mit mein Russland? Ich bin dort geboren, das heißt aber noch lange nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, was dort vor sich geht. Ich bin Bürger dieses Landes. Und zufällig bin ich ein Arbeiter, der bereit ist, für die Rechte der unterdrückten Arbeiter auf dieser Welt zu kämpfen.«

»Unterdrückte! Ich zahle meinen Leute gute Löhne, behandele sie gut, und außerdem –«

»Jo!«, bat Dot, »Jack! Bitte! Fangt doch nicht wieder damit an!« Doch die beiden Männer nahmen keine Notiz von ihr.

»Ha!«, rief Jonah, »du musst deine Männer ordentlich behandeln. Und warum? Weil die Anhänger der Fortschrittspartei den Arbeitern in diesem Land beigebracht haben, dass Zusammenhalt Macht bedeutet. Du behandelst deine Leute doch nur gut, weil sie gewerkschaftlich organisiert sind!«

»Gewerkschaften! Die werden dieses Land noch ruinieren, das kann ich dir sagen. Haben die Bergleute im Mai etwa nicht ›Urlaub‹ genommen, als wir so dringend Kohle für die Kriegsproduktion gebraucht haben? Und die Kriegsarbeitsbehörde musste sie zwingen, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das also habt ihr ihnen beigebracht!«

»Hör mir zu, Strauss. Ohne die Gewerkschaften wären die Arbeiter in Amerika nicht besser dran als Sklaven. Sie wären der Gnade ihrer Herren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. So wie die Leibeigenen in Russland oder die Neger im Süden. Als ich mit zehn Jahren in dieses Land kam, haben wir nicht wie die meisten Immigranten in New York gelebt. Wir gingen nach Atlanta, Georgia, weil wir Verwandte dort hatten. Ich war gerade aus dem Zug gestiegen und ging ein Stück hinter meinen Cousins und meinem Onkel die Straße entlang und hab mich ein bisschen umgesehen. Da kam mir ein Mann entgegen, ein Schwarzer, ein erwachsener Mann. Und dieser Mann trat vom Bürgersteig herunter in die Gosse – ohne darüber nachzudenken –, um mir Platz zu machen. Mir, einem kleinen pinsher, der noch nicht mal lange Hosen anhatte. Wie oft habe ich so etwas erlebt, und noch viel Schlimmeres. Und jedes Mal hat es mir den Magen umgedreht. So geht es mir heute noch! Weißt du, was dort unten im Süden passieren wird? Eines Tages wird es jemanden geben, der sie organisiert, ihnen beibringt, dass sie sich zusammentun, Druck machen und für ihre Rechte kämpfen müssen.«

Jack lachte auf. »Das wird nie im Leben passieren, Golodny. Sie sind eben einfach... anders als wir. Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ich weiß ganz genau, wovon ich rede. Ich habe drei schwarze Arbeiter, und die interessiert nur eins: dass bald Freitag ist, weil sie dann ihre Lohntüte bekommen, so dass sie sich Alkohol und ein paar Weiber kaufen können... Entschuldige bitte, Dorothy.«

»Deine Selbstgerechtigkeit«, erklärte Jonah mit bebender Stimme, »macht mich nur umso entschlossener. Da dieser Krieg nun vorbei ist, werde ich als Gewerkschafter arbeiten. Und als Allererstes gehe ich nach Georgia zurück.«

»Jonah!«, rief Dorothy, »was sagst du denn da? Du hast eine Frau und zwei Kinder. Du wirst ganz bestimmt nicht einfach deine Sachen packen und in den Süden gehen, um Neger in Gewerkschaften zu organisieren!«

»Genau«, meinte Jack. »Findest du nicht auch, dass deine Familie an erster Stelle stehen sollte?«

»Jo?« Dot versuchte vergeblich, ihn dazu zu bewegen, ihr ins Gesicht zu sehen. »Jonah. Das wirst du nicht tun.«

»Wir werden sehen.«

Das bedeutete nichts anderes als: Ende der Diskussion. Das war auch etwas, das sie nicht an ihm mochte. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, mit ihm zu streiten. Sie war beinahe froh, als Karla wegen irgendeiner Kleinigkeit zu jammern begann und alle sich ihr zuwandten.

»Hier, Cookie«, rief Jack. Ihr Bruder war unverbesserlich. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er sich durch nichts davon abbringen. Dot hatte eigentlich nichts gegen den Namen Cookie einzuwenden, sie fand ihn sogar ganz niedlich. »Ach, Cookie«, meinte er überschwänglich, »es ist doch nicht schlimm, dass dein Malstift abgebrochen ist. Sieh mal, was du von deiner Cousine Lainie dafür bekommst. Dieses kleine Lämmchen hier.« Er griff neben sich auf den Boden und hob ein rosafarbenes Plüschlamm auf. »Willst du das gern haben?«

In dem Augenblick, als Karla die Hand ausstreckte, begann Elaine so laut zu brüllen, dass es bestimmt bis Brooklyn zu hören war. »Mein Lämmchen! Meins, Daddy, meins!«

Jack hielt das Plüschtier außerhalb ihrer Reichweite. »Schäm dich, Elaine Madeleine, du hast doch bestimmt tausend Spielsachen. Kannst du nicht eines davon deiner Cousine abgeben, die den ganzen Weg aus Washington hergekommen ist, nur um dich zu besuchen?«

»Nein!«, kreischte sie. »Meins! Meins!«

Elaine stimmte ein durchdringendes Geheul an, in das Karla nach wenigen Augenblicken einfiel. Soll Jack sich darum kümmern, dachte Dot. Er verdient es nicht besser. In diesem Moment griff Deena nach einer kleinen Teetasse aus Plastik, taumelte auf Karla zu und hielt sie ihr mit weit aufgerissenen Augen hin. Schlagartig hörte Karla auf zu heulen – sie liebte Spielzeuggeschirr – und griff nach der Tasse. Das Lämmchen war vergessen.

»Seht euch das an«, bemerkte Jonah. »Was für ein freundliches Kind.«

»Das ist meine Deena, mein liebes, großzügiges Mädchen«, erklärte Jack und blickte stolz auf seine Tochter hinunter. »Und jetzt umarmst du deine Cousine Cookie und gibst ihr ein Küsschen, mein Schatz.« Artig umarmten die Mädchen einander und gaben laute Kussgeräusche von sich.

»Seht euch das an«, wiederholte Jonah. »Die beiden sind schon Freundinnen.«

Jack nickte. »Sie lieben sich. Und wieso auch nicht? Sie sind schließlich Cousinen. Blut ist nun mal dicker als Wasser.«

Das Baby gab keine Ruhe mehr. Und Dot war froh, von den beiden Männern und ihren politischen Meinungsverschiedenheiten wegzukommen und sich stattdessen in die friedliche Küche zurückziehen zu können. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und legte das Baby an. »Und jetzt iss, Liebling«, befahl sie. Währenddessen erklärte sie Sylvia: »Karla konnte man anlegen, und sie fing sofort an zu saugen. Irwin dagegen ... Er lässt sich alle Zeit der Welt, sieht sich um, quengelt, nörgelt, dann trinkt er wieder ein bisschen ... Ich schwöre dir, Sylvia, in den ersten vier Monaten hat es manchmal so lange gedauert, dass wir wieder von vorn anfangen konnten, kaum dass wir fertig waren.«

Sylvia, die mit ihren Töpfen und Pfannen am Herd herumhantierte, wandte sich um. »Da war mir das Fläschchen schon lieber ... Das kannst du wenigstens auch mal deinem Mann in die Hand drücken.« Sie brachen in Gelächter aus. »Oh, sieh mal, wer da kommt.«

Dot blickte auf und sah die drei Mädchen, Elaine an der Spitze, mit entschlossenen Gesichtern in die Küche treten. »Wir wollen mal zusehen«, erklärte sie.

»Was gibt es denn da zu sehen? Das Baby bekommt doch nur sein Essen.«

»Oh nein«, meinte Elaine und schüttelte in feierlichem Ernst den Kopf. »Ein Baby isst aus der Flasche.«

»In New York vielleicht, aber bei uns in Washington D.C. macht man das so.«

»Dot!« Sylvia lachte. »So kriegt sie ziemlich seltsame Ideen mit auf den Weg.«

Die drei kleinen Mädchen scharten sich um Dot und beugten sich gespannt vor. »Aber wenn er dich ganz aufgegessen hat«, meinte Elaine, nachdem sie einige Minuten konzentriert nachgedacht hatte, »bleibt ja gar nichts fürs nächste Mal übrig.«

Dot lachte so laut, dass Irwin von ihrer Brustwarze abließ und zu protestieren begann. Elaines Unterlippe bebte. »Deswegen brauchst du doch nicht zu weinen«, erklärte Dot. »Er isst mich nicht auf, bubeleh. Alle Mamas haben Milch für ihre Babys.«

Elaine kicherte und streckte die Hand nach Dots entblößter Brust aus. »Schluss jetzt, Elaine«, sagte Sylvia scharf, »lass Tante Dorothy in Ruhe.«

»Schon gut, Sylvia. Sie stört mich nicht. Sie ist doch nur neugierig.«

»Aber mich stört sie. Und jetzt tust du, was ich dir sage, Elaine.« Eilig trat sie zu ihr. »Ich habe eine Idee. Ihr setzt euch jetzt hin, du hier, Deena und Karla da drüben, und dann bekommt ihr Götterspeise von mir.«

»Daddy sagt aber, dass Karla Cookie heißt. Kriege ich einen Keks zu meiner Götterspeise?«

»Es gibt nur ein Dessert, Elaine. Dieses Kind ist verrückt nach Süßigkeiten.«

»Wieso, Syl?«, fragte Dorothy, während Sylvia Teller und Löffel holte.

»Wieso was?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

»Wieso stört es dich, wenn sie mich anfassen will? Kinder sind nun mal neugierig, und ich bin nicht besonders schamhaft, was das betrifft. Das kann man sich gar nicht erlauben, solange man stillt.«

»Tja, vielleicht bin ich aber schamhaft, keine Ahnung. Ich habe natürlich nicht gestillt. Ich habe zwar darüber nachgedacht, aber das ist nichts für mich.« Obwohl sie lachte, glaubte Dot einen Anflug von Unbehagen in ihrer Stimme zu hören. »Was ist, wenn so ein Baby etwas zu essen will, wenn ich gerade bei meinem Mah-Jongg-Spiel bin?«

Irwin hörte auf zu nuckeln und öffnete ein wenig seinen Mund, während ihm die Lider schwer wurden. Dot stupste ihn behutsam an, um ihn daran zu erinnern, dass noch nicht Schlafenszeit war. Sie dachte gerade noch darüber nach, was sie Sylvia antworten sollte, als diese fortfuhr: »Aber das war nicht der wahre Grund. Jack und der Arzt fanden, dass Stillen etwas für Bauern ist. Und mir war es mehr als recht. Ich habe wirklich großen Respekt vor dem, was du tust, Dorothy, aber mir wäre es zu peinlich, muss ich zugeben.«

»Tut mir Leid, ich bin in die Küche gekommen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Ist es dir lieber –«

»Absolut nicht! Okay, Kinder, ihr geht jetzt wieder. Lainie, du holst die Spielklötze für die Kleinen.« Sie bugsierte die Mädchen aus der Küche und setzte sich. »Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten.«

»Du riechst so gut.«

»Das sind Kohlrouladen. Die mache ich doch immer, wenn ihr kommt.«

»Nein, Dummchen, dein Parfum. Was ist das?«

»Es ist ganz neu. Breathless. Ich habe es neulich bei Bonwit’s erstanden. Es riecht wirklich gut, findest du nicht auch?«

»Aber es war bestimmt teuer.«

»Dreizehn Dollar die Flasche.«

Dorothy stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Viel zu viel für Leute wie mich«, seufzte sie.

»Dot! Was willst du denn damit sagen – Leute wie du

»Wir können uns kein Parfum für dreizehn Dollar leisten. Jo verdient doch nur – na ja, du weißt ja, wie viel er nach Hause bringt. Er ist Angestellter bei der Regierung. Oh, die Bezahlung ist im Grunde nicht so übel, aber es scheint eben nie ganz zu reichen. Außerdem würde er nie zulassen, dass ich für so etwas wie Parfum Geld ausgebe.«

Sylvia lachte. »Verstößt das gegen seine Prinzipien? Tja, dann zweig doch einfach jeden Monat ein paar Cent vom Haushaltsgeld ab und kauf es dir selbst.«

»Meine größte Sorge ist, dass er wahrscheinlich nie viel mehr verdienen wird, Syl.«

»Natürlich wird er das. Er wird sich hocharbeiten. Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sieh dir nur an, was Jack aus der kleinen Tischlerei meines Vaters gemacht hat.«

»Ja, das ist Jack, Sylvia, er ist ein macher, ein Charmeur. Was auch immer er in die Hand nimmt, er schafft es. Jonah dagegen ... Tja, ich liebe meinen Mann von ganzem Herzen und bewundere ihn für das, wofür er eintritt. Aber er bringt die Leute nun mal gegen sich auf.«

»Wie meinst du das?«

»Jonah ist der Überzeugung, dass man sein Herz auf der Zunge tragen soll. Das finde ich ja auch, immerhin leben wir in einem freien Land. Aber manchmal muss man eben aufpassen, was man sagt. Man muss sich vorher überlegen, wie andere es auffassen könnten. Aber so etwas tut Jo nicht. Er weiß einfach, dass er Recht hat, verstehst du? Er ist sich seiner Sache immer so verdammt sicher. Und wenn er Recht hat, dann glaubt er auch, es überall und jedem sagen zu müssen. Beispielsweise als Truman die Atombombe auf Hiroshima abwerfen ließ, wurde Jonah so wütend, dass ich dachte, er bekommt einen Herzanfall. ›Sie hätten die Bombe über unbesiedeltem Land abwerfen können‹, hat er die ganze Zeit gezetert. ›Sie hätten nicht so viele Menschen zu töten brauchen ... Frauen, Kinder und alte Leute.‹ ›Aber, Jo‹, habe ich gesagt, ›sei doch dankbar, dass dieser Krieg endlich vorbei ist. Und bitte, leg dich nicht wieder mit Chapman im Büro an.‹ Er ist sein Boss: Bill Chapman, ein überzeugter Patriot, sehr für Truman und ziemlich empfindlich im Hinblick auf alles, was mit Amerikas Kriegsführung zu tun hat. Am besten sagt man ihm gegenüber nichts, was irgendwie als Kritik an seinem Land ausgelegt werden könnte. Und Bill Chapman glaubt allen Ernstes, dass Amerika sein Land ist.«

Sie hielt einen Augenblick inne und legte sich Irwin über die Schulter, damit er sein Bäuerchen machen konnte. »Aber es hat alles nichts genützt. Als im Büro ein paar Männer über die Atombombe geredet haben, hat er allen seine Meinung gesagt. In diesem Land muss ein Mann sagen können, was er denkt, meint Jo. Das sei der Grund, weshalb er aus Europa hierher gekommen sei. Er hätte ein Recht darauf, dass man ihm zuhört. Und vielleicht stimmt das ja auch, aber das bringt einen in dieser Welt eben nicht weiter. Ich kann dir genau sagen, was passiert. Auf diese Weise sorgst du nur dafür, dass dein Boss sauer auf dich wird. Alle werden sauer auf dich.« Sie unterbrach sich erneut und betrachtete das Baby, das inzwischen eingeschlafen war. »Das ist der Grund, weshalb ich glaube, dass Jo es nie weit bringen wird. Ich glaube, dass er nicht aufsteigt, und soweit ich es beurteilen kann, interessiert ihn seine Karriere auch gar nicht. Ich sage dir: Ich habe keine Ahnung, was ihn eigentlich überhaupt noch interessiert, außer seinen Idealen natürlich, seinen Prinzipien und seiner politischen Meinung. Diese Dinge sind ihm wichtig, viel wichtiger als so lächerliche Details wie Geld, seine Familie oder... ich.«

Sylvia öffnete den Mund, aber Dorothy ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, wie wichtig es ist, an all die armen Leute in der Welt zu denken, an die Unterdrückten, diejenigen, die keine Rechte haben, an die Unterschicht. Das habe ich weiß Gott gelernt. Aber, Sylvia, nur weil dieser Mann sich einer Sache verschrieben hat, heißt das doch nicht, dass die... Befriedigung seiner Frau völlig unwichtig ist, oder?«

»Dorothy, du willst doch nicht etwa sagen –«

»Oh, doch. Genau das meine ich. Dieser Mann kommt einmal pro Woche in mein Bett... höchstens ... und dann ist er auch sehr leidenschaftlich. Aber dazwischen ... keine Ahnung, er interessiert sich eben nicht für mich. Nein, schlimmer noch, es ist, als würde ich als Frau gar nicht existieren.«

»Dorothy, hör mir zu, du solltest nicht –«

»Ich weiß, ich weiß, ich bin selbstsüchtig, aber... ich mag nun mal Sex. So, jetzt ist es raus. Es stimmt. Ich genieße Sex. Und warum auch nicht? Es ist doch etwas ganz Natürliches zwischen Mann und Frau. Ich habe sogar versucht, mit ihm darüber zu reden, daraufhin hat er mir zu verstehen gegeben, ich sei anormal. ›Es ist nicht normal‹, hat er gesagt, ›wenn eine Frau so versessen darauf ist, insbesondere eine Frau deines Alters, die schon zwei Kinder hat.‹ Ich fühle mich aber nicht unnormal. Willst du wissen, wie ich mich fühle? Ich bin frustriert! Frustriert!«

»Dorothy, sie können dich hören. Ich meine, so ist das nun mal mit den Männern. In den ersten Jahren können sie kaum genug kriegen von einem, aber dann ... na ja, dann legt sich das Ganze eben. So ist es mit der Ehe. Wenn ich dir einen Rat geben soll – hab Geduld, das regelt sich schon.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Oder glaubst du ... es hat mit einer anderen Frau zu tun?«, fragte sie ein wenig zögernd.

»Jo? Er ist der letzte Mann, von dem ich mir so etwas vorstellen kann. Oh Gott, Sylvia, allein bei dem Gedanken muss ich lachen!«

»Ich frage ja nur. Tja, wenn es daran nicht liegt, was hältst du dann von einem aufreizenden Nachthemd? Das kann nicht schaden.«

Die beiden Frauen sahen einander an und begannen zu prusten. »Männer!«, sagten sie wie aus einem Munde und lachten noch lauter, so dass das Baby aufwachte und zu weinen anfing.

Im Haus des Vaters

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