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KAPITEL 7
ОглавлениеSonntag, 4. September 1949
Der Bus bog vom Highway in eine ruhigere Straße ein, und mit einem Mal lag die Bronx hinter ihnen. Keine hohen Gebäude mehr, keine Bahngleise. Dorothy beugte sich ein wenig näher zu dem geöffneten Fenster und betrachtete die Aussicht – das Grün der Bäume, die sich bis hinauf in die Berge zogen. Natürlich sah sie auch die Abgasfahne des Busses, aber das störte sie nicht. Das spätsommerliche Licht war sanft und weich, und trotz des bedeckten Himmels herrschten angenehme Temperaturen. Ein perfekter Tag für ein Konzert im Freien.
Zu schade, dass sie all das nicht so recht genießen konnte. Obwohl Familien mit Picknickkörben in dem gemieteten Bus saßen, war dies alles andere als ein sorgenfreier Sonntagsausflug. Sie hoffte sehr, dass das Konzert nicht wieder abgesagt werden musste wie am vergangenen Wochenende. Wie konnten die Menschen einen berühmten Sänger wie Paul Robeson nur so hassen? Und dabei war er ein Genie! Ein Phi-Beta-Kappa-Mitglied, das die Abschiedsrede für seinen Jahrgang an der Rutgers University gehalten hatte! Dieser Mann beherrschte über zwanzig Sprachen, hieß es. Außerdem war er ein begnadeter Sportler. Und ein wunderbarer Schauspieler. Warum also galt er bei den Leuten als Landesverräter? Nur weil er sich gegen die Unterdrückung seines Volkes ausgesprochen hatte? Konnten sie sich denn nicht vorstellen, wie es sein musste, als Schwarzer in diesem Land zu leben? Konnten sie denn nicht ein klein wenig rachmones, ein bisschen Mitleid und Verständnis aufbringen? Dass die Menschen im Süden unterdrückt wurden, war ja nichts Neues. Aber hier in Peekskill, New York? Das war ihr unbegreiflich.
Jonah wurde stets ungeduldig, wenn sie solche Dinge ansprach. »Weshalb verstehst du das denn nicht? Du hast doch selbst in Washington gelebt. Du hast Jim Crow gesehen. Und erzähl mir nicht, Washington sei der Süden. Es ist die Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Dieses so genannte ›freie Land‹, Dorothy, angeblich die Wiege der Freiheit, wird doch in Wahrheit von gierigen Bossen geführt, die die Schwächeren unterdrücken. Teile und herrsche, Dot, darauf wollen sie hinaus. Die weiße Arbeiterklasse dazu bringen, dass sie die schwarze Arbeiterklasse hasst, damit sie alle beherrschen können.«
Genau darüber unterhielten sich die Männer im vorderen Teil des Busses. Jonah, der mit Cookie vor ihr saß, lehnte sich auf den Mittelgang hinaus und schwang mit erhobenen Armen flammende Reden. »Ein Mann von Robesons Kaliber ... Es ist eine gottverdammte shandah, ihm das Recht zu verwehren ... Das Recht worauf? Darauf, eine politische Rede zu halten, eine Armee zusammenzustellen?« Und so folgte eine rhetorische Frage auf die andere. »Dieser Mann wollte nur singen. Singen! Ich frage euch, gilt das neuerdings auch schon als aggressiver Akt?« Die Menge reagierte begeistert.
Jonahs Kamerad Frank Green nickte und lächelte. »Golodny, gib doch zu: Wenn Robeson singt, spielt es keine Rolle, was er singt: Es ist immer ein politisches Statement.«
»Wenn Robeson heute nur aufsteht«, stimmte Jonah zu, »ist das schon ein politisches Statement.« Wieder Gelächter und Zustimmung. Jo und Frank grinsten einander an. Sie hatten zusammen in Spanien gekämpft. Frank hatte Jo in Sicherheit gebracht, als der verwundet worden war. Und nun war er in der Siedlung aufgetaucht und erwies sich als absoluter Volltreffer. Besonders bei den Damen. Tja, man konnte beim besten Willen nicht leugnen, dass er ein ungewöhnlich gut aussehender Mann war.
»Solange ich ein Wörtchen mitzureden habe, werden sie ihn heute nicht wieder vom Singen abhalten«, erklärte er nun.
»Letzte Woche sind sie mit einem Lastwagen gekommen und haben uns den Weg abgeschnitten«, rief einer von hinten. »Ich hatte eine Heidenangst, das kann ich euch sagen. Und als sie dann auch noch die Programmhefte verbrannten, habe ich mich ernsthaft gefragt, in welchem Land ich eigentlich lebe.«
»Und die Stühle, Lou«, rief jemand. »Sie haben die Klappstühle zertrümmert und sie ins Feuer geworfen. Wie bei den Nazis in Deutschland! Ich hab mich echt gefragt, ob ich als Nächstes dran bin.«
»Heute werden sie nicht an uns rankommen«, meinte Jonah. »Der Worker hat den Aufruf veröffentlicht. Es werden Tausende Veteranen kommen, die alle auf unserer Seite stehen und uns und Paul Robeson abschirmen. Sie bilden einen menschlichen Bannkreis, und dann sollen diese Mistkerle mal versuchen, an ihnen vorbeizukommen! Ich sage euch, Freunde! Wenn heute jemand auch nur eine falsche Bewegung macht, bin ich bereit zu kämpfen, notfalls bis zum Tod!«
Dorothy, der die unterdrückte Erregung in Jonahs Stimme nicht entging, richtete sich auf und warf einen Blick auf Cookie, die sich an ihren Papa gekuschelt hatte, ehrfürchtig und voller Bewunderung zu ihm aufblickte und jedes Wort aufsog, das er von sich gab, obwohl sie natürlich noch viel zu klein war, um zu verstehen, wovon er redete.
»Hast du das gehört, Leah? Diese Vorfreude? Sie hoffen insgeheim, dass es Ärger gibt«, sagte sie zu der Frau, die neben ihr saß.
»Dorothy Golodny! Wie kannst du so etwas sagen! Robeson hätte letzte Woche getötet werden können. Seit er auch in Europa auftritt, um die Rassendiskriminierung anzuprangern, brennen sie doch darauf, ihn in die Finger zu bekommen. Und heute könnten sie es wieder versuchen. Das will doch niemand.«
»Ich weiß nur eins: Jonah sagt ständig, der Kampf mit der Lincoln Brigade in Spanien sei das Beste gewesen, was er jemals getan hat.« Sie zuckte die Schultern. »Keine Sorge, ich verstehe durchaus, wie wichtig es ist, heute nach Peekskill zu fahren und sich gegen diese Mistkerle zu wehren, die nichts Besseres zu tun haben, als unschuldige Leute zu bedrohen ... Sieh mal, Leah, schließlich habe ich doch sogar erlaubt, dass meine sechsjährige Tochter Cookie mitkommt, damit sie sich später daran erinnern soll, wie sich ihre Familie dafür eingesetzt hat, woran sie glaubt. Ich sage doch nur, dass mir das Herz bis zum Halse schlägt. Ich kann nicht mal in Ruhe die Aussicht genießen. Und die Männer freuen sich schon auf den Ärger, sie recken die Fäuste und lachen. Männer! Ständig auf der Suche nach Streit!«
Leah murmelte eine Art Erwiderung, ehe sie sich wieder ihrer Unterhaltung mit der Frau auf der anderen Seite des Gangs zuwandte. Zwei Klatschbasen – warum verschwendete sie ihre Zeit mit ihnen? Sie wünschte, Anna und ihr Mann Ben wären mitgekommen, aber sie fuhren im Wagen von Bens Cousin mit. Dorothy versuchte erneut, aus dem Fenster zu sehen und wollte nicht mehr an die aufgebrachte, zornige Menge in Peekskill denken – die »Anti-Robeson-Gruppe«, wie die New York Times sie genannt hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie lächerlich das war, dass die Leute so wütend auf einen Mann sein konnten, der keinerlei Macht besaß – dessen einzige Waffe darin bestand, dass er den Mund aufmachte und eine Rede hielt oder ein Lied sang.
In diesem Augenblick sprang Frank von seinem Sitz auf. »Kameraden!«, rief er. »Lasst uns versprechen, dass wir keinen Millimeter weichen werden, egal, was sie tun! Als wir ’38 unten in Greensboro die Wanderarbeiter organisierten, haben wir direkt neben der Straße Zelte aufgestellt, und keiner konnte uns vertreiben! Wir waren stark, weil wir wussten, dass wir im Recht sind.«
Franks Rede löste begeisterten Applaus aus. »Revolution, wir kommen!«, riefen einige, ehe sich Bella Rosenzweig, eine alte Jungfer aus Sektion K, mit heiserer Stimme zu Wort meldete. »Mein ganzes Leben hat man mir die Revolution versprochen, und ich habe schon etliche Jahre auf dem Buckel. Ich glaube erst an die Revolution, wenn sie vor mir steht! Wie wär’s inzwischen mit einem Salamisandwich oder einem gefüllten Ei, schöner Mann?«
»Zufällig gehöre ich zu denen, die einen gesunden Appetit haben«, ging Frank gutmütig darauf ein und blickte sich verschmitzt lächelnd zu den kichernden Frauen um.
Leah stieß Dorothy mit dem Ellbogen an. »Der da ist ein richtiger Teufel. Ich könnte dir Geschichten erzählen ...«
Auch Dorothy konnte nicht leugnen, dass sie noch nie einem so gut aussehenden Mann begegnet war – wie ein Filmstar. »Leah, er ist doch gerade mal vor einem Monat hergezogen.«
»Aber wie ich gehört habe, ist er ein ganz heißer Feger. Er hat sich schon an Byrna rangemacht. Du weißt schon, die aus Sektion C mit dem Mann, der so viel älter ist als sie. Und jetzt hat er’s mit Harris’ Tochter. Wenigstens ist die noch ledig, aber trotzdem ist es eine shandah – die ist doch erst neunzehn, und er muss mindestens fünfunddreißig sein.«
Frank kam kauend den Gang entlang, setzte sich auf den Platz vor Jonah und hielt ihm zwei in Wachspapier verpackte Sandwiches hin. »Golodny? Salami auf Roggenbrot?« Als Jonah den Kopf schüttelte, beugte er sich vor und hielt Dorothy lächelnd das Sandwich hin. Er ist total von sich überzeugt, dachte sie, als er seine strahlend weißen Zähne entblößte und den Kopf zurückwarf, um sein dichtes, dunkles, gewelltes Haar aus der Stirn zu schütteln. »Und wie sieht’s mit der hübschen Frau mit den Zigeuneraugen aus? Eine Kleinigkeit zu essen?«
Diese Unverfrorenheit, vor den Augen ihres Ehemannes so mit ihr zu flirten! Offenbar glaubte er, alle Frauen müssten ihm zu Füßen liegen. »Nein danke, wir haben unsere eigenen Sachen mitgebracht.«
Sie hatte den Eindruck, dass sein Blick länger auf ihrem Gesicht verharrte, als unbedingt nötig, und spürte, wie sie errötete. Sie wandte sich wieder Leah zu und redete wie ein Wasserfall auf sie ein, wohl wissend, dass sie sich später an kein Wort würde erinnern können.
»In einer halben Stunde sollten wir da sein«, sagte Leah und warf einen Blick auf ihre große, runde Armbanduhr. »Weißt du eigentlich«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, »dass es heißt, er sei nur der Partei beigetreten, weil er gehört hätte, dass wir freie Liebe praktizieren?«
»Wer?«, fragte sie.
»Na, er! Green. Der Schönling.«
Ach, sie wollte nicht mehr über ihn reden. Die Art und Weise, wie er sie ansah, machte sie ganz nervös, und das gefiel ihr nicht. Er hatte kein Recht dazu. Sie war eine verheiratete Frau mit drei kleinen Kindern. Zigeuneraugen! Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe zu betrachten und die Augen ein wenig weiter aufzureißen.
Plötzlich drosselte der Fahrer das Tempo des Busses. »Bleibt sitzen, Leute, da ist irgendein Tumult in Mohegan Lake. Bitte bleibt ruhig«, rief er.
»Oh, das ist diese dämliche Demonstration... diese Reaktionäre!«
Fasziniert und ängstlich zugleich blickte Dorothy aus dem Fenster. Sie säumten den Straßenrand – so viele Menschen! Männer, Frauen, sogar Kinder schwenkten kleine amerikanische Fähnchen, schrien und riefen und trugen Schilder, auf denen zu lesen war: WACH AUF, AMERIKA! PEEKSKILL HAT ES SCHON GETAN! Vor ihnen hatten State Troopers in ihren grauen Uniformen mit dicken ledernen Waffengürteln Position bezogen. Dorothys Blick fiel auf die vielen jungen Frauen und Mütter, die entlang der Hillside Avenue auf den Steinmauern standen. Sie trugen alle dieselbe Art Kleider aus bedruckter Baumwolle und ihr Haar seitlich gescheitelt und mit einem Band zusammengefasst, genauso wie sie. Doch ihre Gesichter waren zu hässlichen Fratzen verzogen – Wut und Hass spiegelte sich auf ihnen wider! Sie schrien sie an, als der Bus langsam an ihnen vorbeiholperte. »Geht doch nach Russland zurück!«, »Nach Moskau, immer geradeaus!« und »Dreckige Kommunisten!«
Cookie sollte so etwas nicht hören, dachte sie. Jemand müsste das Kind vom Fenster wegholen. Mit ihren sechs Jahren war sie noch zu klein, um so hässliche Dinge zu erleben. Aber als sie sich vorbeugte, um Jonah ihre Bedenken ins Ohr zu flüstern, schüttelte er nur den Kopf. »Lass es sie ruhig sehen, Dot. Sie muss es lernen. Man ist nie zu klein, um etwas zu lernen.«
Draußen passierte viel zu viel, um sich jetzt mit ihm zu streiten. Es war lauter und voller geworden. »Da vorn, am Fuß des Bergs. Seht ihr? Wo die anderen Busse stehen«, sagte jemand. Sie blickte in diese Richtung und sah die große, leere Rasenfläche, um die sich eine Art Zaun wand. Dort lag der verlassene Golfplatz, auf dem das Konzert stattfinden sollte.
Als der Bus die schmale Straße entlangrumpelte, erschienen immer mehr Leute am Straßenrand, brüllten, reckten die Fäuste und schwenkten ihre Schilder. In einer Bungalowsiedlung entdeckte Dorothy eine Familie – Vater, Mutter und ein hübsches kleines Mädchen in Cookies Alter, die ein wenig abseits standen und weder zur Gruppe der Demonstranten noch zu ihrer zu gehören schienen.
»Papa, Papa, warum sind die Leute so böse?«, hörte Dorothy ihr Kind fragen. Was wird Jonah wohl antworten?
»Sie sind böse, weil wir Paul Robeson singen hören wollen«, erklärte Jonah. »Weil sie auch hingehen wollen?«, fragte das Kind. »Nein, bubeleh, weil sie nicht wollen, dass wir hingehen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Shh, Cookie, genug gefragt, ja?«
»Warte!« Frank Green stand von seinem Sitz auf und legte sein attraktives Gesicht in Falten. »Du solltest sie nicht so abspeisen, Golodny. Auch ein Kind muss wissen, was sich in der Welt abspielt.« Er beugte sich zu Cookie. »Ich erklär’s dir. Weil Paul Robeson vor ein paar Monaten in Paris eine Rede gehalten hat. Er hat das ausgesprochen, von dem wir alle wissen, dass es die Wahrheit ist. Er hat gesagt, dass Schwarze im Krieg gekämpft haben und gestorben sind – für ein Land, das sie immer unterdrückt hat und es noch heute tut. Und dass diese intoleranten, selbstgerechten Weißen in Amerika viel gefährlicher für die amerikanischen Neger sind als die Sowjetunion. Verstehst du das?«
Dorothy reckte sich, um Cookies Gesicht zu sehen, die Frank wie gebannt anblickte. Wahrscheinlich verstand sie kein Wort, aber sie nickte trotzdem.
»Damit hat er die Regierung sehr wütend gemacht, weil sie nicht will, dass jemand sagt, was nicht gut ist in diesem Land. Die Leute sollen immer weiter glauben, Amerika sei ein freies Land, der Vorreiter der freien Welt –«
»Sie hassen ihn, weil er die Heuchelei in diesem Land aufgedeckt hat«, rief Bella aus dem hinteren Teil des Busses.
»Und sie beschimpfen ihn als Verräter!«, rief eine andere Stimme.
»Seht sie euch doch an, wie sie mit ihren Fähnchen winken, als hätten sie jedes Recht dazu!«, meldete sich eine dritte Stimme.
»Darf ich auch ein Fähnchen haben?«, fragte Cookie.
»Nein. Sei nicht so eine Nervensäge.«
Cookie brach in Tränen aus, und Jonah warf Dorothy diesen Blick zu, den sie stets erntete, wenn ihre Kinder sich wie Kinder benahmen. »Dorothy, nimm du sie. Los, shayfele, geh zu deiner Mutter.«
Dorothy hob ihre Tochter über die Rückenlehne, setzte sie auf ihren Schoß und wischte ihr mechanisch die Tränen ab. »Wenn wir wieder daheim sind, bekommst du ein Fähnchen. Gleich morgen, bei Woolworth.«
Sie drehte das Kind so, dass es mit dem Rücken zum Fenster saß, während sie selbst fassungslos hinaussah. So viele Menschen – und alle waren sie voller Hass. Sie verstand nicht, warum das so war. Manchmal fühlte sie sich so klein wie Cookie und stellte sich wieder und wieder dieselben Fragen. Warum? Warum?
Jo hatte seine Antworten – die Antworten der Partei und ihrer Anführer. Aber sie konnte sich nur immer wieder selbst fragen, wie es so weit kommen konnte, dass Menschen Leute in einem Bus anschrien, die doch genauso hart arbeitende Bürger waren wie sie selbst. Auch am Tag der Arbeit, am 1. Mai, als die Gewerkschaften ihre Märsche organisiert hatten, waren einige Leute vorbeigegangen und hatten sie mit Eiern und Tomaten beworfen. Warum? Das ergab doch keinen Sinn!
Der Bus drosselte sein Tempo erneut, um von der Straße auf das große, offene Feld einzubiegen. Dorothy drückte ihr Kind an die Brust, legte ihr die Hände über die Ohren und blickte in die wutverzerrten Fratzen vor dem Fenster. Hier standen fast nur Frauen, die sich die Hände wie Trichter vor den Mund legten, so dass jeder ihre wütenden Schreie hören konnte. Vor ihnen stand ein älterer Mann, offenbar ein State Trooper, der sich den Hut ins Genick geschoben hatte und mit seinem ausladenden Bierbauch grinsend dastand, während die Frauen ihre Hasstiraden brüllten. »Fahrt nur rein! Ihr kommt hier nicht mehr raus! Wir bringen euch um!«
Schließlich gelangten sie zu einem Feldweg, der sich durch die Rasenfläche schlängelte. Sie waren drin! Im Bus brach Freudengeheul aus, doch Dorothy war nicht nach Feiern zumute. Sollte man vielleicht feiern, dass es Menschen gab, die einen wegen nichts umbringen wollten?
Sie erschauderte und wünschte sich mit einem Mal, sie wäre nicht hier. Eigentlich hatte sie gar nicht mitkommen wollen. Paul war noch sehr klein, und sie ließ ihn nur ungern den ganzen Tag über allein, aber Jonah hatte darauf bestanden, dass sie ihn begleitete.
»Verstehst du denn nicht, Dorothy? Wir müssen diesen Tieren zahlenmäßig überlegen sein, müssen ihnen zeigen, wie stark wir sind. Der ganzen Welt müssen wir es zeigen«, hatte er erklärt.
Und sie hatte sich mitreißen lassen, wie so oft. Aber jetzt bereute sie es, insbesondere dass sie sich dazu hatte überreden lassen, Cookie mitzunehmen. Sie wäre lieber mit den Kindern zu Hause geblieben, zumal sie Irwin nicht mitnehmen konnten. Er war ein echtes Problem in einer Menschenmenge. Zweifellos würde er sich verirren, und sie hätten wohl kaum Zeit, einen kleinen Jungen zu suchen, sagte Jo. Aber Cookie war ein so braves Kind, und sie war ihre Älteste. Zumindest eines ihrer Kinder sollte an diesem historischen Ereignis teilnehmen.
Der Bus hatte inzwischen gehalten, und die Leute stiegen aus. Mit dem Kind an der Hand kletterte Dot die Stufen hinunter und sah in die Richtung, in die Jo deutete. Ein Schauer überlief sie. Der vermeintliche »Zaun«, den sie aus der Ferne gesehen hatte, bestand in Wahrheit aus Männern, die in Reih und Glied standen, so weit das Auge reichte. Die meisten von ihnen trugen militärische Kopfbedeckungen und waren mit Stöcken und Flaschen bewaffnet.
»Sieh dir das an«, raunte Jonah ergriffen. »Ich sollte bei ihnen sein. Sie haben sich überall verteilt.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. »Dieses Mal kommt keiner rein, glaub mir. Du hast dir so große Sorgen gemacht, und jetzt – das reinste Picknick. Sollen sie uns doch anschreien und beschimpfen, na und? Sie können uns nicht daran hindern herzukommen, und sie können ihn nicht daran hindern zu singen – genauso wenig wie sie die Welt daran hindern können, sich zu verändern!« Wieder spürte sie dieses Kribbeln auf ihrem Rücken.
So viele Menschen, und alle waren aus demselben Grund hier. Es war so unglaublich aufregend, Teil von etwas so Großem, etwas so Wichtigem zu sein. Teil der Geschichte zu sein! Wie viele Menschen bekamen diese Chance? Sie, Jonah und Cookie suchten sich einen Platz so nahe wie möglich an dem großen Lastwagen, der als Bühne diente – mit all den Kabeln und dem Klavier und zwei riesigen amerikanischen Flaggen. Davor hatten Veteranen mit grimmigen, entschlossenen Mienen Position bezogen. Dorothy entspannte sich ein wenig. Hier, unter all den Kriegskameraden, unter dem Schutz tapferer Männer, waren sie sicher und konnten dem bedeutendsten Sänger Amerikas lauschen. Sie hatte ihn bereits im Radio gehört und besaß all seine Schallplatten, aber sie hatte Paul Robeson noch nie aus der Nähe gesehen.
Endlich erschien er. Oh Gott, er war so viel größer, als sie gedacht hatte – hoch gewachsen, kräftig und zutiefst beeindruckend. Mehrere Männer umstanden ihn, die die Menge keine Sekunde aus den Augen ließen. Es gab Gerüchte über eingeschleuste Spitzel. Und sie konnte nur staunen, wie Paul Robeson so entspannt dastehen konnte, als schwebe er nicht in höchster Gefahr! Was für ein Mut!
Sämtliche Zuschauer erhoben sich aus dem kniehohen Gras und applaudierten begeistert. Dot stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, während Jonah Cookie auf die Schultern hob, damit auch sie nichts versäumte.
Plötzlich spürte Dorothy eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in Frank Greens Gesicht. Er war unbemerkt hinter sie getreten. »Das ist ein Augenblick, an den wir uns für den Rest unseres Lebens erinnern werden«, meinte er leise. Dorothy stand stocksteif, spürte seine Berührung, die Wärme seines Körpers und wünschte, er würde endlich verschwinden, während sie sich zugleich danach sehnte, dass er es nicht tat.
Paul Robeson, dessen Stimme von den zahlreichen Lautsprechern verstärkt wurde, ergriff das Wort. »Ich bin hier, weil ich Ihnen applaudieren will.« Die Menge geriet vollkommen aus dem Häuschen, und auch Dorothy ertappte sich dabei, wie sie vor Aufregung auf und ab hüpfte. Frank war mit einem Mal vergessen, ebenso wie Jonah und sogar ihr eigenes Kind. Was für ein Mann! Und dann begann er zu singen.
When Israel was in Egypt’s land... Let my people go.... Oppressed so hard, they could not stand... Let my people go...
Tränen schössen ihr in die Augen. Seine Stimme war tief, voluminös und gefühlvoll. Ihre Kraft schien sich wie durch ein Wunder auf sie zu übertragen und sie mit Energie zu erfüllen. Es war, als singe er nur für sie allein. Wie konnte sie Angst haben, wo sie doch auf derselben Seite wie dieser Hüne von einem Mann stand?
Sie konnte nicht sagen, wie lange er gesungen hatte, da sie wie hypnotisiert von allem um sie herum war. Von der Menschenmenge, vom Geruch des verdorrenden Grases, vom üppigen Spätsommeraroma, von seinem weichen, vollen Bariton, dem bewölkten, seidig weißen Himmel. Es war so unglaublich schön, größer und bedeutungsvoller als das Leben selbst, und sie wünschte sich inbrünstig, ebenfalls singen zu können. Was sie über ihn gesagt hatten, traf zu – er war eine wahre Inspiration für die Arbeiterklasse.
Als Letztes sang er »Ol’ Man River«, und Jonah beugte sich zu ihr: »Achte auf den Text! Er hat ihn verändert und erzählt die Geschichte der Unterdrückung.«
Cookie, den Kopf in Jonahs Schoß gelegt, war mittlerweile eingeschlafen, so dass Jonah sie nach dem Konzert auf den Arm nehmen und zum Bus zurücktragen musste. Hunderte Menschen strömten von der Wiese Richtung Parkplatz, viele von ihnen mit »Ol’ Man River« und »Go Down, Moses« auf den Lippen. Es war erhebend. Dorothy ermahnte sich unablässig, alles in sich aufzusaugen, jedes kleine Detail, so dass sie sich später daran erinnern könnte.
Als sie in den Bus stiegen, hörte Dot ein schwaches, hohes Dröhnen in der Ferne. Sie blieb stehen und hob die Hand. »Shh ... hör doch, Jonah, was ist das? Hörst du das auch?«
Er lachte auf. »Die Tiere heulen. Beachte sie einfach nicht. Sie haben verloren.«
Doch als der Bus anfuhr und langsam auf die Hillside Avenue einbog, ertönte ein schauerliches Geräusch. Es hörte sich fast an, als fielen Bomben, und der Bus erbebte. Cookie, die sich in Dorothys Schoß zusammengekuschelt hatte, schreckte aus dem Schlaf hoch und fing an zu weinen. Dot drückte sie beschwichtigend an sich. Wenn sie es wagten, ihrem kleinen Mädchen etwas zu tun...! Sie bewarfen den Bus mit Steinen, und bei jedem Treffer schepperte das Metall. Dann war ein Krachen zu hören, und in der nächsten Sekunde zerbarst die Windschutzscheibe. Der Busfahrer stieß einen Schrei aus. »Los, alle runter!«, rief er, drückte auf die Hupe und fuhr rückwärts auf den Parkplatz zurück.
Wenige Augenblicke später saßen sie reglos im Bus. Keiner wagte es, auszusteigen oder eines der Fenster zu öffnen. Sie versuchten, sich gegenseitig zu beruhigen – schließlich waren sie doch in den Vereinigten Saaten von Amerika, wo keinem von ihnen etwas Schlimmes passieren konnte. Cookie wimmerte leise und war starr vor Entsetzen. Der Fahrer verließ den Bus und stieg kurz darauf wieder ein. »Die Polizei hat sich links und rechts von der Straße aufgestellt und hält die Menge in Schach. Wir müssen über Oregon Corners fahren und auf einem Umweg in die Stadt zurück.«
Also versuchten sie ein zweites Mal, den Platz zu verlassen. Dorothy stellte überrascht fest, dass es erst halb fünf Uhr nachmittags war. Es fühlte sich an, als wären sie schon seit einer Ewigkeit hier. Gleichzeitig erschien ihr dieses Szenario so irreal, als sei es ein schlimmer Traum. Es hätte sie nicht weiter überrascht, wenn jemand sie an der Schulter gerüttelt hätte und sie zu Hause in ihrem Bett aufgewacht wäre. Das hier konnte doch nicht wirklich passieren! Starr vor Entsetzen beobachtete sie durchs Fenster, wie eine alte Frau mit wutverzerrtem Gesicht ihr in die Augen sah, ehe sie eine Cola-Flasche nach ihr warf. Bevor Dot sich duckte, entdeckte sie wieder den State Trooper mit dem ausladenden Bierbauch, der prompt in Gelächter ausbrach. Solche Dinge passierten doch nur anderen Menschen, in anderen Ländern. Aber doch nicht ihr, und nicht hier.
In Oregon Corners wurden sie von Polizisten und einer Menschenmenge empfangen – vorwiegend jungen Männern, die mit großen Steinen bewaffnet waren. Als der Bus über die schmale Brücke holperte und in die Peekskill Hollow Road einbog, begann die Menge, nach Blut zu schreien. Erneut prasselten Steine gegen den Bus und ließen ihn erbeben. Am Straßenrand lag ein zertrümmertes Auto auf der Seite. Wo waren die Insassen? Dorothys Herz begann zu rasen. Was war mit ihnen passiert?
Dieses Mal lag sie bereits am Boden, als der Fahrer sich umdrehte und ihnen zurief, sie sollten sich vorsehen. Schützend legte sie sich über ihre Tochter. »Mach dir keine Sorgen, Mama ist ja da. Keine Angst«, hörte sie sich die ganze Zeit beruhigend flüstern.
Von irgendwoher drang Frank Greens Stimme an ihr Ohr. »Runter, Mann, Herrgott noch mal!«
»Diese Tiere werden mich nicht in die Knie zwingen, verdammt!«, schrie Jonah. »Lieber sterbe ich, bevor ich zulasse, dass sie –« Plötzlich stieß er einen Schrei aus, und Dot hob erschrocken den Kopf.
»Oh Gott«, schrie sie. Jonah hatte die Hand auf die Schläfe gepresst und sackte vor ihr zusammen. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. »Er blutet! Helft ihm doch! Jonah blutet!«
Sekunden später war Frank neben ihm, schlang sein Taschentuch um Jonahs Kopf und zwang ihn, sich auf den Boden zu legen. In dem Durcheinander schaffte er es sogar noch, Dorothy zu beruhigen, es sei nur eine kleine Fleischwunde und würde bald aufhören zu bluten.
Dorothy saß mit Cookie im Arm auf dem schmutzigen Boden des Busses. »Papa geht es bald wieder gut, Liebling. Sieh nur, er lächelt schon wieder, hab keine Angst.« Sie legte ihre freie Hand auf Jonahs Schulter.
Der Bus beschleunigte sein Tempo. »Alles in Ordnung, Leute, wir sind in Sicherheit«, rief der Fahrer.
Das Schlimmste war also überstanden! Dorothy betrachtete Cookies schmutziges und tränenfeuchtes Gesicht. Ihre riesigen, ernsten Augen waren vom Weinen gerötet, die roten Locken waren zerzaust und staubig und ihr hübsches neues Lieblingskleid kaputt. Der zerrissene Ärmel und der winzige nackte Arm, der unter dem Stoff hervorblitzte... das war zu viel für Dot!
Vor nicht einmal zwei Stunden, als sie Paul Robeson singen hörte, war sie von der Richtigkeit und der Größe ihres Anliegens überzeugt, von ihrem Ziel, mithilfe der Linken allen Menschen Freiheit und Gleichheit zu schenken. Sie alle standen für eine gerechte Zukunft. Paul Robeson mit seiner Würde und Größe war ihr als die Personifizierung der Erhabenheit erschienen, die die Menschheit besaß.
Erhabenheit! Inspiration! Diese zornigen hirnlosen Hinterwäldler sollten erhaben sein? Nein! Sie waren grauenhaft! Doch Tiere, wie Jonah sie bezeichnete, waren sie nicht. Nein, auch sie waren Menschen; Menschen, vor denen man gewiss nicht davonlaufen würde, wenn man ihnen auf der Straße begegnete. Sie sahen so gewöhnlich aus – und genau das waren sie auch. Aber, großer Gott, sie waren in der Überzahl, dachte Dorothy und drückte ihre Tochter an die Brust. Und wir stehen auf verlorenem Posten.