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KAPITEL 6

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Mittwoch, 14. Juli 1948

Diese Hitze! An diesem Tag würde bestimmt der Rekord gebrochen. Es fühlte sich an, als herrschten mindestens vierzig Grad im Schatten auf der Allerton Avenue, insbesondere unter den dünnen Sohlen ihrer billigen Sandalen. Keine Menschenseele weit und breit. Schließlich war ja auch niemand so verrückt, mitten am Tag in diese Gluthitze hinauszugehen. Dorothy lehnte sich gegen den Griff von Pauls Kinderwagen und wünschte, sie wäre klüger gewesen.

Tja, klug, dumm, wie auch immer; jedenfalls war sie jetzt hier mit ihren drei Kindern, von denen zwei neben ihr hergingen – wenn man das als Gehen bezeichnen konnte. Cookie schlurfte vor sich hin, und Irwin kam wie immer vom Weg ab. Wegen ihm mussten sie alle paar Meter stehen bleiben, so dass sich das, was ein zehnminütiger Marsch hätte sein sollen, um Milch und Butter zu besorgen, zu einer endlosen Wanderung ausweitete. Inzwischen war es beinahe Mittag, das Essen war nicht fertig, schlimmer noch, ihre Milch begann zu fließen.

Natürlich war es idiotisch, Paul immer noch zu stillen. Nachdem Irwin sie an den Rand der Erschöpfung gebracht hatte, schwor sie sich, das nächste Kind nach sieben Monaten abzustillen. Aber als es so weit war, brachte sie es einfach nicht über sich. Dieses Baby war so süß! Wenn sie im Schaukelstuhl saß, ihn im Arm hielt, auf ihn hinuntersah und er sie mit seinen großen, runden Augen unter dichten Wimpern anblickte, konnte sie nur staunen, dass sie dieses wunderschöne Geschöpf zur Welt gebracht hatte. Und er war so gut gelaunt, so fröhlich und intelligent. Selbst wenn er trank, studierte er eingehend ihr Gesicht und knetete ihre Brust mit seinen winzigen Händchen. Wann immer sie ihn stillte, war sie von tiefer Freude erfüllt. Sie brachte es einfach nicht über sich, ihn zu entwöhnen.

Doch in diesem Augenblick bereute sie ihren sentimentalen Entschluss zutiefst. Ihre ohnehin entzündeten Brustwarzen scheuerten an dem Stoff des feuchten BHs, und auf ihrem Hauskleid zeigten sich zwei feuchte Flecke. Zum Glück konnte man es auf dem Blumenmuster kaum sehen.

Sie wandte sich um. »Irwin! Wenn du nicht bei uns bleibst, müssen wir dich hier lassen, mitten auf dem Bürgersteig.« Doch wie üblich schenkte er ihr keine Beachtung, so dass sie stehen bleiben, das Baby in Cookies Obhut lassen und ihn holen musste. Sie packte ihn etwas unsanft an der Hand, worauf er in Tränen ausbrach.

»Oh, sei doch still! Du bist doch schon ein so großer Junge!«

Als sie zum Wagen zurückkehrte, standen zwei Männer davor und blickten auf Cookie und Paul hinab. Oh Gott! FBI! Jonah und ihre Nachbarn, die Daubers, hatten sie darauf vorbereitet, dass so etwas passieren könnte. »Sorg dafür, dass du nicht ängstlich aussiehst, lass dir deine Nervosität nicht anmerken, sie können dir nichts tun. Sie kennen jeden Linken hier, deshalb versuchen sie, uns das Leben schwer zu machen. Sie sind lästig, aber sie können nichts tun, außer Fragen zu stellen, die du nicht beantworten musst.«

»Aber flirten kannst du schon ein wenig mit ihnen«, schaltete sich Anna Dauber ein.

Die Männer fanden diesen Vorschlag überhaupt nicht lustig. Dorothy mochte Anna, weil die sie so an Yetta erinnerte: Anna war ein Freigeist, wie man so schön sagte. Und sie war es, die Dot vor ein paar Wochen auf diese Männer aufmerksam gemacht hatte. Zumindest vermutete Dot, dass das jetzt dieselben waren, denn mit ihren Kammgarnanzügen, den Panamahüten, den weißen Hemden und den gestreiften Krawatten sahen sie alle gleich aus. Keiner in der Siedlung war so gekleidet.

Aber trotz aller Vorwarnungen begann ihr Herz augenblicklich zu hämmern, und instinktiv verstärkte sie den Griff um Irwins Hand. »Mama, aua, du tust mir weh!«, protestierte er.

»Psst, Irwin, sei ein braver Junge«, sagte sie, lockerte ihren Griff und richtete sich auf.

Die Männer tippten grüßend an ihre Hüte. »FBI... Mrs. Golodny?«

»Nein.« Bestimmt merkten sie, dass sie log, doch ihre Gesichter verrieten nichts.

»Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen, Ma’am?«

Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch ein wenig. Wenn Jonah sich nun geirrt hatte? Wenn sie sie nun festnehmen und abführen würden? Was war mit ihren Kindern? Was wenn –? »Nein«, erwiderte sie tapfer, »das dürfen Sie nicht. Ich habe drei kleine Kinder, wie Sie sehen, und muss mich beeilen, dass sie nach Hause kommen.« Sie wartete gespannt auf die Reaktion.

»Stört es Sie, wenn wir Sie begleiten?«

Oh Gott, was sollte sie darauf antworten? Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Und ich lasse mich nicht von wildfremden Männern begleiten. Guten Tag«, brachte sie irgendwie heraus.

Sie wandte sich zum Gehen, und erstaunlicherweise schienen Irwin und Cookie den Ernst der Lage zu spüren. Brav und ohne zu quengeln gingen sie neben ihr her. Voller Stolz blickte sie auf sie hinab. Was für kluge Kinder!

Sie ging weiter, ohne sich auch nur einmal umzusehen, obwohl sie sich inbrünstig wünschte, Augen im Hinterkopf zu haben. Wie gern wüsste sie, ob sie ihr folgten oder stehen geblieben waren und ihr nachsahen. Sie hörte keine Schritte. Doch Irwin, dieses neugierige kleine Äffchen, konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick über die Schulter zu werfen, worauf Cookie sich ebenfalls umdrehte. »Stehen die Männer immer noch am Zaun?«, fragte Dot.

»Sie gehen gerade weg, Mama.«

»Gut.«

»Wer sind die Männer, Mama? Wieso hast du Nein gesagt?«

»Wir sprechen nicht mit Fremden auf der Straße. Hast du mich verstanden? Weißt du noch, was Papa gesagt hat? Ihr sagt niemandem euren Namen. Niemandem. Und das gilt auch für dich, Irwin. Verstanden?«

»Ja, Mama.«

Endlich war sie wieder in der Siedlung... der United Workers Cooperative Colony, die aber von allen nur Siedlung oder Coops genannt wurde. Es war ein reiner Glücksfall gewesen, dass sie hier eine Wohnung gefunden hatten, da nie jemand von hier wegzuziehen schien. Aber irgendwann konnten sie doch ein Apartment im zweiten Wohngebäude beziehen, dessen u-förmiger Hof auf den Bronx Park hinausging. Wann immer sie an den sorgsam gestutzten Hecken vorbei und unter den Bäumen des Hofs entlang ging, dankte sie Gott für diesen Ort. Jonah meinte dazu: »Danke nicht dem lieben Gott dafür, sondern den Immigranten, die auf die Idee kamen, ein kooperatives Apartmenthaus zu bauen, und ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt haben.«

Sie sah Anna auf dem Hof, die an einen Baum gelehnt eine Zigarette rauchte. Anna war klein und zierlich, mit kleinen Brüsten, einem intelligenten Gesicht und einem dichten Schopf dunkler Haare. Sie lachte oft, manchmal sogar über sich selbst. Obwohl man sie nicht als hübsch im klassischen Sinn bezeichnen konnte, war Dot durchaus klar, warum Männer sie so anziehend fanden.

»Anna! Gott sei Dank bist du da!«

»Welches von den Süßen soll ich tragen? Ich – Dot... Was ist denn los? Alles in Ordnung mit dir?« Eilig trat sie ihre Zigarette aus und kam auf sie zu.

»Diese beiden Männer vom FBI haben mich gerade angesprochen. Mitten auf der Allerton Avenue. Das ist mir noch nie passiert. Mein Herz klopft immer noch wie verrückt.«

»Ist das alles? So wie du aussiehst, dachte ich schon... keine Ahnung, was ich dachte. Tja, dann bist du jetzt wohl keine Jungfrau mehr.« Anna lachte.

»Wie kannst du auch noch Witze darüber reißen?«

»Dot, wie kann ich keine Witze darüber reißen? Das FBI ist doch der reinste Witz! Sie lungern tagtäglich hier herum, gehen allen auf die Nerven und hoffen, dass sie irgendwann einen Roten in die Finger kriegen.«

»Aber mich machen sie nervös. Jo hatte schon mal unter diesen Typen zu leiden. Du weißt schon, die Präsidentenanweisung 9835 zur Überprüfung der Gesinnungstreue von Regierungsmitarbeitern. Wegen dieser Verordnung hat Jo seinen Job verloren.«

»Tja, damals hat er ja auch für die Regierung gearbeitet, was er heute nicht mehr tut. Also ist die Situation doch grundlegend anders. Ach ja, wo wir gerade davon reden – gibt es irgendetwas Neues in Sachen Job?«

»In einer Privatschule soll bald eine Stelle frei werden, wo sie nicht auf dem Loyalitätseid bestehen. In der Zwischenzeit macht er mal dies, mal jenes.« Sie seufzte. »Er meint, ich solle ihm nicht ständig deswegen auf die Nerven gehen, er fände schon etwas. Du weißt ja, wie er ist.«

Dot nahm das Baby aus dem Wagen, das Anna ihr ohne zu fragen abnahm und die Treppe hinauftrug. Die Kinder waren bereits im Treppenhaus und jodelten und schrien, um ein Echo zu erzeugen. Sie wussten ganz genau, dass sie das nicht durften, aber im Augenblick brachte sie einfach nicht die Energie auf, sie zur Ordnung zu rufen. Wenn die Nachbarn sich durch den Lärm gestört fühlten, sollten sie sie doch davon abhalten.

»Willst du reinkommen und eine Kleinigkeit mit uns essen?«, fragte Dot, als sie schwer atmend vor ihrer Wohnungstür standen. »Es gibt nur ein paar Sandwiches und eingelegtes Gemüse.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Wieder einmal fiel Dot auf, dass Anna verdächtig häufig zufällig um die Mittagszeit herum auftauchte. Andererseits war ein Sandwich ein durchaus bezahlbarer Preis für ein wenig Gesellschaft, abgesehen davon, dass Anna die Kleinen bei Laune hielt, solange sie selbst das Baby stillte.

Sie betraten die Wohnung. Anna schob die Kinder in die Küche, setzte sie an den Tisch und stimmte ein Kinderlied an, so dass sie garantiert die nächsten Minuten beschäftigt waren. Währenddessen trat sie an den Kühlschrank, nahm die Lebensmittel heraus, bereitete vier Sandwiches zu und schaffte es sogar noch, sich dabei eine weitere Zigarette anzuzünden.

In der Zwischenzeit setzte Dot sich hin und entblößte ihre Brust. Sobald der Kleine ihre Brustwarze fand, begann er begeistert zu saugen. Was für ein Segen! Paul war ein braver Esser.

Anschließend ging Dot ins Schlafzimmer und zog sich ein frisches Kleid an. Feh!

»Du hast mir nie die ganze Geschichte erzählt«, meinte Anna mit der Zigarette im Mundwinkel.

»Was für eine Geschichte?«

»Die, als Jo gefeuert wurde.«

»Eigentlich sollte ich es dir ja nicht erzählen, Anna. In der Zeit, als Jonah abends das College besucht hat, um eines Tages unterrichten zu können, hat er beim Landwirtschaftsministerium gearbeitet. Ich weiß, dass das ein wenig seltsam klingt, weil er ungefähr der letzte Mann ist, den man sich als Bauern vorstellen kann. Aber er ist Russe, und die Russen sind nun mal von allem begeistert, was irgendwie mit Land zu tun hat. Jedenfalls hat er Handbücher verfasst, wie und was man anbauen soll, obwohl er es selber nie ausprobiert hat.« Die Frauen lachten.

»Er hat nicht gerade ein Vermögen damit verdient, aber wir kamen zurecht. Die Arbeit hat ihm Spaß gemacht, und es war eine sichere Sache. Mit einer Stelle bei der Regierung konnte einem ja nichts passieren. Zumindest bis diese Verordnung 9835 herauskam, denn dann musste man auf einmal nachweisen, dass man der Regierung absolut loyal gegenübersteht, um für sie arbeiten zu können ...«

»Aber Jo ist doch ein loyaler Amerikaner!«

»Erzähl das nicht mir, sondern der Regierung der Vereinigten Staaten.« Dot seufzte. »In ihren Augen war er ein Sicherheitsrisiko. In gewisser Weise hat er den Ärger sogar heraufbeschworen. Du weißt ja, dass er in Spanien gekämpft hat, deshalb war er mit vielen Kommunisten und deren Sympathisanten befreundet. Und pausenlos hat er eine Petition hierfür und dafür unterschrieben ... Du weißt ja, wie das ist. Nichts Besonderes – zumindest haben wir das gedacht. Aber sein loses Mundwerk hat ihn erst recht in Schwierigkeiten gebracht. Jo glaubt, dass ein Mann für seine Meinung eintreten und sie aller Welt kundtun muss, welche Konsequenzen es auch immer haben mag. Er brauchte ja nicht unbedingt herumzuposaunen, das Komitee für unamerikanische Umtriebe sei schwachsinnig und überflüssig und könnte nur irgendwelchen Kleingeistern eingefallen sein. Tja... Was dann passiert ist, kannst du dir bestimmt vorstellen. Eine umfassende Untersuchung. Mit allem Drum und Dran.«

»Oy

»Genau. Du weißt ja, wie das ist. Sie haben bei der Arbeit nicht mehr mit ihm geredet, die Nachbarn haben mich geschnitten ... sogar die Kinder, unschuldige kleine Kinder! Und dann die Entlassung mit einem Formschreiben. Ein Formschreiben

»Was hast du erwartet – eine freundliche Einladung, sich einen neuen Job zu suchen?«

Dorothy legte sich Paul über die Schulter, damit er sein Bäuerchen machen konnte. Ohne ein Wort zu sagen, griff Anna nach einem Glas Babynahrung und schob es Dot zu, die ihm mechanisch den Gemüsebrei in den Mund zu schieben begann, während sie weitersprach.

»Weißt du, woraus sein großes Verbrechen bestand? Ich zitiere: ›Sie haben Aussagen des Inhalts getroffen, das Komitee für unamerikanische Umtriebe stelle eine größere Bedrohung für die Bürgerrechte dar als die kommunistische Partei. Die vorliegenden Informationen lassen darauf schließen, dass Sie Mitglied dieser Partei sind, über enge Kontakte zu ihr verfügen oder mit ihr sympathisieren. Sie sind entlassene.‹ ›Woher weiß das FBI, dass er das gesagt hat?‹, war mein erster Gedanke. Er meinte, ich sei naiv, natürlich hätte ein Spitzel ihn denunziert. Ja, er war Sympathisant, natürlich war er das. Aber kein Parteimitglied. Zumindest bis dahin nicht...« Sie hielt inne und blickte zu ihren beiden Kindern hinüber, als hätte sie ihre Anwesenheit völlig vergessen. »Okay, ihr beiden. Wenn ihr fertig seid, geht spielen. Und nicht streiten! Ja, du darfst dir einen Keks nehmen, aber nur einen!«

Sie wandte sich wieder Anna zu. »Jedenfalls ist Jonah von der Firma auf dem direkten Weg in die Parteizentrale gegangen und ist beigetreten – so etwas Verrücktes!«

»Wieso verrückt?«, fragte Anna. »Mazel tow für ihn. Außerdem machte das doch sowieso keinen Unterschied mehr.«

»Du hast gut reden, Anna. Wenn sie ihn gefeuert haben, nur weil er mit den Kommunisten sympathisiert hatte, was würden sie dann jetzt tun, nachdem er der Partei tatsächlich beigetreten war? Auf diese Frage bekam ich die übliche Antwort: ›Ein Mann muss tun, was er tun muss.‹ Und wie sieht es mit der Frau und den Kindern aus, frage ich dich?«

»Wir müssen selbst zusehen, wo wir bleiben, wie üblich. Hey, Dot, es ist doch immer dasselbe. Jede Familie in der Siedlung hat Ähnliches durchgemacht.« Sie hob resigniert die Hände.

Paul begann sich zu winden und wollte auf den Boden gesetzt werden. Dot betastete prüfend seine Windel – feucht, aber noch nicht so schlimm. Ihr blieben noch ein paar Minuten. Also stellte sie ihn ab und sah zu, wie er sich auf unsicheren Beinchen auf den Weg zu seinen Geschwistern machte. Paul mochten alle gern. Er war ein Kind, das mit einem Lächeln zur Welt gekommen war.

»Warte, Anna. Das ist noch nicht alles. Jonah ist so starrsinnig, dass er lieber in Washington bleiben und verhungern wollte, während er gegen das Komitee für unamerikanische Umtriebe kämpfte. Aber dann –« Sie biss in ihr Sandwich. »Nach knapp einer Woche klopfte es an der Tür, als ich dabei war, die Wäsche zusammenzulegen, und Radio hörte. Vor mir stand die Frau aus dem dritten Stock, die ich vom Sehen kannte. Mamie Cooper heißt sie. Sie war außer sich. Ihr Gesicht war dunkelrot vor Wut, und sie wedelte mit einem Brief vor meiner Nase herum und schrie und zeterte. ›Mein armer Albert, der keinem jemals etwas getan hat und immer zu allen nett war, soll jetzt bestraft werden? Sie können Ihrem Ehemann ausrichten, dass er mein Leben zerstört hat. Sagen Sie ihm, er soll sich schämen. Wie kann ein Immigrant nur so illoyal dem Land gegenüber sein, das ihn aufgenommen hat? Er sollte verhaftet werden, genau das sollte er! Ihn sollte man bestrafen, nicht meinen Albert, einen harmlosen Postboten ...‹ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie überhaupt redete. Irgendwann habe ich es geschafft, ihr den Brief aus der Hand zu nehmen und zu lesen. Kein Wunder, dass sie so hysterisch war: Es war einer dieser ›wunderbaren‹ Briefe, die auch Jo bekommen hatte. In diesem hieß es: ›Seit 1942 stehen Sie in engem Kontakt zu Jonah Golodny, einem Individuum, das laut unserer Unterlagen reges Interesse an den Parolen und Prinzipien der kommunistischen Partei zeigt.‹ Damals waren sie in das Haus gezogen, in dem wir gewohnt haben. Die einzige Verbindung zwischen ihrem Mann und Jo bestand darin, dass sie sich von Zeit zu Zeit zufällig in der Kneipe an der Ecke begegnet sind – rein zufällig, wenn sie nach der Arbeit unabhängig voneinander noch auf ein Bier gingen. Also haben sie am Tresen gesessen und sich eine Stunde unterhalten. Macht einen das denn automatisch zu engen Freunden, frage ich dich?«

Anna zündete sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Dorothy, die fangen an, den gesamten linken Flügel in diesem Land auszumerzen. Und das ist noch nicht das Ende, es kommt bestimmt noch schlimmer.«

»Tja, das war’s dann für Jonah. ›Jetzt reicht’s‹, hat er gesagt, als er nach Hause kam und erfuhr, was passiert war. ›Wir ziehen weg von hier. Hier sind einfach zu viele Regierungsbehörden.‹ Dann erzählte er mir von der Coop-Siedlung, wie nett es dort sei, was für ein hübscher Ort zum Leben –« Mit einer ausladenden Bewegung deutete sie auf die kleine, sonnendurchflutete Wohnung. »Also sind wir weggezogen. Ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Niemand weiß, wo wir sind.« Sie lachte leise. »Außer natürlich das FBI, wie es scheint. Wie haben sie uns nur gefunden?«

Anna warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Das FBI! Die kriegen alles raus! Ich sage dir: Als ich als Gewerkschaftsorganisatorin gearbeitet habe, kam ich im ganzen Land herum. Und wann immer ich in irgendeine neue Stadt kam, dauerte es keine vierundzwanzig Stunden, bis sie wieder da waren – zwei Schnüffler in Anzügen. Sie haben versucht, unbemerkt an mich heranzukommen, aber sie haben nie etwas getan oder gesagt, sondern sind mir nur auf Schritt und Tritt gefolgt.« Sie winkte ab. »Es ist völlig sinnlos zu versuchen, ihnen zu entgehen! Aber nachdem du ja jetzt eine Weile hier wohnst, musst du mir sagen, ob wir dem gerecht werden, was Jonah erwartet hat.«

»Natürlich ist es sehr nett hier«, erwiderte Dot. »Ich engagiere mich zwar nicht politisch, aber grundsätzlich stimme ich den Prinzipien zu, an die die Leute hier glauben. Und ich finde es gut, dass alle sich hier gegenseitig helfen –« Annas Lachen ließ sie innehalten. »Was ist denn?«

»Nichts, gar nichts, ich freue mich nur, dass du es so siehst, Dot. Aber in Wahrheit gab es schon immer Splittergruppierungen innerhalb der Partei, und alle, die hierher gezogen sind, halten an ihren althergebrachten Idealen fest. Deshalb gibt es durchaus interne Streitigkeiten. In den Zwanzigern, als das erste Haus gebaut wurde, haben sie nicht zugelassen, dass Geschäftsleute hier einziehen. Was meinst du, wieso all die Geschäfte gescheitert sind, die die Leute damals aufbauen wollten?«

Sie drückte ihre Zigarette im Deckel der Milchflasche aus. »Hier herrscht nicht nur eitel Sonnenschein, Dot, glaub mir.«

Nun lachte Dorothy. »Lass das ja nicht Jo hören. Wenn es nach ihm geht, sind wir hier im gelobten Land, in dem die Linken regieren und die Rechten Unrecht haben.« Sie stand auf und setzte den Teekessel auf. »Er ist nie zu Hause, sondern ständig bei irgendeiner Versammlung oder in der Parteizentrale – es sei denn, er ist auf Arbeitssuche. Mein Bruder Jack hätte vielleicht einen Job in seiner Baufirma für ihn, aber man muss wissen, dass Jack die Meinung vertritt, Henry Wallace hätte mit seiner Fortschrittspartei etwa dieselbe Chance auf die Präsidentschaft wie ein Halloween-Kürbis. Also kannst du dir bestimmt vorstellen, wie Jo zu dem Vorschlag steht, bei ihm zu arbeiten. ›Aber welche Wahl hast du denn schon‹, habe ich zu ihm gesagt. ›Du hast doch keinerlei Referenzen. Und du verdienst bestimmt nirgendwo so viel Geld wie bei Jack. Und das weißt du ganz genau.‹ Neuerdings sehe ich ihn praktisch überhaupt nicht mehr, und ich muss mich ganz allein um die drei Kinder kümmern.«

»So ist nun mal das Leben, Dorothy, das ist das Schicksal von uns Frauen. Wo wir gerade von Kindern sprechen – meine müssen jeden Augenblick aus dem Ganztagskindergarten zurückkommen, deshalb sollte ich lieber schon mal die Pflaster aus dem Schrank holen. Ah, wenn man vom Teufel spricht... Hallo, Jo, ich wollte gerade gehen.«

Jo begrüßte sie, setzte sich an den Tisch und schien zu erwarten, dass wie durch Zauberhand ein Glas Eistee vor ihm auftauchte. Dot unterdrückte den Anflug von Verärgerung. Der arme Jo! Sie sah, dass ihm das feuchte Hemd am Rücken klebte, als er die Jacke auszog. Er hatte es nicht leicht, das durfte sie nicht vergessen.

»Und? Was ist passiert? Gibt es Arbeit, oder war es nur ein Gerücht?«

Er holte tief Luft und schürzte die Lippen. »Ich sag dir lieber gleich die Wahrheit, Dot. Ich habe in der Zentrale vorbeigesehen, wo sie gerade jemanden brauchten, der etwas nach Downtown bringt. Also... also habe ich es getan!«

»Jo! Ich fasse es nicht! Das konntest du doch nicht machen! Nicht wenn du dir einen Job suchen solltest!«

»Es musste aber erledigt werden, und ich war nun mal da«, erwiderte er starrköpfig.

»Du kannst es dir aber nicht leisten, Botengänge für die Partei zu erledigen. Sie bezahlen dich nicht dafür!« Dot wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, bereit, die Angelegenheit mit ihm auszufechten. Doch als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schob er den Stuhl zurück und stand auf. »Ich bin spät dran.«

»Spät dran? Du bist doch gerade erst gekommen. Spät dran wofür

»Ich muss noch mal in die Wallace-Zentrale. Große Flugblattaktion.«

»Was? Du arbeitest wieder umsonst? Du bist nie zu Hause, die Kinder haben dich seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie sind nebenan. Kannst du nicht eine Weile mit ihnen spielen oder ihnen etwas vorlesen? Oder wir könnten uns endlich mal hinsetzen und unsere Probleme besprechen. Es werden jede Menge Leute in der Zentrale sein, so dass sie bestimmt einmal auch ohne dich auskommen.«

»Dorothy, hör doch auf, an mir herumzunörgeln.«

»Warum nennst du das herumnörgeln? Es ist doch nichts Ungewöhnliches, worum ich dich bitte, oder? Du hast keine Arbeit, und ich könnte deine Hilfe hier gut gebrauchen.«

»Seit wir hergezogen sind, liegst du mir ständig in den Ohren, dass ich keinen Job habe. Warum kannst du mir nicht ein winziges bisschen vertrauen? Ich weiß genau, was du vorhast. Du willst mich unbedingt dazu bringen, dass ich für deinen tyrannischen Bruder arbeite.«

»Auch wenn du meinen Bruder beschimpfst, ändert das nichts daran, dass er einen Job für dich hat, und zwar einen, für den er dir einen beträchtlichen Lohn bezahlen würde, wenn ich das hinzufügen darf. Aber du bist ja zu dickköpfig, um ihn anzunehmen. Zu dickköpfig oder zu stolz oder vielleicht auch zu neidisch!«

»Neidisch? Ich? Worauf denn? Auf seinen protzigen Wagen, sein Geld, sein tolles Apartment am Central Park West? Das Peter Cooper Village war wohl nicht gut genug für ihn! Oh nein, Dorothy, hör mir zu! Ich bin nicht neidisch auf deinen geldgierigen Bruder Jack!«

»Dann nimm den Job an und beweis es mir!«

»Schieb dir den Job doch sonst wohin!«

»Jonah!«

»Na gut«, meinte er mit einer entschuldigenden Geste. »Aber es ist trotzdem deine Schuld. Du hast nicht erlaubt, dass ich den Job annehme, den mir die Partei angeboten hat, damals, als ich die Sägewerksarbeiter hätte gewerkschaftlich organisieren sollen ...«

»In Georgia, wo sie die Leute umbringen, wenn sie das Wort Gewerkschaft nur denken? Mach dich doch nicht lächerlich! Du bist Vater von drei Kindern. Du kannst nicht einfach davonlaufen und dir hunderte Meilen von hier einen neuen Job suchen, nicht mal für deine geliebte Arbeiterklasse!«

»Ich bin ja auch nicht hingegangen, oder? Schließlich bin ich ja hier. Aber ich muss trotzdem etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen, und deshalb gehe ich jetzt.«

Dot saß am Tisch und hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Wo war denn die wunderbare neue Welt, zu deren Entstehung sie gemeinsam hatten beitragen wollen? Wo war die moderne Ehe, die sie hatten führen wollen, als gleichberechtigte Partner, die alles miteinander teilten? Und wo war der Mann, in den sie sich verliebt hatte?

Sie saß am Tisch, mutterseelenallein, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, und weinte. Es gab nichts in ihrem Leben, worauf sie sich freuen konnte, sie war eine alte Frau, noch bevor sie überhaupt richtig erblüht war, und ließ sich von ihrem Ehemann herumkommandieren, die Schuld für seine Probleme in die Schuhe schieben und beschimpfen.

Sie hörte ein Geräusch, hob den Kopf und blickte in drei Augenpaare, die sie besorgt und verängstigt ansahen. Oh Gott, was hatte sie nur aus ihrem Leben gemacht?

Im Haus des Vaters

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