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KAPITEL 4

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Samstag, 16. August 1941

Der schlaksige junge Mann mit dem Clark-Gable-Bärtchen wirbelte sie im Kreis herum. Ihr war ein wenig schwindlig, sie bekam kaum noch Luft, und ihr war heiß! Sie tanzten gerade irgendeinen russischen Volkstanz mit einem Namen, den niemand aussprechen konnte, und der aus höchst komplizierten Schrittfolgen bestand, die ihre gesamte Aufmerksamkeit erforderten. Aber es machte riesigen Spaß. Dorothy tanzte für ihr Leben gern. Sie konnte keine Musik hören, ohne dass ihre Füße automatisch den Takt mitzuklopfen begannen. Der junge Mann wirbelte sie herum. »Du lernst schnell, wie mir scheint«, neckte er sie. Natürlich stolperte sie genau in diesem Moment. »Zu schnell«, erwiderte sie, worauf er ihr schelmisch zuzwinkerte.

Inzwischen war sie froh, dass sie sich von Yetta hatte überreden lassen herzukommen. Es war ein schöner Tag – allerdings schrecklich heiß und staubig, eben das typische Washingtoner Wetter. »Zum hundertsten Mal, Yetta, deine Freunde vom Russian War Relief interessieren mich nicht«, hatte sie gesagt, als Yetta sie gedrängt hatte mitzukommen. »Sie reden ständig nur über Politik, und du weißt ja, wie sehr mich das langweilt.«

»Aber nicht heute«, wandte Yetta ein. »Heute geht es nur ums Vergnügen. Und es kommen ein paar süße Jungs ...«

Dorothy schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen.« Es war viel zu heiß für alles, was mehr Energie erforderte, als den Schalter für den elektrischen Ventilator zu betätigen. Und trotz der Beteuerungen ihrer Schwester kannte Dot diese Leute – sie waren laut und diskutierten ständig. Es konnte ja sein, dass das Picknick amüsant werden würde, aber früher oder später würden sie sich wegen irgendwelcher politischer Meinungsverschiedenheiten in die Haare kriegen. »Ich suche mir meine süßen Jungs lieber selber, wenn es dir nichts ausmacht«, meinte sie.

Yetta gähnte herzhaft und stand von dem Kartentisch auf, der ihnen als Esstisch diente. »Na gut, wie du willst«, meinte sie, was Dots Argwohn weckte. Yetta gab sonst nie kampflos auf. »Ich dachte nur, du willst vielleicht meine neueste Eroberung kennen lernen. Dan Rozinsky. Warte, sag’s nicht! Ich weiß, dass ich die Männer wechsle wie die Unterwäsche, aber ich glaube, dieses Mal ist es der Richtige.«

So ein Eisklotz, dachte Dorothy. Yetta behandelte die Männer alle gleich: Zuerst verliebte sie sich Hals über Kopf in sie und schlief mit ihnen, dann begannen sie sie zu langweilen, und nach einer Weile ließ sie sie fallen. Häufig liefen sie ihr noch monatelang nach, schrieben ihr Briefe, riefen stockbetrunken mitten in der Nacht an, hämmerten zu jeder Tages- und Nachtzeit an die Tür. Und wer hielt ihnen die Hand, kochte ihnen Tee und tröstete sie? Also konnte sie diesem Neuen ebenso gut gleich die Hand schütteln, dann erkannte sie ihn wenigstens wieder, wenn er irgendwann nächsten Monat um zwei Uhr früh vor ihrer Tür stand.

So war sie mit all den Menschen, die sie eigentlich nicht kannte, in den Rock Creek Park gekommen und amüsierte sich prächtig. Wo Yetta war, fanden sich stets interessante, lebhafte Menschen ein. Sie schien diese Wirkung hervorzurufen, wo auch immer sie hinging.

Allerdings neigte sie auch ein wenig dazu, andere herumzukommandieren, insbesondere ihre Zwillingsschwester, die als die ruhigere von ihnen galt. Doch im Augenblick war Dorothy ihrer Schwester gnädig gesonnen, so dass sie sogar fast bereit war, Yetta die Spötteleien wegen ihrer Kleidung zu verzeihen.

»Nur weil wir für Russland arbeiten, heißt das noch lange nicht, dass du dich wie eine ukrainische Bäuerin anziehen musst.« Trotzdem war Dorothy froh, dass sie den weiten, bedruckten Rock und die Bauernbluse mit den Rüschen ausgesucht hatte, denn der Stoff war angenehm kühl, außerdem betonten diese Kleidungsstücke ihre Figur mit den runden Brüsten und Hüften und der schmalen Taille. Und es war ganz bestimmt hübscher und weiblicher als Yettas bauchfreier Anzug!

Endlich war der Tanz vorbei. Allmählich war sie ins Schwitzen geraten. Sie fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu, ließ sich auf ihre Decke fallen und strich den Rock glatt, damit er nicht zu viele Falten bekam. Ihr Tanzpartner wollte sich neben sie setzen, doch als er sie fragte, ob sie etwas trinken wolle, verneinte sie in einem Ton, der keinen Zweifel an ihrer Botschaft aufkommen ließ. Hau endlich ab. Er war nett, aber irgendwie langweilig.

Yettas Freund Dan begann auf seiner Ukulele herumzuzupfen und stimmte ein spanisches Lied an, einen Song von Carmen

Miranda aus einem ihrer Filme. Alle lachten und stimmten ein,

auch Dot.

Doch Yetta gab sich natürlich nicht damit zufrieden, im Chor mit den anderen zu singen. Stattdessen stand sie auf, stellte sich eine Dose Ananas statt der obligatorischen frischen Obstkreation auf den Kopf und begann, sich in einer Imitation der Chiquita-Lady in den Hüften zu wiegen.

Dot betrachtete ihre Zwillingsschwester bewundernd. Yetta scherte sich keinen Pfifferling um das, was die Leute von ihr dachten. Wenn sie Lust hatte zu tanzen, dann tanzte sie. Und wenn sie eine Zigarette wollte, zündete sie sich eben eine an, selbst wenn sie mitten auf der Straße stand. Und wenn Dot sagte: »Yetta, auf der Straße raucht man nicht. Das sieht billig aus«, lachte sie nur. Außerdem stiftete sie ihre »kleine Schwester« – sie war gerade mal zwei Minuten älter als Dot – ständig zu neuen Abenteuern an.

Na schön, Dot war mitgekommen und hatte Yettas neuesten Verehrer kennen gelernt, wie ihre Schwester es gewollt hatte. Dan Rozinsky war wie all die anderen Freunde von Yetta – er redete wie ein Wasserfall, lachte viel und sah gut aus. Dorothy entdeckte zwar nichts an ihm, das ihn dafür qualifizierte, »der Richtige« zu sein, aber andererseits war es Yetta ohnehin egal, was Dot von ihm hielt.

Er gab Yetta einen Kuss, der so lange dauerte, dass die anderen bereits zu johlen und zu pfeifen begannen und Dot sich schämte. Großer Gott, musste denn jeder wissen, dass sie miteinander ins Bett gingen? Nicht, dass es irgendeinen interessierte. Yetta war als Freigeist bekannt, und alle Welt schien das zu akzeptieren. Doch eines Tages würde Yetta das Glück verlassen, und das war ein Quell ständiger Sorge für Dot, die nur zu gut wusste, was es bedeutete, wenn das Glück einem den Rücken kehrte.

An einem heißen Tag im Sommer 1936 saß sie auf der Bettkante und starrte auf die verblichenen Blumen auf der Tapete. Sie hatte die Arme um die Knie gelegt und wiegte sich rhythmisch hin und her, hin und her. Sie stöhnte, aber nur ganz leise, denn wenn Ma sie hörte, war alles aus. Aber was dachte sie da? Es war doch alles vorbei. Alles, was man ihr beigebracht hatte... über Jungs, die nur das Eine wollten, dass sie gut aufpassen sollte und dass schlechte Mädchen in Schwierigkeiten geraten konnten...

Oh Gott, oh Gott! Sie war schwanger! Schwanger. Das hässlichste Wort der Welt, dass das Ende ihres Lebens bedeutete. Sechzehn Jahre alt und schwanger! Oh Gott, was sollte sie nur tun? Wie sollte sie Ma unter die Augen treten? Pa würde ihr mit dem Gürtel die Seele aus dem Leib prügeln und sie auf die Straße jagen. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber allein der Gedanke an Pa und daran, wie wütend er werden würde... Sie brach erneut in Tränen aus, die über ihre Wangen kullerten, während sie sie sich nach Kräften bemühte, ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Wie hatte das nur passieren können? Es war einfach nicht fair! Sie war doch immer ein gutes Mädchen gewesen, hatte ihre Hausaufgaben gemacht, gute Zensuren nach Hause gebracht, hatte ihrer Mutter bei der Arbeit geholfen und dafür gesorgt, dass die Jungs sie nicht ausnutzten, wie es bei einigen anderen Mädchen in der Nachbarschaft der Fall war. Sie schlang die Arme noch ein wenig enger um die Knie. Wenn sie die Augen ganz fest schloss und bis hundert zählte, stellte sich das Ganze ja vielleicht als böser Traum heraus. Was sollte sie nur tun? Sie steckte bis zum Hals in der Klemme. Und dabei hatte sie doch nur den Ferienjob in der Sunshine-Wäscherei in der Pitkin Avenue angenommen.

Sie hatte hinter dem Tresen gestanden und die Wäsche der Leute entgegengenommen oder irgendwelche Herrenhemden zusammengelegt. Auf dem Tresen lief ständig ein Ventilator, und die Tür stand sperrangelweit offen. Sie hatte den ganzen Tag mit Menschen zu tun, die ihr zuhörten. Sie, die schüchterne Dot Strauss, erklärte ihnen, wann ihre Wäsche zum Abholen bereit war und wie die Hemden zusammengelegt werden mussten. Dolores, die Tochter des Besitzers, sah von Zeit zu Zeit vorbei und klärte sie über all die Männer auf, die dort beschäftigt waren; wie viel sie verdienten, wie ihre Zukunftsaussichten waren, welche neu waren und welchen man über den Weg trauen konnte. Sie ermutigte Dorothy, zu kichern und zu flirten, also tat sie es. Mit Bernie und Joe und Albert. Und mit Murray.

Dieser Murray! Sie lernten einander Mitte Juni kennen, und vom ersten Augenblick an fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er war klein, dunkelhaarig und lebendig. Er war stellvertretender Filialleiter und hatte bisher im Laden in Canarsie gearbeitet. Die Filiale in der Pitkin Avenue war das Mekka für die jungen Assistenten, da dort sämtliche Leistungen angeboten wurden, und er blickte recht zuversichtlich in die Zukunft. »Wartet’s nur ab. In zehn Jahren mache ich bestimmt fünf- oder sechstausend Dollar, locker. Und dann gebe ich alles für schöne Frauen wie unsere Dotty hier aus.« Lachend kniff er ihr in die Wange oder tätschelte ihren Arm, so dass sie rot anlief.

An dem Abend, als er ihr anbot, sie mit dem Firmenlieferwagen nach Hause zu fahren, bekam sie kaum Luft. Die Geschichten über die Männer von der schnellen Truppe machten sie ein wenig nervös, denn mit seinem aus dem Gesicht gekämmten Haar und den dunklen, tief liegenden Augen sah Murray ganz so aus, als gehöre er zu dieser Sorte. Aber er fuhr sie lediglich nach Hause, wo er anhielt und vom Fahrersitz sprang, um ihr die Tür zu öffnen. »Dotty, wenn ich nur ein bisschen jünger wäre, würde ich dich mir glatt schnappen, das kannst du mir glauben«, erklärte er und drückte ihre Hand. Das war alles! Mit einem Augenzwinkern wandte er sich um und ging zum Wagen zurück. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie in den altersschwachen Aufzug gelangt war. Sie war verliebt!

Am nächsten Tag spürte sie, dass ihr Gesicht ganz heiß wurde und sie ihn nicht ansehen konnte, als er aus seinem Büro nach vorn zum Verkaufstresen geschlendert kam. Er lachte sie an und erkundigte sich, ob sie den Film im Loew’s Pitkin bereits gesehen habe. Natürlich nicht, Kino war viel zu teuer. Ihren Lohnscheck lieferte sie brav jede Woche zu Hause ab, außerdem hielt Pa ohnedies nichts von Filmen. »Wie wär’s, wenn du mit mir hingehen würdest?«, schlug Murray vor, beugte sich über den Tresen und grinste, so dass kleine Fältchen um seine Augen erschienen.

Selbstverständlich ging sie mit. Wer hätte das an ihrer Stelle nicht getan? Murray Nathan war der anziehendste, tollste Mann in ganz Brooklyn, und er hatte eine große Zukunft. Zumindest behauptete er das. Er verdiente zwanzig Dollar die Woche! Und er bat sie um eine Verabredung – sie, die kleine Dot Strauss aus der New Lots Avenue, das stille, schüchterne und eigentlich nicht besonders hübsche Mädchen. Murray erklärte ihr, sie müssten wegen der Klatschmäuler sehr vorsichtig sein. Und sie widersprach ihm nicht, denn wenn Pa es jemals herausfände, würde er sie zweifellos umbringen. Und Murray gleich dazu. Sie trafen sich in der Eingangshalle des Kinos, und sie sollte sich unter Popcorn, Schokoriegel oder Limonade etwas aussuchen. Aber sie war viel zu aufgeregt dazu.

Mit seinen hohen, üppig verzierten Decken, den geschnitzten Amor-Figuren und den roten Plüschsesseln war das Loew’s Pitkin der reinste Palast. Sie gingen nach oben in die Galerie – ein Mann wie Murray Nathan saß selbstverständlich nicht auf den billigen Parkettplätzen –, und als sie sich setzten, legte er seinen Arm über die Lehne ihres Sessels, und sie spürte, wie ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte. Sie war sich seines Arms und seiner Hand so bewusst, obwohl sie sie nicht berührten. Sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich hier war, allen Ernstes neben diesem gut aussehenden Mann saß, der sie offenbar mochte, der sich wie ein Gentleman benommen, sie nach Hause gefahren, ins Kino ausgeführt und ihr angeboten hatte, ihr alles zu kaufen, was ihr Herz begehrte. Sie war so überglücklich, dass sie glaubte, jeden Moment zerspringen zu müssen. Das war es – die wahre Liebe. Genauso musste sie sich anfühlen, wie es in den Büchern immer beschrieben wurde. Und dann wanderte seine Hand tiefer, legte sich um ihren Arm und zog sie an sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag. Sie war im Himmel!

Bei dieser ersten Verabredung küsste Murray Nathan sie zweimal. Zwischen ihrem ersten Rendezvous am 28. Juni und Mitte August fuhr er sie zwölfmal mit dem Lieferwagen nach Hause, lud sie dreimal ins Kino ein und schlief fünfmal sonntagnachmittags im Hinterzimmer des Ladens zwischen den Stapeln frisch gewaschener Laken mit ihr.

Allein der Gedanken daran entlockte ihr ein Stöhnen. Oh, was für eine Närrin sie doch gewesen war, sich in ihn zu verlieben und sich von ihm breitschlagen zu lassen, »es« zu tun. Als ihre Regel zweimal ausgeblieben und sie sich sicher gewesen war, hatte er längst aufgehört, am Verkaufstresen herumzulungern und mit ihr zu flirten. Keine Fahrten mehr nach Hause, keine Kinobesuche. Es war so demütigend. Und dann die Erkenntnis, dass sie schwanger war! Entsetzlich!

Sie schämte sich sehr, aber sie musste es ihm sagen. Es dauerte eine geschlagene Woche, bis sie den Mut dazu aufbrachte. »Herrgott noch mal, doch nicht hier«, herrschte er sie an und befahl ihr, nach der Arbeit auf ihn zu warten. Er verspätete sich um zehn Minuten. Sie dachte schon, er käme überhaupt nicht mehr, als er endlich mit grimmiger, ernster Miene um die Ecke bog. Er forderte sie auf, ein paar Schritte mit ihm zu gehen, und dann begann er zu reden. Er sei mit Dolores, der Tochter des Besitzers, verlobt. »Ich dachte, du wüsstest es. Alle wissen es. Wir hatten eine Menge Spaß, wir beide, wie du weißt. Und außerdem«, fuhr er fort, »wie soll ich wissen, ob es überhaupt von mir ist?« Bei diesen Worten fühlte sie sich wie ein winziger Wurm ... nein, noch viel minderwertiger. Er glaubte also, sie – der Gedanke war so entsetzlich, dass sie ihn nicht zu Ende brachte.

Also ging sie nach Hause. Und hier saß sie nun und hatte das Gefühl, als müsste sie sich jeden Augenblick übergeben. Am liebsten wäre sie tot. In diesem Augenblick ging die Tür auf. Es war Jack, der von der Arbeit nach Hause kam. Er löste seine Krawatte. »Ma sagt, du bist früher von der Arbeit nach Hause gekommen, weil du krank bist. Was ist los?«

Sie brach in Tränen aus und schluchzte so laut, dass er die Tür schloss, sich neben sie aufs Bett setzte und beruhigend ihre Hand tätschelte. »Meine Güte, nicht so laut, sonst hören sie dich noch. Erzähl es mir«, sagte er.

»Ich ... ich – oh Gott, Jack. Ich bin schwanger.«

»Du bist –! Nein, nein, nicht du!« Er sprang auf. »Du verdammte Idiotin, wie konntest du so dumm sein! Wer ist der Kerl? Wie konntest du dich mit einem solchen Nichtsnutz einlassen? Verdammt noch mal, hörst du denn nicht zu, wenn man dir etwas sagt? Hab ich dir nicht gleich gesagt, du sollst dich vor den Jungs in Acht nehmen? Sie sind Tiere, Schweine. Hab ich dich nicht gewarnt? Bei Yetta hätte es mich nicht gewundert, aber du – Dorothy!«

Sie wollte etwas erwidern, es ihm erklären, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. Sein Gesicht war rot vor Zorn, und seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, als er sich vorbeugte. »Verdammt noch mal, Dorothy, du bist ein hübsches Mädchen. Jeder Junge in der Nachbarschaft würde für ein Lächeln von dir sterben. Nette Jungs, gute Jungs, die dich respektieren und dich nicht anrühren würden... Großer Gott, Dorothy, was hast du dir nur dabei gedacht? Du brauchst mir nicht zu antworten. Gar nichts hast du dir dabei gedacht. Ich glaube es einfach nicht!«

Er machte ihr Angst, wie er so drohend über ihr aufragte, als wollte er sie schlagen. Und dann erschien Mama, hämmerte gegen die Tür und rief nach ihnen. »Was ist da drin los? Jack, lass deine Schwester in Ruhe, hast du mich verstanden? Sie fühlt sich nicht gut!« Dorothy begann erneut zu weinen und biss sich auf die Faust, damit Mama ihr Schluchzen nicht hören konnte.

Jack stand abrupt auf. »Ist schon gut, Ma«, rief er mit einer Stimme, die nichts von seiner Verärgerung verriet. »Wir machen nur Dummheiten, ehrlich.« Sie warteten, bis sich die Schritte wieder in Richtung Küche entfernten. »Okay, Dorothy, wisch dir die Tränen ab, und hör mir zu. Wir machen Folgendes«, sagte er. Mit einem Mal schien er völlig ruhig zu sein. »Zuerst sagst du mir jetzt, wer der Kerl ist, damit ich zu ihm gehen und ihn umbringen kann. Und dann sorge ich dafür, dass er dich heiratet.« Sie wunderte sich selbst, dass sie jetzt tatsächlich lachte, in ihrer schlimmsten Stunde und trotz ihrer tiefen Verzweiflung. Genau so war er, ihr Bruder Jack.

»Er... er ist mit einer anderen verlobt. Und bitte versuch nicht herauszufinden, wer es ist, weil ich nicht will, dass du es weißt. Ich schäme mich so. Bitte, Jack.«

»Mit diesem Kerl hast du das große Los gezogen, hab ich Recht? Okay«, sagte er. »Selbst wenn dieser verdammte Trottel – und sollte ich jemals herausfinden, wer er ist, breche ich ihm die Beine, damit er nicht vergisst, mit wem er es zu tun hat... Sollte er dich heiraten wollen, vergiss das Ganze. Du bist noch viel zu jung. Du ruinierst dein ganzes Leben. Also, ich habe eine Idee: Ich erledige jetzt ein paar Telefonate, dann bringe ich dich nach Jersey City, wo wir uns um diese Angelegenheit kümmern.«

»Nein, Jack, manche Mädchen sterben bei Abtreibungen.«

»Nein, nein, wir gehen zu einem richtigen Arzt. Er macht es, weil er das Gesetz für schwachsinnig hält. Alles ganz sauber und sicher. Glaubst du etwa, ich bringe dich zu irgendeinem Metzger, zu einer alten Hexe, die dich mit dem Kleiderbügel traktiert? Nein, ich kümmere mich schon um dich, mach dir keine Gedanken. Alles wird gut.«

Seit diesem Tag war sie höchst vorsichtig mit Jungs und ließ sich viel Zeit. »Du bist verklemmt«, warf Yetta ihr vor, aber das stimmte nicht. Sie war nicht verklemmt, aber ihre Abtreibung war ein Punkt, über den sie mit ihrer Schwester nicht reden konnte. Wenn man in Schwierigkeiten steckte, war Yetta ganz bestimmt nicht die richtige Ansprechpartnerin. Sie würde die Sache mit einem Achselzucken abtun oder einem vorhalten, wie dämlich man sich benommen hatte. Ihr konnte man nicht einmal sagen, dass man mit einer bestimmten Situation nicht zurecht kam, da sie grundsätzlich wusste, was zu tun war. Wann immer Dot bei einer Sache zögerte, fuhr Yetta sie an. »Wo ist das Problem, Dot? Tu doch was... irgendwas! Hör auf, ständig nur darüber zu reden!«

Deshalb war Jack der Einzige, der davon wusste. Und er war auch derjenige, der sie nach Jersey City begleitete. Der Ma und Pa ihretwegen belog, der den Eingriff bezahlte, stundenlang auf sie wartete, ehe sie nach Brooklyn zurückfuhren, und der sich um sie kümmerte, bis die schlimmsten Blutungen nachgelassen hatten. Er war ein Engel und ließ nie ein Wort über diese unselige Geschichte verlauten.

Es gelang ihr, die Angelegenheit beiseite zu schieben und nicht mehr ständig darüber nachzugrübeln. Es war passiert, sie hatte ihre Lektion gelernt, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nur dass sie ganz besonders wählerisch geworden war, was die Jungs betraf, mit denen sie ausging. Schon beim ersten Zusammentreffen wusste sie ganz genau, ob der junge Mann in Frage kam oder nicht.

Doch von Zeit zu Zeit tauchte ein Kandidat auf, der durchaus in Frage kam. Und hier auf dem Fest war einer, nicht mal einen Meter von ihr entfernt. Er briet Würstchen am Feuer, blickte jedoch alle paar Minuten auf, um ihr ein reizendes Lächeln zu schenken. Und wann immer sie in sein Gesicht sah, begann ihr Herz zu hämmern. Sie kannte seinen Namen – Jonah Golodny – und wusste, dass seine Augen grün waren. Und als er ihre Hand zur Begrüßung schüttelte, wünschte sie, er möge sie nie wieder loslassen.

Er kam definitiv in Frage. Und wie sehr hoffte sie, dass auch sie für ihn in Frage kam! Doch wieso saß sie dann auf ihrer Decke, sah zu ihm auf und machte sich insgeheim Hoffnungen? Sie könnte zum Beispiel aufstehen und sich mit ihm unterhalten. So schüchtern war sie auch wieder nicht. Es hatte sich so ergeben, dass Yetta Freunde für sie beide fand, da sie davon ausging, dass Dorothy es ohne ihre Hilfe sowieso nicht schaffte. Aber Yetta irrte sich. Wo stand denn, dass Dot Strauss nicht selbst dafür sorgen konnte, dass sich ein Mann zu ihr hingezogen fühlte?

Also erwiderte sie Jonah Golodnys Lächeln beim nächsten Mal, so wie Yetta es tun würde, legte den Kopf ein wenig schief und riss die Augen auf. Im nächsten Augenblick reichte er den Stock mit den Würstchen einem anderen und kam herüber. Er war so anziehend, so ganz anders als all die jungen Männer, denen sie sonst begegnete. Er hatte etwas an sich, das sie magisch anzog. War es seine Baskenmütze, die leicht schief auf seinem Kopf saß, so dass sie eine Augenbraue verdeckte? Oder dieses kaum merkliche Hinken, das auf Abenteuer schließen ließ? Jemand hatte ihr erzählt, er sei mit der Lincoln Brigade in Spanien gewesen und verwundet worden. Sie war nicht sicher, was das Ganze sollte, weshalb die Amerikaner es für nötig befunden hatten, sich in einen Krieg in Spanien einzumischen. Sie wusste nur, dass es etwas mit Franco und dem Faschismus zu tun hatte. Aber es war ein mutiger Akt, soviel stand fest, tapfer, wagemutig und bewundernswert.

»Darf ich?« Oh, und er hatte einen leichten Akzent. Wie außergewöhnlich. Sie nickte, worauf er sich neben ihr auf der Decke niederließ. Seine Hemdsärmel waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, so dass die goldenen Härchen in der Sonne glänzten. Seine Hände waren sehnig und stark.

Dan stimmte ein neues Lied an, in das Jonah nach wenigen Takten einfiel, während er ihr lächelnd in die Augen blickte.

The girl with the gipsy eyes Has taken away my heart And now I’m her captive And we shall never part.

Dieser Mut! Ein Liebeslied zu singen, während er hier neben ihr saß. Unglaublich!

»Sie sind also die kleine Schwester.«

»So klein bin ich gar nicht. Soll ich aufstehen und es beweisen?«

»Entschuldigung, Dorothy... so heißen Sie doch, hab ich Recht? Wissen Sie auch, wie ich heiße?«

»Mit Vor- und Nachnamen. Jonah Golodny.«

Er grinste sie an. »Oh, ich kenne auch Ihren Nachnamen. Strauss. Natürlich haben Sie denselben wie Yetta. Wie Sie sehen, bin ich ein brillanter Geist. Ich weiß, dass zwei Schwestern denselben Nachnamen haben.« Er tippte sich mit dem Finger an den Kopf und lachte. Er besaß ein wunderbares Lachen, so ungekünstelt und herzhaft, als hätte er nicht die geringste Sorge auf der Welt. Es war schwer, ihn sich mit einer Waffe in der Hand in einer Schlacht vorzustellen.

»Haben Sie wirklich in Spanien gekämpft?«

Augenblicklich erlosch das Lächeln. »Ja. Bei der glücklosen Lincoln Brigade. Ich bin einer der wenigen, die es geschafft haben, wieder nach Hause zu kommen.« Er tätschelte sein Bein. »Zwar mit ein paar Schrammen, aber wenigstens lebend.«

»Sie müssen sehr tapfer sein.«

Das Lächeln erschien wieder. »Soll ich Ihnen etwas sagen, Dorothy Strauss? Das glaube ich auch. Tollkühn, ja, aber auch tapfer. Wir waren alle tapfer. Bis wir dort hinkamen, wussten wir nicht mal, wie tapfer. Wir waren so sehr in der Unterzahl... unglaublich ... Einmal hatten wir gerade mal drei Gewehre für zweihundert Mann. Klingt, als hätte ich mir das nur ausgedacht, aber es stimmt. Drei Gewehre...«

»Aber wie haben Sie dann gekämpft?«

Er starrte sie einen Augenblick lang nachdenklich an, ehe er antwortete. »Wir konnten nicht kämpfen. Sie haben uns getötet. Hunderte von uns, in einer einzigen Nacht. Oje, tut mir Leid. Der Krieg ist kein geeignetes Thema für einen so schönen Sommertag mit einer hübschen jungen Frau an meiner Seite.«

»Nein, nein«, beharrte Dorothy. »Es macht mir nichts aus. Ich komme mir nur so dumm vor. Ich weiß rein gar nichts über... den spanischen Bürgerkrieg. Nur, dass er wichtig war.«

»Dieser Krieg ist das Wichtigste, was ich je in meinem Leben getan habe. Der Kampf gegen den Faschismus.« Seine Stimme bebte förmlich vor Ergriffenheit. »Hätte Amerika doch nur Hilfe geschickt. Dann hätten wir sie besiegen können. Wir haben so lange ausgeharrt, mit nichts in den Händen, absolut nichts, sage ich Ihnen. Nur mit unserem Mut, unserem Verstand und unserem Glauben an eine bessere Welt. Aber es kam keine Hilfe! Es war, als würde man gegen eine Wand reden. Tja, und jetzt bekommt die ganze Welt die Quittung dafür. Hitler wird stärker und stärker. Diese Woche hat seine Armee Odessa eingekesselt. Meine Stadt, meine Heimat. Schon bald wird er Russland unterjochen, ganz Europa wird er erobern!«

»Dieser Krieg ist ein imperialistischer Krieg!«, unterbrach einer seiner Kumpane. »Bosse kämpfen gegen Bosse! Er hat nichts mit der Arbeiterklasse zu tun, Golodny.«

»Es kümmert mich nicht im Mindesten, ob Stalin einen Pakt mit Hitler schließt. Stalin sagt mir ganz bestimmt nicht, was ich zu denken habe. Ich weiß, was ich weiß. Faschismus ist und bleibt Faschismus, und es ist unser aller Pflicht, dagegen zu kämpfen.«

»Aber die Partei sagt –«

»Die Partei sagt!« Jonahs Stimme troff vor Sarkasmus. »Ich gebe dir einen Rat, mein lieber Optakeroff: Hör auf, dich nur an die Parteiparolen zu halten und benutze endlich deinen eigenen Verstand. Natürlich nur, falls du einen hast.«

Optakeroff, der deutlich größer und kräftiger als Jonah war, ballte die Fäuste. »Was fällt dir ein zu behaupten, ich hätte keinen Verstand?«

»Wenn du tatsächlich so etwas wie Verstand besitzt, wieso fängst du dann nicht langsam an, ihn zu benutzen? Oh, kein Grund, die Fäuste zu ballen. Lass das. Ich sitze hier, unterhalte mich mit einem hübschen Mädchen, und du ruinierst mir alles! Und jetzt verzieh dich gefälligst!«

»Der Teufel soll dich holen!«, knurrte Optakeroff, ehe er sich zu Dots Erleichterung zum Gehen wandte.

»Oh, ich bin wirklich froh, dass Sie beide sich nicht prügeln.«

»Sie meinen –« Er hob die Fäuste. »Nein, nein. Wir liegen uns ständig in den Haaren. Das hat nichts zu bedeuten. In Moskau tun sie sich mit Hitler zusammen. Deshalb ist es kein Krieg mehr gegen den Faschismus, sondern ein imperialistischer Krieg. Und was immer in Moskau gesagt wird, nimmt er für bare Münze und verbreitet es weiter.« Er lachte. »Haben Sie eine Ahnung, wie oft die Parteiparolen wechseln? Es ist doch lächerlich, jedes Mal seine Meinung zu ändern, nur weil jemand es einem sagt. Ein Mann muss für sich selbst entscheiden, was richtig und was falsch ist, und er muss sich auch daran halten, sonst ist er kein Mann!«

Sie verstand bestenfalls die Hälfte von dem, was er sagte, aber das würde sie auf keinen Fall zugeben. Er interessierte sich für sie, und sie würde ihm bestimmt nicht auf die Nase binden, was für ein Dummkopf sie war.

»Ich bewundere Männer, die bereit sind, für ihre Ideale zu kämpfen«, erklärte sie und stellte überrascht fest, dass sie es auch so meinte. Er war angeschossen und um ein Haar getötet worden, weil er für etwas Wichtigeres als die eigene Existenz gekämpft hatte. Sie war noch nie jemandem wie ihm begegnet. Die Jungs in ihrer Gegend wollten einen halbwegs ordentlichen Job und sich amüsieren. Etwas anderes hatten sie nicht im Kopf, selbst ihr Bruder Jack, der ehrgeiziger als die meisten anderen Jungs war. Soweit sie wusste, hatte auch er keine Ideale, keine Überzeugungen. Bei der letzten Wahl hatte er noch nicht mal seine Stimme abgegeben.

Sie musterte Jonah Golodny mit einem Gefühl wachsender Erregung. Sie mochte ihn. Sie konnte ihre Gefühle noch nicht in Worte kleiden, aber sie hatte etwas für ihn übrig, eindeutig.

»Die Faschisten haben so grauenhafte Dinge getan... In Spanien, in Deutschland, überall. Sie haben Fensterscheiben zertrümmert! Menschen grundlos verhaftet! Ich habe gesehen, wie diese Mistkerle eine Jüdin nackt über die Straße geschleift haben! Ich konnte mich nicht zurücklehnen und zusehen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Menschen ein besseres Leben führen können. Und die Regierung der Vereinigten Staaten, die ein solcher Verfechter der Freiheit ist, wollte uns nicht nach Spanien reisen lassen. Ich musste über Schweden nach Spanien einreisen, können Sie sich das vorstellen? Es ist nicht unser Krieg, haben sie gesagt. Wie blöd kann man denn sein? Der Kampf gegen den Faschismus ist unser aller Krieg.«

»Ja, natürlich«, hörte sie Yetta in diesem Augenblick sagen, »unser aller Krieg, Jo. Zu schade, dass nicht jeder lebend aus diesem Krieg zurückkommt.«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »In diesem Punkt gebe ich dir Recht.«

»Nein, tust du nicht. Meiner Meinung nach habt ihr vom ersten Tag an auf verlorenem Posten gestanden. Eure Ideale haben euch blind für die Realität gemacht, so dass ihr nicht bemerkt habt, dass ihr nichts als Kanonenfutter wart. Unser aller Krieg. So viele Tote. Und wer hat heute etwas davon?«

Diese verdammte Yetta. Sie würde ihn mit ihrem Geschwätz noch vergraulen. Und Dorothy wollte nicht, dass Jonah Golodny so schnell aus ihrem Leben verschwand, wie er aufgetaucht war.

»Manche Menschen glauben eben an wichtigere Dinge als an Spaß und Amüsement, Yetta. Sie sind bereit, sich mit Haut und Haar dafür einzusetzen«, erklärte sie, worauf er in Gelächter ausbrach und applaudierte. »Hört, hört.«

Ihre Schwester lachte ebenfalls. »Was soll ich darauf sagen? Er ist Kommunist, ich bin Hedonist.«

»Und ich?«, erkundigte sich Dorothy. »Gehackte Leber?«

Erfreut bemerkte sie die Überraschung auf Yettas Miene. Eine kleine Schwester sollte keine Widerworte geben. Tja, vielleicht besaß die kleine Schwester nicht ganz so viel Pep und trug einen Dirndlrock statt eines bauchfreien Hosenanzugs und Mas Perlenohrringe statt der Zigeunercreolen, aber sie war ganz bestimmt keine Duckmäuserin. Nicht heute. Das hier war viel zu wichtig.

»Ich glaube, ich mag das Mädchen«, erklärte Jonah Golodny, legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich.

»Wenn das so ist«, meinte Yetta, »gebe ich dir gern ihre Telefonnummer.«

Dorothy warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu. Hatte sie etwa die Absicht, diesen Mann in die Flucht zu schlagen? Sollte sie doch mit Dan Rozinsky tanzen, eine Rede schwingen, ein Lied singen oder ihn küssen – solange sie nur verschwand und nicht alles ruinierte.

»Keine Sorge, ich wollte sowieso danach fragen. Wenn Dorothy nichts dagegen hat.« Sein Arm ruhte noch immer auf ihrer Schulter, und er machte keine Anstalten, ihn wegzunehmen. Es war, als gehörten sie zusammen.

Dot blickte ihm in die Augen. Mit einem Mal fühlte sie sich so kühn. Aber auch so gut. »Ich habe bestimmt nichts dagegen«, sagte sie.

Im Haus des Vaters

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