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6. Kapitel

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Ötztal, Tirol

27. August 2017


Als der Master Chief um 07:00 Uhr klingelte, wurde ihm umgehend geöffnet. Berger hatte den Kellerraum sauber gemacht und sich anschließend ausgiebig geduscht, um den Schmutz abzuwaschen, der von diesem ekligen, kleinen Mann vielleicht noch an ihm gehaftet hatte. Schließlich hatte er ihn die halbe Nacht durch die Gegend geschleppt und auch in der Wohnung des Stalkers hatte sich Berger einige Zeit aufgehalten, um seinen Auftrag zu einem besonders befriedigenden Abschluss zu bringen. Berger hatte dabei penibel darauf geachtet, keine Spuren, insbesondere verwertbare DNA-Spuren zu hinterlassen. Die Spurensicherung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wohnung des Mannes untersuchen, und Berger war ein Profi, der nichts dem Zufall überließ. Er vertraute auch ungern auf sein Glück.

Nun empfing er den Chief, Ninas Vater, frisch geduscht mit einer Tasse dampfendem Kaffee in der Hand, die er dem alten Seebären hinhielt.

„Kaffee?“, fragte er.

„Ich nehme an, schwarz wie die Nacht und so stark, dass der Löffel darin von alleine stehen bleibt?“

Master Chief Williams lächelte trotz der ernsten Lage, in der sie sich befanden. Das erste Mal seit einer Ewigkeit. Und es tat gut.

„Danke, Junge“, sagte der Chief und ergriff die heiße Schale. Dann folgte er Berger durch das Erdgeschoß hinaus auf eine südöstlich situierte, mit beigen Pflastersteinen belegte Terrasse. Durch einen aus leichten Holzstäben gezimmerten Aufbau, auf dem Weinranken wuchsen und Efeu sich seinen Weg empor bahnte, schien das warme Licht der morgendlichen Sonne. Der schlichte Holztisch war ordentlich gedeckt, da Berger nach dieser langen Nacht hungrig wie ein Löwe war. Auch Ian Williams schien hungrig zu sein, denn als sie sich gesetzt hatten, langten beide Männer ordentlich zu.

„Als Erstes müssen wir das Schiff finden“, sagte Berger und sah den Chief zustimmend nicken.

„Das wird zwar verdammt schwierig werden, aber wir brauchen Gewissheit, was mit der Stockdale passiert ist. Dann können wir weitere Schritte planen.“

„Und wie stellen wir das an?“, fragte Williams und schlürfte an seinem dritten Kaffee.

„Ich hab da so eine Vorstellung, aber dazu müssten wir einen dritten Mann in unser Team holen.“

Berger sah Skepsis und Unsicherheit in den Augen des Chiefs aufblitzen. Die Idee, noch eine Person in dieses kleine Geheimnis einzubinden, gefiel ihm offenbar überhaupt nicht.

„Und an wen hätten Sie da gedacht?“, brummte er. Berger schenkte sich Orangensaft nach und überlegte, wie er Ninas Vater erklären sollte, was er vorhatte.

„Dazu müssen wir zuerst rüber in die Staaten fliegen“, antwortete er schließlich.

„Ich kenne da jemanden, der absolut zuverlässig und vertrauenswürdig ist.“

„Hmm. Und über welche Qualifikation verfügt dieser Jemand, mit der er uns beiden weiterhelfen könnte?“, wollte Williams wissen.

„Er war bei den SEALs“, sagte Berger und der Chief nickte wissend.

„Gut“, sagte der ältere Mann.

„Sehr gut.“


Miami, Florida

30. August 2017

Der Airbus A330 der Lufthansa war um 12:10 Uhr Ortszeit in München bei heftigem Sturm und prasselndem Regen gestartet, hatte die mehr als elfstündige Reise quer über den Atlantik relativ ungestört hinter sich gebracht und setzte nun kurz vor halb sechs Uhr abends auf der brütend heißen Piste des Miami International Airports auf. Das Flugzeug rollte über den Runway und wurde von einem Einweiser auf seine endgültige Parkposition verfrachtet. Gepäck und müde Fluggäste verließen den Jet und sammelten sich um das Kofferförderband. Während Master Chief Ian Williams auf ihre Koffer wartete, spurtete Stefan Berger zum Avis-Schalter und mietete einen Jeep Cherokee. Als er die Schlüssel und die obligatorischen Papiere entgegennahm, erschien auch schon der Chief mit den beiden Koffern. Gemeinsam verließen sie den Terminal und nahmen eines der wartenden Taxis, das sie zur Mietwagenzentrale brachte, die etwa fünf Minuten entfernt im Osten lag. Sie verließen das Taxi, fanden den grauen Jeep, verstauten ihr Gepäck und fuhren los.

Berger fuhr das große Auto in Richtung Süden. Der Jeep erreichte den Dolphin Expressway, fuhr zwischen Lagune und Flughafen im gemäßigten Tempo nach Westen, bog dann nach Süden auf den Palmetto Expressway ab und folgte diesem bis zum Lake Catalina. Dort bog Berger nach rechts ab und fädelte sich in den Verkehr auf dem Don Shula Expressway ein. Sie befanden sich bereits im Vorstadtbereich, als sie den Ronald Reagan Turnpike erreichten und es wieder genau in südlicher Richtung weiterging. An der Stadtgrenze fuhren sie an eine Tankstelle, versorgten sich mit ausreichend Getränken, einer Kühltasche und einer Kleinigkeit zum Essen und fuhren anschließend weiter. Sie erreichten den State Highway 9336, der sie für die nächste Stunde durch die steppenartige Graslandschaft Südfloridas führte. Die Luft wurde mit jeder Meile feuchter und auch die Anzahl der Stechmücken, die gegen die Windschutzscheibe prasselten, nahm stetig zu.

Während die Sonne direkt vor ihnen immer tiefer sank, wurde auch das Land immer flacher und der Boden senkte sich zunehmend zum Meer hin ab. Berger und Williams sahen erste Wasserflächen, Sümpfe und Rinnsale, die sich durch die Landschaft schlängelten. Ausgedehnte Feuchtwälder und Mangroven breiteten sich vor ihren Augen aus, ein Fuchs preschte im Scheinwerferlicht über die Straße und zwang Berger zu einem abrupten Bremsmanöver. Schließlich, nach etwa eineinhalb Stunden Fahrt, befanden sie sich tief in den Everglades, in den Sümpfen Südfloridas.

„Mann, Mann, was für eine beschissene Gegend“, raunte Master Chief Ian Williams, der sich mit seiner irischen Abstammung und der hellen Haut in solch tropischen Gegenden nie besonders wohl fühlte. Um seinen Kommentar noch zu untermauern, fischte er eine Dose Bud aus der Tasche und öffnete sie zischend.

„Das hält man ja im Kopf nicht aus, so beschissen einsam und leer ist es hier unten“, schimpfte er weiter.

„So beschissen leer wie auf dem Nordatlantik?“, fragte Berger und grinste zu seinem Beifahrer hinüber.

„Das ist was anderes, Junge“, gab dieser zurück.

„Das Meer ist erhaben, die See ist was Wundervolles. Doch dieser Sumpf hier, ich weiß nicht, der will mir ganz und gar nicht gefallen.“

Er kippte das Bud in seine offensichtlich ausgetrocknete Kehle und warf die leere Dose in die Tasche. Er sah wieder aus dem Fenster und murmelte brodelnd weiter.

„Ich hoffe, wir finden den Mann schnell.“

Dann sah er zu Berger.

„Ich hab so das unbestimmte Gefühl, dass Sie nicht genau wissen, wo wir ihn finden werden, oder?“

Berger, der wirklich nur eine ungefähre Ahnung hatte, wo sich sein alter Freund aufhalten könnte, fühlte sich ertappt. Um davon abzulenken, schnappte er sich ebenfalls eine Dose Bier und hielt sie dem Chief hin. Der Chief sah Berger einige Augenblicke lang an, dann schnappte er sich die Bierdose mit der linken und hielt Berger die rechte Hand hin.

„Nenn mich Ian, Sohn“, sagte er.

„Nur wenn du mich Stefan nennst, Ian.“

„In Ordnung, Sohn.“




Flamingo Ranger Station, Südflorida

30. August 2017

Um kurz vor halb elf Uhr abends erreichten sie schließlich das Ziel ihrer Reise. Die Flamingo Ranger Station, ein in altrosa gestrichener, von Palmen gesäumter Bau an den nördlichen Ausläufern der Florida Bay. Die Station lag in dem ehemaligen Fischerdörfchen Flamingo, das nun, außerhalb der Saison, relativ verlassen dalag. Die wenigen Shops, die es hier gab, waren genauso verschlossen wie der nahe Campingplatz. Einzig die Ranger Station war in Betrieb, da der Nationalpark das ganze Jahr über zu betreuen war.

Berger parkte das Auto auf einem der breiten, betonierten Besucherparkplätze. Als sie aus dem klimatisierten Jeep ausstiegen, schlug ihnen die feuchtheiße Spätsommerluft der Everglades entgegen. Beinahe augenblicklich klebten Shirt und kurzärmeliges Hemd an den Oberkörpern der beiden Männer. Es war außerdem völlig windstill, wodurch sich das Gefühl der wabernden, stickigen Wärme noch verstärkte. Berger verschloss den Wagen und gemeinsam marschierten sie hinüber zur schwach erleuchteten Betonfläche direkt vor der Ranger Station. Sie sahen, dass im Inneren noch Licht war, also überwanden sie die Eingangstreppe und betraten das Gebäude.

Drinnen war es gleich warm wie draußen, die Klimaanlage funktionierte entweder nicht, oder es gab schlicht und ergreifend keine. Sie hörten leise Musik, die aus einem Raum zu kommen schien, der sich etwa fünfzehn Meter voraus auf der rechten Seite des Ganges befand. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Warmes Licht fiel in den düsteren Flur. Nun hörten sie auch eine Stimme, konnten aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Berger klopfte und trat ein. Williams folgte ihm.

„Tut mir leid, meine Herren, aber die Station ist geschlossen“, sagte ein schlaksiger Afroamerikaner mit langen Rastas. Er trug ein buntes Hawaiihemd, helle Bermudas und Sandalen. Wie ein Metzger hatte er einen weißen Plastikschutz umgebunden, der mit Blut besudelt war. Mit einer Hand hielt er eine dicke, filterlose Zigarette. Mit der anderen stützte er sich an einem Edelstahluntersuchungstisch ab, der mitten im Raum unter einer Tageslichtlampe stand. Auf dem Tisch lag eine riesige, fette Schlange, deren Leib teilweise aufgeschlitzt war. Blut des toten Reptils sammelte sich am Rand des Tisches und lief von dort in einen Eimer ab, der unter der Abtropföffnung stand.

„Was zum…“, meldete sich Chief Williams, der die tote Schlange gesehen und den Gestank in der Luft gerochen hatte.

„Hallo“, sagte Berger äußerlich völlig unbeeindruckt, obwohl Schlangen nun nicht gerade zu seinen Lieblingstieren gehörten. Immerhin war dieses Exemplar unzweifelhaft tot und deshalb wohl völlig ungefährlich.

„Wir sind Freunde von Kyle Kovac und würden gerne wissen, wo er ist. Können Sie uns weiterhelfen?“, fragte er freundlich. Der Rastaman besah sich die beiden Männer mit einer Mischung aus Misstrauen und Verärgerung.

„Woher kennen Sie Kyle?“, fragte er und ließ einen blutigen Fleischbrocken, oder was auch immer das war, in einen Eimer neben der toten Schlange gleiten.

„Von seiner Zeit beim Militär. Ich bin First Sergeant Crowe und das ist Master Chief Williams.“

Berger sah, dass das Misstrauen in den Augen des Mannes nicht wich.

„Wir waren zusammen im Iran und in Afghanistan“, fuhr Berger fort.

„Und was wollen Sie von Kyle?“, fragte der Rastaman, der sich seinerseits nicht vorgestellt hatte. Immerhin klang er nicht mehr ganz so misstrauisch.

„Wissen Sie, wo er sich aufhält?“, fragte nun Chief Williams in beherrscht ungeduldigem Ton.

„Das kann schon sein, dass ich das weiß“, gab der Rastaman schnippisch zurück.

„Aber warum sollte ich es jemandem sagen, den ich nicht kenne? Kommen Sie morgen wieder, dann weiß ich es vielleicht wieder“, schnauzte der Rastaman.

„Vielleicht weiß ich’s aber auch morgen nicht“, grinste er und wand sich wieder der toten Schlange zu. Die leise Reggaemusik im Hintergrund wummerte weiter vor sich hin. Berger sah Williams an und erkannte wieder das ungesunde Rot in dessen Gesicht. Er spürte die nahende Eruption und bedeutete ihm, sich zu beruhigen. Dann ging er ein paar Schritte auf den Schlangenmann zu.

„Hören Sie, Mister. Wir sind eine Ewigkeit unterwegs und wollen nur wissen, wo Kyle ist. Wir brauchen dringend seine Hilfe und wir müssen ihn unbedingt finden. Es geht um Leben und Tod, glauben Sie mir.“

Der Rastaman sah in Bergers entschlossenes Gesicht und betrachtete ihn für eine Ewigkeit. Berger zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht die Wahrheit aus diesem Mann rauszuprügeln. Schließlich, nach der schieren Ewigkeit einer halben Minute, äußerte sich der Schlangenmann.

„Meine Güte, Jungs, ihr seid ganz schön hartnäckig.“ Dann grinste er und entblößte überraschend weiße und gerade Zähne.

„Ich bin Jules“, grinste er.

„Und ich weiß tatsächlich, wo diese alte Dschungelratte ist.“

„Das ist ja toll, Jules“, lächelte Berger.

„Und wo ist er?“

Jules Rastaman grinste breit und zeigte aus dem Fenster in Richtung der Mangrovenwälder.

„Kyle ist irgendwo da draußen und jagt Tigerpythons“, erklärte er ruhig.

„Sind verdammt lästige Mistviecher, müsst ihr wissen. Wurden hier irgendwie eingeschleppt und fressen alles, was ihnen in den Weg kommt. Ruinieren dabei das örtliche Ökosystem. Rotten andere Tiere aus. Kyle unternimmt was dagegen, indem er diese Viecher aufstöbert und kaltmacht.“

„Na toll“, sagte der Chief und massierte seine müden Augen.

„Und wann kommt er zurück?“, fragte Berger, der keine Lust hatte, seinen Freund in diesem schlangenverseuchten Dschungel zu suchen.

„Wenn ihr Glück habt, morgen.“

„Können wir hier irgendwo übernachten?“, wollte Berger wissen. Der Rastaman Jules grinste und schüttelte den Kopf.

„Der Campingplatz und das Besucherzentrum sind zu. In meinem Zimmer steht nur ein Bett und Kyles Wagen, glaubt mir, da wollt ihr nicht drin schlafen.“

„Wir schlafen im Auto“, grollte der Chief, drehte sich um und marschierte in Richtung Tür. Berger sah ihm nach und drehte sich wieder zu Jules um.

„Danke Jules“, sagte er.

„Wie erfahren wir, ob Kyle wieder da ist?“

„Das werdet ihr kaum überhören können“, grinste der andere Mann.

„Kyle ist kein Mann der leisen Töne, glaubt mir.“

„Ja, das ist allerdings wahr“, gab Berger zu, der sich an die eine oder andere Episode mit Kyle Kovac erinnerte. Ruhig war es dabei nie zugegangen.

„Eine Frage noch: Warum schneiden Sie die Schlange auf?“, wollte Berger wissen.

„Ganz einfach: Wir wollen wissen, was die Schlange gefressen hat, und dadurch die Vermutung beweisen, dass die massenhafte Ausbreitung des Tigerpython schuld am Populationsrückgang von Waschbären, Kaninchen und anderen Kleintieren ist.“

Jules schnappte sich den blutigen Brocken, den er zuvor in einem Kübel deponiert hatte, und hielt ihn Berger unter die Nase. „Da, sehen Sie? Ein Kaninchen.“

„Danke Jules, und viel Spaß noch beim Rumschneiden an der Schlange“, sagte Berger, drehte sich um und verließ den Raum.

„Gute Nacht!“, hörte er Jules übertrieben gutgelaunt in seinem Rücken. Ja, auf diese Nacht freute er sich auch schon. Er wusste, dass er höchstwahrscheinlich kein Auge zumachen würde.




Flamingo Ranger Station, Südflorida

31. August 2017

Entgegen seiner pessimistischen Annahme war er nur wenige Minuten nach dem Anlaufen der Klimaanlage des großen Wagens eingeschlafen. Der laufende Motor erzeugte ein gleichmäßiges Brummen, das diverse Schreie und Rufe aus dem nahen Mangrovenwald übertönte und einschläfernd auf die beiden Männer wirkte. Berger hatte die Klimaanlage auf Umluft eingestellt, um zu vermeiden, dass die Abgase angesaugt wurden und sie sich im Schlaf eine ungesunde Kohlenmonoxidvergiftung einhandelten. Er hatte keine Lust, im Schlaf zu sterben, das war so gar nicht seine Art. Die Sitze des Jeeps waren breit und bequem, ließen sich weit nach hinten umlegen und gaben ein passables Bett ab. Als die Klimaanlage dann vier Stunden lang gekühlt hatte, stellte Berger den Motor ab, drehte sich wieder um und schlief tief und fest bis zum Morgengrauen.

Als die ersten Sonnenstrahlen auf das Auto fielen, war die Temperatur im Inneren bereits wieder unangenehm angestiegen. Berger schlug die Augen auf, spürte einen leichten Schmerz in seinem Genick und setzte sich auf. Er drehte seinen Hals in beide Richtungen, hörte es knacken und gähnte. Mit den Fingern fuhr er sich durch sein Haar und bändigte es. Schließlich öffnete er die Tür und trat hinaus auf den schon wieder oder immer noch sehr warmen Beton des Besucherparkplatzes. Er streckte sich knackend und sog die warme, feuchte Luft in seine Lungen, atmete tief wieder aus. Sein Blick ging über die ruhige Florida Bay, dann hinüber zur Ranger Station, in der sich nicht das Geringste rührte. Aus dem Mangrovenwald in seinem Rücken drangen mannigfaltige Geräusche, verursacht von hunderten verschiedenen Tieren, die ebenfalls den Morgen genossen. Berger wollte gar nicht genau wissen, was hier alles herumkroch, er liebte den Dschungel nicht besonders. Dafür hatte er in Feuchtwäldern wie diesen schon zu viel Schlimmes erlebt. Er streckte sich nochmal und wischte sich den Schlaf aus den Augen, sah in den Jeep, wo der Chief nach wie vor tief und fest schlief. Berger wunderte sich selber, dass er durch das dröhnende Schnarchen des älteren Mannes nicht ständig aufgewacht war. Doch an unmöglichen Orten und unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen zu schlafen, war auch etwas, was Berger im Laufe seines Lebens hatte lernen müssen.

Er ging über den Besucherparkplatz hinüber zur Ranger Station, weil er dort eine Dusche oder zumindest einen Waschraum zu finden hoffte. Berger war noch keine zwanzig Meter weit gekommen, als er leise ein Geräusch vernahm, dass so gar nicht zur Kakophonie des Dschungels passte. Er blieb stehen und lauschte, drehte seinen Kopf in alle Richtungen, um die Herkunft des Geräusches zu ermitteln. Es wurde lauter, langsam, aber stetig, nahm die Intensität des Geräusches zu. Es klang wie ein Motorrad, dachte Berger, aber irgendwie auch wieder anders.

Nach einer Minute war er sich beinahe sicher, dass das Geräusch nicht von der Bucht her zu ihm drang, sondern vom Landesinneren. Er ging an der Ranger Station vorbei, in nördlicher Richtung auf den kleinen Süßwasserhafen zu, in dem einige Boote im dunklen Wasser dümpelten. Nun war er sich sicher, dass das Geräusch von einem Boot stammte, das den Buttonwoodkanal entlang auf Flamingo zusteuerte. Diese Wasserstraße, links und rechts eingefasst von dichtem Mangrovenwald, führte von Flamingo nach Norden zur Coot Bay, einem flachen See inmitten der dichten Wälder. Von dort aus konnte man über weitere Kanäle und Flüsse tief in die Everglades vordringen, sich ohne ortskundigen Führer hoffnungslos verirren und in den Irrgärten des Sumpfes langsam zugrunde gehen. Berger, der dies nicht vorhatte, beschleunigte seine Schritte zu einem leichten Joggen und kam in dem Moment am Kanal an, als ein breites, flach liegendes Holzboot, angetrieben von einem riesigen Propeller am Heck, heranrauschte. Es dauerte keine zehn Sekunden, da hatte Stefan Berger seinen alten Freund Kyle Kovac erkannt.

Der riesige Propeller am Heck drehte sich kaum mehr, als das Boot an den hölzernen Steg glitt und festgemacht wurde. Der Bootsführer hatte Berger zwar gesehen, aber offenbar nicht erkannt, da dieser die aufgehende Sonne in seinem Rücken hatte und wohl nur eine dunkle Gestalt darstellte. Berger sah, wie ihn Kovac aufmerksam musterte, als er sich dem Boot näherte. Unwillkürlich musste Berger grinsen. Manche Dinge änderten sich nie, so auch nicht die Tatsache, dass es fast unmöglich war, sich einem ehemaligen Mitglied einer Spezialeinheit unentdeckt zu nähern. Bergers Blick glitt auf das Boot und er erkannte, dass dort offensichtlich mehrere derselben Schlangen lagen, wie er sie am Abend auf dem Seziertisch des Rastamans gesehen hatte. Und auf dem Boot lagen etwa 5 Exemplare, so wie das Knäuel an toten Leibern aussah, das sich dort auf dem Boden des Rumpfes, gesichert unter einem Netz, befand.

„Die Beute von heute Nacht?“, fragte Berger und deutete auf die toten Schlangen. Er war näher an das Boot herangetreten und die Sonne befand sich nun nicht mehr in seinem Rücken, sondern schien ihm seitlich ins Gesicht. Kyle Kovac richtete sich zu seiner vollen Größe von einsachtundneunzig auf und starrte Berger aus zusammengekniffen Augen an. Schließlich stahl sich ein Lächeln auf sein bärtiges Gesicht.

„Scheiße“, sagte er, griff nach einem der hölzernen Pfosten am Rande des Stegs und zog sich locker nach oben, raus aus dem Boot. Er stand nun direkt vor Berger und überragte ihn um fast einen Kopf.

„Stevie Crowe, was in aller Welt führt dich hierher an den beschissenen Arsch der Welt?“, fragte er ungläubig.

„Nun, ich dachte mir, einen Arsch wie dich kann man nur am Arsch der Welt finden, oder?“, gab Berger zurück. Der andere Mann lachte, dann umarmten sich die beiden Kriegskameraden und der größere klopfte dem kleineren kräftig auf Schultern und Rücken. Berger, dem durch den Hieb fast die Luft wegblieb, löste sich aus der Umarmung, wich dem nächsten Klopfer gekonnt aus und deutete stattdessen einen blitzschnellen Haken in die Nierengegend an. Er bremste seine Faust wenige Zentimeter vor dem Bauch seines Freundes und ließ sie nur angedeutet auf die immer noch stahlharten Muskeln des Ex-Seals klatschen. Gerade stark genug, dass dieser die Geste verstand.

Berger stellte erleichtert fest, dass sich sein alter Freund kaum verändert hatte. Kovac, ein halbes Jahr jünger als Berger, Sohn einer schwarzen Kellnerin aus Chicago und einem polnischen Einwanderer aus New York, war immer noch der Bär von Mann, den er in Erinnerung hatte. Er war groß, knapp zwei Meter, und seit Neuestem trug er sogar so etwas wie eine Frisur, nachdem er bei der Navy immer kahlrasiert herum gegeistert war. Auch ein dicker, buschiger Bart, genauso schwarz wie sein struppiges Haupthaar, wucherte unter der leicht gekrümmten Nase, die ihr Aussehen mehreren Kneipenschlägereien verdankte. Wie er nun so vor ihm stand, mit der camouflagefarbenen Bermudashort und dem engen, schwarzen Shirt, dazu barfuß, sah er aus wie einer der Surfweltmeister, die man auf Sky Sports bei ihrem Treiben vor Hawaii beobachten konnte. Oder aber er sah aus wie ein Schlangenjäger in Florida, was nun offenbar sein Job war.

„Wie geht’s dir, alter Knabe?“, lachte Kovac und umarmte Berger erneut.

„Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen“, fuhr er fort, nachdem er ihn wieder losgelassen hatte.

„Was führt dich zu mir? Sag schon.“

Berger freute sich wirklich, seinen alten Freund erstens überhaupt und zweitens in einer offenbar ausgezeichneten Verfassung wiedergefunden zu haben. Die Muskelpakete auf Kovacs Oberarmen und Schultern waren auch neu, dachte er. Kovac musste wohl Zeit zum Trainieren haben, nur vom Schlangenfangen legte man nicht so zu.

„Gut siehst du aus, Kyle“, sagte er und meinte es auch so. Kovac grinste und legte seinen Arm auf Bergers Schulter.

„Frühstück?“, fragte er grinsend.

„Kaffee?“

„Oh Mann, das wäre großartig“, antwortete Berger, dessen Magen knurrte.


Eineinhalb Stunden später saßen die drei ehemaligen Soldaten auf dem Holzsteg bei Kovacs Boot. Die Schlangen hatte der Rastaman Jules mittlerweile abgeholt und war wohl gerade damit beschäftigt, sie aufzuschlitzen. Nachdem Berger Kovac mit Chief Williams bekanntgemacht hatte, genossen die drei ein sehr einfaches, aber ausgezeichnetes Frühstück. Kovac lud sie in seinen Caravan ein, ein riesiges Aluminiummonster, das im hintersten Winkel des Campingplatzes geparkt stand. Unter einem ausufernden Vorzelt tischte er Eier, Speck, Orangensaft und literweise Kaffee auf. Während des Frühstücks lernten sich Kovac und Williams besser kennen und Berger glaubte zu bemerken, dass sich die beiden sympathisch waren. Schließlich enthüllten sie dem ehemaligen Lieutenant Commander der Seals, warum sie ihn aufgesucht hatten, und Chief Williams berichtete in Kurzform, was mit der USS Stockdale und seiner Tochter mutmaßlich geschehen war. Kovac war ab diesem Zeitpunkt immer ruhiger und nachdenklicher geworden, seine Gedanken schienen sich bereits mit einem möglichen Einsatz zu befassen. Berger kannte diesen Gesichtsausdruck seines alten Freundes.

Damals im Iran, als die Delta Force gemeinsame Einsätze mit den Seals durchgeführt hatte, ein absolutes Novum in der Militärgeschichte der Vereinigten Staaten, aber ein sehr erfolgreiches Einsatzmodell allemal, damals hatte der ansonsten so lustige und lebensfrohe Kovac auch immer wie auf Knopfdruck zwischen Freizeit und Einsatz umschalten können. Aus dem extrovertierten Haudrauf war ein ruhiger und besonnener Einsatzoffizier geworden. Und das manchmal innerhalb weniger Minuten. Berger wusste nicht, wie oft diese Fähigkeit zur absoluten Fokussierung ihnen allen schon das Leben gerettet hatte.

„Wir müssen uns da unten umsehen und das Wrack finden“, sagte der Ex-Seal und starrte gedankenverloren auf die Florida Bay hinaus. Eine einsame, weiße Yacht glitt durch die ruhige See, Möwen umkreisten das kleine Schiff.

„Das heißt, du machst mit?“, fragte Berger.

„Das hast du doch gehört, Sohn“, brummte Chief Williams und klopfte dem großen, schwarzen Mann dankend auf die Schulter.

„Danke, Kyle“, sagte er nur, dann war’s mit der Sentimentalität auch schon wieder vorbei.

„Wenn ich ehrlich bin, Mann“, grinste Kovac, „dann kann ich diese gestreiften Mistviecher nicht mehr sehen.“

Berger lächelte und dachte an die toten Schlangen, um die sich Jules gerade kümmerte.

„Wird Zeit, dass ich wieder mal was Ernstzunehmendes unternehme, oder?“, feixte der ehemalige Lieutenant Commander.

„Wann brechen wir also auf?“


















Todesfalle

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