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3. Kapitel

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Insel Daqin Dao

Golf von Bohai, Chinesisches Kaiserreich

29. April 1934


Die Insel war eine von mehreren einer kleinen Gruppe, situiert unmittelbar an der Engstelle, die den Golf von Bohai vom Gelben Meer trennte. Sie war nicht die größte der Inseln, auch nicht die schönste. Eigentlich ein massiver Felsblock, der sich im Zentrum fast zweihundert Meter über dem ruhigen Meer auftürmte, war sie wenigstens gesäumt von einigermaßen ansehnlichen Sandstränden.

Doch diese Insel war keine Urlaubsinsel für Naturliebhaber oder Angelausflügler, weshalb, anstatt von Palmen oder Kiosken für Fischereibedarf, am Strand Wächter der Kaiserlichen Garde zu finden waren, wenn man sie in ihrer Tarnuniform überhaupt zu entdecken vermochte. Die Soldaten versteckten sich im Unterholz des Dickichts am Rande des Strandes, patrouillierten in Zweiergruppen die schäumende Brandung entlang oder beobachteten aus getarnten Wachtürmen mit starken Feldstechern das nahe Meer bis zum Horizont. Die Wachhunde, die manche von ihnen an kurzen Leinen mitführten, bellten nur im Notfall und gaben ansonsten keinen Ton von sich. Die einzige Anlegestelle der Insel war ein langer Holzkai, der fast zweihundertfünfzig Meter weit ins Meer hinaus reichte, um dort auch tiefer liegenden Schiffen das Anlegen zu ermöglichen.

Zwei symmetrisch angeordnete Wachtürme mit Granatwerfern und MG-Nestern beleuchteten bereits bei beginnender Dämmerung mit Dutzenden starken Scheinwerfern die Landungszone und überwachten alles und jeden, der hier festmachte. Weiter draußen, stets in gegenseitigem Sicht- und Funkkontakt mit den Wachtürmen und den Patrouillen, umkreisten mehrere graue Schnellboote der Kaiserlichen Marine die Insel, stets wachsam und lauernd. Das leise Tuckern ihrer Dieselmotoren war noch am Strand zu hören.

Noch weiter draußen waren weitaus stärkere Diesel am Werk, als sich das Schlachtschiff Konowalow, flankiert von ortskundigen Wachbooten der Kaiserlichen Marine, langsam durch die schwache Dünung auf den vorgesehenen Ankerplatz zubewegte. Die Konowalow, ein fünfunddreißigtausend Tonnen schweres Schlachtschiff aus neuester sowjetischer Produktion, hatte ihre schweren Geschütze sorgsam unter Schutzhauben verborgen, als sie mit angetretener Ehrenformation im warmen Licht des Sonnenuntergangs ihren Liegeplatz erreichte. Die schweren Ankerketten lösten sich und schossen ratternd ins dunkelblaue Wasser, um bereits nach knappen vierzig Metern zum Stillstand zu kommen. Für einen Stahlkoloss wie die Konowalow waren die seichten Gewässer des Gelben Meeres stets mit Vorsicht zu genießen, wenn man nicht als Havarie auf einer der zahlreichen Sandbänke enden wollte. Der kleine Anlegesteg der Insel war für das riesige Schlachtschiff daher völlig ungeeignet.

In einigem Abstand zur Konowalow, vielleicht zweieinhalb Seemeilen westlich und nördlich, kreuzten die Ban Chao, eines der alten, schweren Schlachtschiffe, sowie der moderne Kreuzer Zhanshan. Die Kanonen dieser beiden schweren Einheiten der Kaiserlichen Marine waren im Gegensatz zur Konowalow nicht in Ruhestellung arretiert, sondern bemannt und einsatzbereit. So ganz ohne Aufsicht wollte man ein Schiff der Größe und Kampfkraft einer Konowalow nun doch nicht bis kurz vor die Haustür der chinesischen Hauptstadt dampfen lassen. Vorsicht war besser als Nachsicht und außerdem hielten sich die beiden Schiffe dezent im Hintergrund.

Kapitän Oleg Sidorow befahl das Aussetzen des Beiboots und übergab seinem Ersten Offizier das Kommando. Ein letzter Blick galt der riesigen Ban Chao, die er verschwommen durch das Panzerglas der Brücke erkennen konnte, dann verließ er den Kommandostand. Anschließend überzeugte er sich, dass seine Uniform makellos sauber war und auch gut saß. Schließlich begab er sich zur Admiralskajüte, um seinen Reisegast abzuholen. Er straffte sich und klopfte an das Stahlschott.

„Genosse Nikitin, wir liegen vor Anker und sind bereit, an Land zu gehen.“ Es dauerte einige Augenblicke, im Inneren der geräumigen Kajüte war nichts zu hören, sodass Kapitän Sidorow ein weiteres Mal anklopfte.

„Genosse Oberst?“, fragte er einen Augenblick, bevor sich das Schott schwungvoll öffnete. Im Rahmen der wasserdichten Tür stand ein großer Mann mit hellem, kurzgeschorenem Haar.

„Kapitän, ich bin soweit“, sagte Wanja Nikitin mit leichtem Lächeln, ältester Sohn von Dimitrij Nikitin, des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der Kapitän nickte und verbeugte sich.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Genosse Oberst.“ Die beiden Männer folgten den schmalen Gängen, kletterten zwei Decks höher und traten schließlich an Backbord mittschiffs ins Freie. Dort, im letzten Licht der untergehenden Sonne, war beinahe die gesamte Besatzung angetreten. Nikitin hörte einen dieser patriotischen Märsche blechern aus den Lautsprechern des Schiffes plärren, eines jener Lieder, die momentan in Moskau so beliebt waren. Er nickte den salutierenden Offizieren zu, als er an ihnen vorbeischritt und sich der Reling näherte.

Es war immer wieder interessant, fand er, wie alle Welt sich bemühte, ihm zu Diensten zu sein und ihm zu gefallen. Ihm, dessen einzige Leistung bis dato darin bestanden hatte, Sohn des mächtigsten Mannes der Sowjetunion zu sein. Als Oberst der Infanterie hatte er noch an keinerlei Kampfhandlungen teilgenommen. Beim letzten Krieg gegen das britische Imperium war er noch ein grüner Junge mit Aknepickeln gewesen, der nichts von der Welt verstand. Doch das würde sich bald ändern, hoffte er. Bald würde auch er zeigen können, was in ihm steckte.

Er war aufgeregt, als er ins Beiboot kletterte und die kleine Insel betrachtete, hinter deren Silhouette die rot glühende Sonne langsam im Meer versank. Er war gespannt auf das, was ihn dort erwartete, und er freute sich darauf, seinen alten Freund wiederzusehen. Kapitän Sidorow befahl, die Leinen loszumachen, woraufhin der kleine Diesel des Beiboots zum Leben erwachte. Die Schrauben wühlten die See auf, das Heck des Bootes senkte sich tiefer, als es sich rasch beschleunigend der Insel auf westlichem Kurs näherte. Wanja Nikitin genoss das Aufstäuben der Gischt, die sein Gesicht benetzte und erfrischte. Er sog die frische Seeluft tief in seine Lungen und schloss zufrieden die Augen. Als er sie wieder öffnete, konnte er bereits den langen Landungssteg erkennen. Wenige Minuten später erkannte er auch seinen Freund, der bereits auf ihn wartete.

Das Beiboot hatte am Holzkai festgemacht und die beiden Passagiere gingen von Bord. Wanja Nikitin sprang elegant vom schaukelnden Deck des kleinen Bootes auf die verwitterten Planken des Kais, Kapitän Sidorow folgte ihm etwas behäbiger. Es waren nur wenige Personen erschienen, da es kein offizieller Staatsempfang war. Ganz im Gegenteil: Es sollte alles so unaufgeregt und entspannt wie möglich ablaufen.

„Wanja!“ Kaiser Zhang Akuma kam mit offenen Armen und breitem Lächeln auf die beiden Russen zu. Er trug einen beigen Anzug mit weißem Hemd. Die obersten beiden Knöpfe des ungestärkten Hemdes standen offen und zeigten den Ansatz seiner haarlosen, muskulösen Brust. Der nun stärker aufkommende Ostwind hatte ihm vereinzelte Strähnen seines pechschwarzen Haares vor die Augen geweht. Sonst war nur ein kleiner Mann in schwarzem Anzug zu sehen, sowie zwei Soldaten der Kaiserlichen Garde.

„Schön, dich zu sehen“, strahlte der Kaiser. Die beiden Männer umarmten sich kurz, dann sahen sie einander einen Augenblick lang musternd an. Akuma klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und stellte zufrieden fest, dass sich sein alter Studienkollege nur sehr wenig verändert hatte.

„Kaiserliche Hoheit“, gab Wanja unterwürfig von sich und neigte seinen Oberkörper zur protokollgemäßen Verbeugung. Als er zum Kaiser aufblickte, grinste er aber.

„Ach, lass den Blödsinn!“, lachte Akuma und richtete seinen Freund wieder auf.

„Wir sind Freunde, du brauchst dich nicht vor mir zu erniedrigen.“ Für alle anderen Anwesenden galt dies jedoch nicht, weshalb Zhang Akuma den stocksteif dastehenden Kapitän Sidorow nun mit einem erheblich kühleren Blick registrierte. Nikitin bemerkte die Blicke seines Freundes und machte sich daher daran, seinen Begleiter vorzustellen.

„Akuma, darf ich dir Kapitän Oleg Sidorow vorstellen?“ Der Kapitän brachte es fertig, noch steifer zu werden, bevor er sich ordentlich verbeugte.

„Kaiserliche Hoheit, es ist mir eine außerordentliche Ehre!“, bellte er förmlich. Dann merkte er, dass er viel zu laut gewesen war, und man konnte spüren, wie unangenehm ihm die Situation war. Kaiser Zhang Akuma nickte dem Kapitän freundlich zu und verbeugte sich leicht.

„Kapitän Sidorow, die Ehre ist ganz meinerseits“, sagte er förmlich.

„Ich werde hoffentlich ein paar Worte mit Ihnen über Ihr Vorgehen bei den Aleuten wechseln können. Wie es mir scheint, haben Sie mit dem Versenken der Warbird ganz entscheidend zum Sieg in dieser Schlacht beigetragen.“ Kapitän Sidorow lächelte glücklich, ganz überrascht von den Worten des Chinesischen Kaisers. Der junge Leutnant Sidorow hatte zu Beginn der Kampfhandlungen im Nordpazifik einen britischen Zerstörer versenken können, worauf er natürlich sehr stolz war. Doch dann hatte sich das Blatt schnell gewendet und am Ende war es ihm nicht vergönnt gewesen, sein Schiff zurück in den heimatlichen Hafen von Wladiwostok zu führen. Eine britische Fregatte hatte ihn und eine Handvoll Überlebende aus den kalten Gewässern der Beringsee gefischt. Darauf war er verständlicherweise überhaupt nicht stolz.

„Natürlich, Kaiserliche Hoheit, es wäre mir eine besondere Ehre und Freude, Euch meine Erfahrungen und Eindrücke mitzuteilen. Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung.“

Der gute Sidorow, dachte Wanja. Ein wirklich guter Offizier und Stratege in der Schlacht, aber so leicht zu durchschauen wie eine Glaspuppe, wenn man ihm gegenüberstand.

Kaiser Zhang wandte sich wieder an Nikitin.

„Wollen wir?“, fragte er freundlich lächelnd und deutete den langen Kai entlang.

„Mein Chauffeur wartet bereits.“

Am Ende des Kais stand ein dunkelgrauer Wagen mit großen, tief profilierten Reifen. Ein Mann in schwarzer Uniform verbeugte sich, als er ihnen die Tür aufhielt. Die Männer kletterten in den Wagen und ließen sich in die weich gepolsterten Sitze fallen. Wanja Nikitin stellte beeindruckt fest, dass das Innere des Wagens dem unscheinbaren Äußeren um Meilen voraus war. Er registrierte edles, helles Leder auf den Sitzbänken und den Verkleidungen der Türen. Das Armaturenbrett sowie Großteile der übrigen Verkleidungen waren aus einem Wanja nicht bekannten, tropischen Holz gearbeitet und die Griffe der Türen glänzten golden. Kaiser Zhang Akuma nahm die überraschten Blicke seiner beiden Gäste wohlwollend zur Kenntnis.

„Das ist ein Lin Tong“, erklärte er zufrieden.

„Die Firma stellt Panzer und Geschütze her, verfügt aber auch über die erstaunliche Fähigkeit, so etwas wie dies hier zu bauen.“

Mit einer Geste seiner rechten Hand deutete der Kaiser auf den herrschaftlichen Innenraum des von außen so robust wirkenden Fahrzeuges. Dann nickte er seinem Fahrer zu.

„Und das“, sagte er, worauf der riesige Motor des Fahrzeuges auf einen Knopfdruck des Chauffeurs hin brüllend ansprang, „das ist modernste chinesische Ingenieurskunst! Ich habe mir erlaubt, einige der Ideen, die wir beide an der Universität diskutiert haben, in die Praxis umzusetzen.“

Zufrieden über die erstaunten Blicke seiner Gäste lehnte er sich zurück.

„Halten Sie sich fest, Kapitän Sidorow, es könnte ein wenig holprig werden“, lächelte Zhang Akuma, dann fuhren sie los.

Der schwere Wagen bahnte sich seinen Weg mühelos durch den weichen Sand des Strandes und erreichte festen, felsigen Boden. Die Straße, die vom Kai wegführte, war nur grob in den massiven Fels der Insel gesprengt worden. Für eine genauere Planie war noch keine Zeit gewesen, da die Insel erst kürzlich für ihren neuen Zweck requiriert worden war. Der Motor brummte tief und gleichmäßig, als der Fahrer die Geschwindigkeit etwas erhöhte. Im dämmrigen Restlicht der untergehenden Sonne erkannte man Buschwerk und niedrige Bäume am Straßenrand, unterbrochen durch kahle Stellen aus Felsbrocken und Geröll, Überschussmaterial, das vom Straßenbau stammte und ebenfalls noch nicht abtransportiert worden war. In regelmäßigen Abständen waren Laternen errichtet worden, welche jedoch noch nicht an das Stromnetz der Insel angeschlossen waren und deshalb dunkel blieben.

Der Wagen passierte einen Schranken, der von einem Wachhäuschen gesichert wurde. Die Posten trugen die Felduniform der Armee, die Gesichter unter den schweren Stahlhelmen waren geschwärzt. Der Kommandant der Sperre war jedoch wieder ein Mann der Kaiserlichen Garde, wie man an den Abzeichen seiner Uniform und dem roten Barrett erkennen konnte. Alle drei Soldaten salutierten, als das Geländefahrzeug an ihnen vorbeifuhr. Es folgte nun ein Abschnitt der Straße, der breiter und besser eingeebnet war. Die Vegetation zog sich zurück und machte einem flachen Feld Platz, welches mit mehreren Baracken und sonstigen Gebäuden bebaut war. Zehn Meter hohe Masten erleuchteten das Feld und man konnte erkennen, dass an den meisten Gebäuden noch gebaut wurde. Außerdem sah man, dass mit der Errichtung eines Metallzaunes begonnen worden war.

„Hier werden wir eine Infanteriebrigade stationieren“, erklärte Zhang Akuma seinen Gästen.

„Die Bauarbeiten sind recht gut im Zeitplan“, ergänzte er, dann hatten sie die Baustelle passiert.

„Wird das hier ein regulärer, zusätzlicher Stützpunkt deiner Streitkräfte?“, wollte Wanja Nikitin wissen. Immerhin, dachte er, eine ganze Brigade auf so einer kleinen Insel…

„Nur Wachpersonal“, antwortete Akuma.

„Es kommen stürmische Zeiten auf uns zu und da will ich diese besondere Insel einfach nur ausreichend gesichert wissen“, ergänzte er geheimnisvoll, ließ das Thema dann aber bleiben. Nikitin und Sidorow nahmen‘s nickend zur Kenntnis. Nun begann die Straße, sich langsam die Abhänge des zentral gelegenen Hügels hochzuwinden. Der Fahrer schaltete einen oder zwei Gänge zurück und verringerte die Geschwindigkeit.

„Mein Vater hatte vor, diese Insel zu einem Rückzugsort auszubauen, wenn ihn die Amtsgeschäfte im Kaiserpalast ermüdeten“, erklärte Akuma weiter.

„Durch seine…“, er stockte, schien nach dem richtigen Wort zu suchen, dann fuhr er fort.

„Durch seine Krankheit hatte er jedoch keine Möglichkeit mehr, sich vom Fortschritt der Arbeiten persönlich zu überzeugen.“

Wanja Nikitin glaubte einen Ausdruck aufrichtigen Bedauerns in den Augen des Kaisers, seines Freundes, zu entdecken.

„Es tut mir sehr leid, was mit deinem Vater passiert ist, Akuma“, sagte er.

„Wie ich dir schon telegrafiert habe, hat der Tod des Kaisers uns alle tief getroffen. Mein Vater bat mich, dir seine tiefste Anteilnahme und sein ausdrücklichstes Bedauern über deinen Verlust auszudrücken.“

„Ich danke dir und deinem Vater“, erwiderte Akuma. Wanja indes sprach weiter.

„Er war ein unglaublich großartiger Mann. Damals in Moskau, als ich ihn kennenlernen durfte, habe ich gespürt, über welche Kraft und Ausstrahlung er verfügte. Er war ein wahrer Führer.“

„Ja, das war er“, stimmte Akuma zu.

„Und trotzdem hat niemand seinen Tod zu verhindern vermocht“, schloss er bitter.

„Du hast die Verschwörung aufgedeckt und die Verbrecher gerichtet, Akuma“, munterte Wanja seinen alten Freund auf.

„Du hast deinem Vater Ehre bereitet.“

Kaiser Zhang Akuma blickte in die Augen seines Freundes, lächelte dankbar und wandte sich schließlich ab, um aus dem Fenster zu blicken. Das allerletzte Licht des Tages glitzerte golden auf der leichten Dünung des Golfs, weit draußen konnte man schwach die Umrisse der Konowalow erkennen, als sich das Fahrzeug immer weiter den Berg hinauf quälte. Ja, das habe ich, dachte der junge Kaiser. Mein Vater wäre bestimmt stolz auf mich, er hätte es selber kaum besser machen können.

Er spürte, wie die Straße wieder eben wurde, dann erschien eine weitere Straßensperre mit Soldaten. Der Wagen wurde durchgewunken und hielt schließlich auf einem Vorplatz aus feinem, weißem Kies. Der Motor erstarb und ein Bediensteter erschien sofort, um die Tür zu öffnen. Der Kaiser deutete nach draußen.

„Nach Ihnen, meine Herren.“ Dann, als die drei Männer ausgestiegen waren und die Blicke der beiden Sowjets auf dem Gebäude verharrten, welches am höchsten Punkt der Insel stand, lächelte Akuma.

„Willkommen auf Pang De!“

Bei dem Gebäude handelte es sich um einen alten Tempel, welcher ursprünglich von den wenigen Bewohnern der Insel errichtet worden war. Später, als die Insel vom seligen Kaiser entdeckt und er die Einheimischen enteignet hatte, führte man das traditionelle Gebäude einem neuen, herrschaftlicheren Zweck zu. Der alte Kaiser hatte umfangreiche Umbauten und Erweiterungen befohlen, sodass vom eigentlichen kleinen Holztempel fast nichts mehr übrig geblieben war. Nun zierte, wenn man es so nennen wollte, ein riesiger rechteckiger Holzbau, drei Stockwerke hoch und mit hohen Türmen an den vier Ecken, die höchste Stelle der Insel. Das Holz war weinrot und dunkelgrün gestrichen worden, die Dächer hatte man altmodisch kunstvoll mit geschnitzten Holzdrachen und Tigerköpfen verziert. Eingedeckt waren die Dächer mit Tonziegeln aus einer örtlichen Fabrikation des nahen Festlandes. An drei der vier Türme waren Fahnenmasten angebracht und heute, zur Feier des Tages, war neben der Kaiserlichen Flagge und dem Familienwappen der Zhangs auch die rote Flagge der Sowjetunion gehisst worden. Hammer und Sichel grüßten den Sohn des Parteisekretärs, der dies wohlwollend zur Kenntnis nahm. Durch ein breites metallenes Tor, welches nun für die Gäste des neuen Kaisers geöffnet wurde, gelangte man hinter die zweieinhalb Meter hohe Steinmauer, die das Gebäude allseitig umschloss. Die Krone der Steinmauer war mit drei Reihen Stacheldraht gespickt. Jeweils an den Ecken des sechseckigen Mauerrings waren Wachtürme postiert, die allerdings noch nicht fertiggestellt waren, wie man an den Bambusgerüsten und den davor aufgestapelten Steinhaufen unschwer erkennen konnte. Der Rasen, den man zwischen der Steinmauer und dem Gebäude angelegt hatte, war fleckig und teilweise kahl. Buschwerk oder andere Zierpflanzen suchte man vergeblich. Die Besatzungen der Türme sollten schließlich freie Sicht auf alles haben, was sich hier innerhalb der Mauern bewegte.

Durch die zahlreichen schmalen Fenster drang gedämpftes, warmes Licht in die zunehmende Dunkelheit. Eiserne, kunstvoll geschmiedete Gitter waren vor den Fenstern ins Holz eingelassen, sodass nur eine Maus vielleicht unerkannt ins Innere vordringen konnte. Aus glatten, breiten Granitstufen gebaut, führte eine Treppe vom Eisentor empor zur zweiflügeligen Eingangstür, die beidseitig von je einer Wache der Kaiserlichen Garde gesichert wurde. Die Soldaten nahmen Haltung an und senkten den Blick, als Kaiser Zhang Akuma und seine Gäste an ihnen vorüber schritten und im Inneren des Gebäudes verschwanden. Drinnen wurden sie vom Personal erwartet, das ordentlich aufgereiht aufmarschiert war. Zhang Akuma genoss die beeindruckten Blicke seiner Gäste, die nicht wussten, welche Sinnesreizung sie zuerst ins Auge fassen sollten. Ein riesiger Kristallleuchter thronte majestätisch in der Mitte der hohen Empfangshalle und spendete warmes, helles Licht aus Dutzenden Lampen. Zusätzliche Leuchten, golden und aus Kristallen gefertigt, erhellten die kunstvoll gearbeiteten Wandverkleidungen. Wanja Nikitin und Kapitän Sidorow sahen geölten Bambus, schweren Brokat und feinste Seide, rot und golden, silbern und durchsichtig mit Applikationen aus Goldfaden. Sie hörten das Klimpern des Kristalllusters und das Plätschern des steinernen Brunnens, der direkt unterhalb des Lusters im Zentrum des Raums situiert war. Eine drei Meter hohe Fontäne spielte mit Lichteffekten, die offensichtlich unter Wasser ihren Ursprung hatten. Der Boden war mit feinstem weißen Marmor belegt und auf Hochglanz poliert worden. Rote und beige Läufer aus schwerem Garn führten quer durch den Raum auf die breite Holztreppe zu, auf der man nach oben auf die Galerie gelangte. Große Porzellanvasen standen in den Ecken und neben der Stiege, gefüllt und geschmückt mit weißen Lilien und Pfingstrosen in prachtvollem Purpur. Üppige Gestecke aus Chrysanthemen trugen ihren Teil zum Dufterlebnis bei, das den Raum erfüllte.

Der Kaiser blieb schließlich vor dem Brunnen stehen und wandte sich an einen älteren Diener, bei dem es sich um den Verwalter des Anwesens handelte. Der Mann verbeugte sich tief und nahm die Anordnungen Akumas nickend entgegen.

„Shikai, bring unsere Gäste auf ihre Zimmer und lass das Gepäck nachkommen. Anschließend lass das Essen auftragen.“

Der Mann nickte mehrmals und verbeugte sich noch tiefer, um sich dann rückwärts gehend zu entfernen.

„Herr Kapitän, lieber Wanja“, sagte Akuma zu seinen Gästen, „ich schlage vor, dass wir uns in einer halben Stunde im kleinen Saal zum Abendessen treffen. Bis dahin entschuldigt mich bitte, ich habe noch einige Anrufe zu tätigen.“

Der Kaiser nickte seinen Gästen zu, verbeugte sich höflich und begab sich nach oben, um schließlich in einem der vielen Zimmer zu verschwinden.

„Wenn die gnädigen Herren mir bitte folgen würden“, schnurrte der Verwalter Shikai.

„Ihre Räume sind für Sie bereit.“

Nun waren es die beiden Russen, die die breite Treppe nach oben schritten, um sich für das Abendessen frisch zu machen.


Etwa zwei Stunden später, nach einem üppigen chinesischen Mahl mit unzähligen schmackhaften Gängen, waren Kaiser Zhang Akuma und sein Studienfreund Wanja Nikitin allein in der Bibliothek des Anwesens. Kapitän Oleg Sidorow hatte sich bereits auf sein Zimmer zurückgezogen, da seine Anwesenheit bei der eher privat gehaltenen Besprechung in der Bibliothek nicht erwünscht war. Der Kapitän war ein getreuer Sozialist und wahrer Gefolgsmann der Partei, doch er musste nicht alles wissen, hatte Nikitin entschieden und ihn deshalb nach dem Nachtisch und dem köstlichen Jasmintee mit einem entschuldigenden Lächeln für den Abend entlassen. Außerdem hatte der Kapitän sie alle bei Tisch mit einigen Anekdoten bestens unterhalten und somit seinen Teil zur Belustigung und Zerstreuung des Kaisers beigetragen. Nun, als er die hohen Holzregale betrachtete, in denen hunderte alte Bücher fein säuberlich aufgereiht auf neugierige Leser warteten, und er an einem Glas Wodka nippte, fragte er sich, was sein alter Freund wohl für wichtige Neuigkeiten präsentieren würde. Die ganze Reise nur für etwas Konversation und Schwelgen in alten Zeiten, das konnte er kaum als einzigen Grund dafür ansehen, dass er sich hierher, auf diese kleine Insel begeben sollte.

„Ich danke dir, mein Freund“, sagte Zhang Akuma, der nun neben Nikitin getreten war und im Gegensatz zu dem Russen kein Glas in der Hand hielt, „dass du den langen Weg auf dich genommen hast und meiner Einladung gefolgt bist.“

„Sehr gerne, Akuma“, lächelte Nikitin.

„Es hat sich alleine wegen des Essens und diesem guten Tropfen hier schon gelohnt.“

Er hob das Glas und prostete seinem Freund zu.

„Doch ich glaube kaum, dass du mich deswegen zu dir gebeten hast“, ergänzte er ernster. Zhang Akuma lächelte geheimnisvoll, als er seinen Freund an dessen Schulter berührte und ihn zur Mitte der Bibliothek führte.

„Komm Wanja, ich möchte dir etwas zeigen.“

Auf dem großen, runden Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, war eine Weltkarte ausgebreitet, die, so glaubte Nikitin zu erkennen, die politischen Grenzen der Nationen und Reiche darstellte, wie sie derzeit ihre Gültigkeit hatten. Er sah in dunklem Rot sein eigenes Land, die Sowjetunion, die sich vom Golf von Alaska in Nordamerika im fernen Osten über das eisige Sibirien bis zu den Stränden der Ostsee im Westen ausdehnte. Er sah die korrekt gezogene Grenzlinie im Südosten, wo die beiden Reiche der Freunde direkt aneinandergrenzten, dann den weiteren Grenzverlauf im Südwesten, wo die sozialistische Union bis an die Grenze zu Persien reichte. Er folgte dem Grenzverlauf, der sich entlang des Kaspischen und des Schwarzen Meeres bis hin zur Demarkationslinie mit Ungarn und, weiter nördlich, bis zum okkupierten Polen erstreckte. Im äußersten Norden hatte sein Land keinen Nachbarn mehr. Das gesamte Nordpolarmeer stand unter der Kontrolle der Sowjets und Ansprüche anderer Nationen, wenn sich denn jemand traute, welche zu stellen, wurden schlicht ignoriert. Auch das Staatsgebiet des Kaiserreiches China, in einem helleren Rot auf der Karte eingetragen, war in seiner Ausdehnung riesenhaft. Nikitin nippte an seinem Wodka, genoss den Geschmack, und betrachtete die Karte genauer. Das Kaiserreich der Mitte erstreckte sich von der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion im Norden über Burma und Kambodscha bis an das Inselreich Indonesien im Süden. Vom Ostchinesischen Meer bis zu den Hängen des Hindukusch im Westen war man Untertan des Chinesischen Kaisers. Einzig Indien, das unter britischer Herrschaft stand, gehörte in diesem Teil der Welt nicht zum Reich der Mitte.

„Was wir hier vor uns haben, ist – wie du sicher längst erkannt hast – eine Karte der Machtverhältnisse, wie wir sie zum heutigen Tage als Status Quo vorliegen haben.“

Kaiser Zhang Akuma hatte einen dünnen Zeigestab aus Bambus zur Hand genommen, mit dem er nun auf die Karte zeigte. Er erklärte in kurzen Worten, was der Russe bereits selber erkannt hatte, und zeigte mit dem Bambusstab mal hierhin und mal dorthin. Dann packte er den Rand der Karte und riss sie schwungvoll vom Tisch.

„Und das“, strahlte er, als eine weitere Weltkarte zum Vorschein kam, „das ist die Welt, wie ich sie mir vorstelle.“

Wanja Nikitin hätte beinahe sein Glas fallen lassen, als er sich diese neue Karte ansah. Sein Blick löste sich mühsam vom Tisch und er beobachtete seinen alten Freund, wie dieser mit starrem Blick auf die von ihm entworfene Karte stierte. Seine Augen glänzten und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Nikitin glaubte, Schweißperlen auf der sonst immer trockenen Stirn des Kaisers zu entdecken, als dieser ihn nun ansah.

„Unsere beiden stolzen Nationen haben in jüngster Vergangenheit schmerzliche Niederlagen gegen denselben Feind einstecken müssen“, knurrte der Kaiser.

„Die verhassten Briten haben unsere beiden Reiche gedemütigt, indem sie unsere stolzen Armeen mit Hinterlist und mit Hilfe ihrer Vasallen besiegten. Gemeinsam jedoch werden wir diese rothaarigen Teufel und ihre feigen Verbündeten vor unseren Panzern hertreiben und sie mit aller Macht zermalmen. Die Schande der Niederlage wird dann vergessen sein und eine neue Ära der Macht und des Friedens wird für unsere starken Nationen beginnen.“

Kaiser Zhang Akumas Blick war eiskalt, als er fortfuhr.

„Darüber, mein Freund“, flüsterte er beinahe, „solltest du mit deinem Vater sprechen, denn das“, er deutete auf die Karte auf dem Tisch, „ist der wahre Grund für deinen Besuch, Wanja.“

Wanja Nikitin schluckte, betrachtete sein leeres Glas und wünschte sich ein volles herbei. Dann blickte er wieder auf die Karte, besah sich die Details diesmal ruhiger und aufmerksamer und stellte fest, dass ihm diese Karte weitaus besser gefiel, als diejenige, die nun zerknittert auf den Holzdielen des Bodens lag. Er konnte das Lächeln nicht verhindern, das sich langsam auf seine Lippen stahl, als er den Kaiser ansah.

„Ich glaube, mein Vater wird sehr interessiert sein“, murmelte er, dann hielt er dem Kaiser sein Glas hin.

„Glaubst du, ich könnte noch so einen bekommen?“ Der Kaiser lächelte, dann lachte er kurz laut auf.

„Selbstverständlich, mein Freund“, grinste er.

„Das und noch viel mehr erwartet dich, wenn wir unsere Kräfte vereinen.“

Es dauerte nicht lange, dann lachte auch Nikitin.


Panzerkreuzer Prinz Eugen

Nordsee

04. Mai 1934

Die Nacht war sternenklar und eiskalt. Böiger Wind frischte auf und schob die kabbelige See von Norden und Osten gegen den Rumpf des schweren Panzerkreuzers. Die Prinz Eugen stampfte leicht und pflügte mit achtzehn Knoten auf nordwestlichem Kurs Richtung Shetland Inseln. Derzeit befand sich das Schiff in etwa auf Höhe der norwegischen Hafenstadt Stavanger, die sich keine hundert Seemeilen querab im Osten befand. Weit im Norden türmten sich schwarze Wolkenbänke über die dunkle See, drohende Vorboten einer nahenden Schlechtwetterfront.

„Maschinenraum, bereit machen für AK!“, befahl Korvettenkapitän Anna Maria Hohenstein. Äußerste Kraft, so der Befehl, würde das alte Schiff bis an die Grenzen belasten.

„L.I.“, fuhr sie mit befehlsgewohnter, ruhiger Stimme fort, sah dabei den Leitenden Ingenieur der Prinz Eugen direkt ins schweißnasse Gesicht, „ich will 23 Knoten haben. Sorgen Sie dafür, dass das Schiff die auch hergibt!“

„Jawohl, Frau Kapitän!“

Der L.I., der mit ölverschmierter Arbeitsuniform vor Hohenstein stand, salutierte und machte sich wieder auf, zurück hinunter in die brütende Hitze des Maschinenraums. Dort würde er die zwölf kohlebefeuerten Wasserkessel bis an ihre Leistungsgrenze treiben, und damit das alte Schiff hoffentlich nicht überfordern. Als er das Schott der Brücke passierte und sich im Laufschritt entfernte, hatte Hohenstein bereits den nächsten Befehl auf ihren vollen, nur leicht geschminkten Lippen.

„Meldung von Ausguck und Horchraum einholen! Ich will wissen, ob wir allein hier draußen sind, oder ob Schiffe in der Nähe stehen.“

Eine Strähne ihres blonden Haares hatte sich aus dem Knoten gelöst, den sie unter der weißen Offiziersmütze verborgen hatte, und war ihr vor die Augen gerutscht. Elegant schob sie die widerspenstige Strähne wieder unter die Mütze zurück und rückte diese zurecht. Im leicht verzerrten Spiegelbild der dunklen Brückenfenster kontrollierte sie unauffällig ihre Uniform. Sie trug einen schwarzen Zweiteiler, bestehend aus einer Damenhose und einem Oberteil mit acht goldenen Knöpfen und einfachen Goldtressen. Die Schneiderei der Admiralität hatte diese Uniform extra für sie entworfen, da man es ihr nicht zumuten wollte, eine Standarduniform der Herren tragen zu müssen. Darunter trug sie eine weiße Bluse mit schwarzer Halsschleife, die Ordensspange auf ihrer linken Brust war noch relativ dünn besetzt. Die schweren, wasserabweisenden Lederstiefel waren überraschend bequem und auch warm, ihr dicker Offizierswollmantel hing griffbereit an einem Haken neben dem Brückenschott. Ölzeug und Sturmhauben für die Brückenbesatzung waren in einem nahen Schrank verstaut.

Man hatte ihr dieses Kommando übertragen und ihr die Aufgabe gestellt, den mittlerweile abgelösten Kommandanten, der sein Dasein seit Neuestem in einer Nervenheilanstalt im Salzkammergut fristete, durch ihre Schiffsführung vergessen zu machen. Die Prinz Eugen war beim letzten gemeinsamen Manöver mit der Kaiserlichen Kriegsmarine in der Ostsee durch äußerst mittelmäßige Leistungen sehr unangenehm aufgefallen. Korvettenkapitän Hohensteins Aufgabe bestand nun darin, herauszufinden, was die Gründe und Ursachen für diese schlechten Leistungen waren. Hohenstein hatte sich vorgenommen, dieses erste ihr allein übertragene Kommando zur vollsten Zufriedenheit der Admiralität in Rijeka auszuführen. Deshalb war sie hier und auf so eine Gelegenheit hatte sie lange gewartet.

Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, dann erhielt sie Meldung. Sowohl die Seeleute, die die Ausgucks auf den hohen Masten des Schiffs besetzten, als auch die Chargen im Bauch des Schiffes, die mit ihren empfindlichen Unterwassermikrophonen ins dunkle Wasser der Nordsee hinaus lauschten, konnten keine anderen Schiffe feststellen. Hohenstein nickte zufrieden, obwohl sie auch wusste, dass die Leistungsfähigkeit der Mikrophone durch die hohe Geschwindigkeit des Schiffes stark beeinträchtigt war.

„Erster Offizier“, befahl sie, „Gefechtsstationen besetzen! Annahme der Übung:“

Sie wartete einen Augenblick, sah in die angespannten Gesichter der vor ihr wartenden Männer, dann ergänzte sie: „Mehrfachangriff auf die Prinz Eugen. Erstens: Ortung eines Unterseebootes, also befehlen Sie die entsprechenden Gegenmaßnahmen. Zweitens: Ausguck meldet Feindflugzeug im Anflug von Achtern und drittens: feindlicher Zerstörer auf Backbord voraus. Peilung noch unklar, Entfernung ebenso unklar. Die genauen Werte bekommen Sie noch von mir.“

Sie sah nervöse Gesichter bei den jüngeren Offizieren und ruhigere Mienen bei den älteren Unteroffizieren.

„Meine Herren, Ausführung!“, befahl Hohenstein lautstark und scheuchte ihre Untergebenen auf. Sie sah auf die silberne Taschenuhr in ihrer Hand, ein Geschenk ihres Vaters zur ersten Fahrt als junger Fähnrich.

21:35 Uhr.

Dann nahm sie auf dem Stuhl des Kommandanten Platz und sah dem hektischen Treiben auf der Brücke aufmerksam zu. Während sie durch das Panzerglas der Brückenfenster ins Freie auf die sich drehenden roten Alarmleuchten blickte, kamen ihr bruchstückhaft Erinnerungsfetzen in den Sinn. Sie sah das freundliche Gesicht ihres Vaters, ihres Förderers und Unterstützers, wie er sie liebevoll anlächelte.

„Steuermann, auf Zickzackkurs gehen. Geschwindigkeit Äußerste Kraft beibehalten. Kursänderung jeweils nach zwei Minuten!“, befahl der IO. Die einzige Möglichkeit, ein getauchtes U-Boot auszumachen, war das Orten von verdächtigen Geräuschen in der Horchstation des Schiffes. Dies war aber bei der Geschwindigkeit, die der Panzerkreuzer jetzt machte, und dem Lärm, den er dabei verursachte, beinahe unmöglich.

Korvettenkapitän Hohenstein sah die Geschützmannschaften in ihren feuerfesten Anzügen und den Helmen, wie sie die beiden vorderen 24er Geschütztürme bemannten, und erinnerte sich daran, wie sie als junge Offiziersanwärterin an der Akademie vor verschlossenen Türen gestanden hatte. Ohne die Intervention ihres Vaters wäre sie nicht einmal aufgenommen worden, ganz egal, wie glänzend ihr Aufnahmetest auch ausgefallen war. Und zu diesem Test hätte man sie beinahe gar nicht antreten lassen. Sie schaute auf die Uhr, notierte sich die Zeit, als sie die 19er und 15er Geschützrohre an den gepanzerten Feuerschlitzen der Kasematten erscheinen sah, und erinnerte sich daran, wie sie mit Auszeichnung promoviert hatte, an das säuerliche Gesicht des Admirals, als dieser ihr zur bestandenen Abschlussprüfung gratulieren hatte müssen. Ihr, der einzigen Frau, die es jemals an die Marineakademie in Rijeka geschafft hatte. Sie sollte aber auch gleichzeitig wieder die letzte sein, der dies gelang. Zumindest, wenn es nach dem altgedienten Admiral ging.

„Vorderes Hauptgeschütz gefechtsklar!“, meldete der Erste Offizier und Hohenstein notierte sich die Zeit.

„19er Geschütze steuerbord und backbord bemannt und gefechtsbereit!“, ging die nächste Meldung bei ihr ein.

„Heckgeschütz ebenfalls bemannt und gefechtsbereit!“, ergänzte der Erste Offizier.

Anna Maria Hohenstein notierte sich die Zeiten und konnte die Blicke des IO spüren, mit denen er sie musterte. Mühlmann, so hieß er, Linienschiffsleutnant Roman Mühlmann war ein mittelmäßiger Offizier, der es trotz seiner 42 Jahre noch nicht zu einem eigenen Kommando gebracht hatte. Diese Kommandierung hier als Erster Offizier auf diesem alten Kahn war das Höchste, was er bisher zustande gebracht hatte. Er ließ sie spüren, was er davon hielt, unter einer Frau zu dienen, zeigte ihr dies mit unverhohlener Abscheu im Ausdruck seiner wässrigen Augen. Ein Mann konnte ruhig unter einer Frau dienen, dachte er manchmal, im Schlafzimmer, wenn die Frau auf dem Mann saß und seine Dienste stöhnend entgegennahm. Doch auf einem Kriegsschiff der Kriegsmarine – undenkbar. Man sollte dieser Frau zeigen, wo ihr Platz in der Gesellschaft war, dachte er manchmal. Er würde sie nur zu gerne züchtigen, dachte er weiter, besonders dann, wenn er ihre langen Beine betrachtete, oder verstohlen einen Blick auf ihre Brüste warf, wenn sich diese unter dem weißen Uniformhemd deutlich abzeichneten. Doch momentan empfand er nur Abscheu für dieses Weibsstück, wie sie so herablassend ihre impertinenten Befehle an ihn richtete und ihn ebenso klar fühlen ließ, was sie von seiner Schiffsführung hielt. Und all dies konnte sie nur tun, weil ihr Herr Papa mittlerweile der verdammte Reichskanzler in der Regierung in Wien war.

Korvettenkapitän Hohenstein besah sich ihre Notizen und sah sich in ihrem anfänglichen Verdacht bestätigt. Hier mangelte es nicht nur an guten Offizieren, dachte sie. Hier fehlte es gröber. Gut, das Schiff war alt und seine Technik längst überholt, aber das hieß nicht, dass man die Zügel schleifen lassen musste. Der Feind schläft nie, hatte ihr Vater ihr stets eingebläut, und Feinde hatte die junge Republik genug.

„Torpedorohre bemannt, geladen und einsatzbereit!“, bellte der IO, „Flakgeschütze bemannt und gefechtsbereit!“, ergänzte er hastig. Trotz der kühlen Temperaturen schwitzte er.

„Entfernung zum gegnerischen Zerstörer 8 Seemeilen. Peilung 0-4-5, Kurs des Ziels 2-4-5!“, rief Hohenstein dem IO zu. Der imaginäre Zerstörer lag nordöstlich ihrer Position und hielt in einem Abfangkurs direkt auf sie zu.

„Geschwindigkeit des Ziels: 22 Knoten“, ergänzte sie. Dann griff sie nach ihrem Feldstecher und hob ihn an ihre Augen.

„Alle Geschütze Feuer frei!“, befahl sie, und blickte in die vom silbernen Mondlicht erhellte Nacht auf jene Stelle, an der sich der erfundene Zerstörer nun befinden sollte. Sie hörte, wie Kurs, Peilung und Geschwindigkeit vom IO an die Artillerieoffiziere der Geschütze weitergegeben wurden. Dann hörte sie das Drehen der schweren Hauptgeschütztürme und der kleineren 19er Rohre. Unbemerkt von den anderen Anwesenden stopfte sie sich etwas Watte in die Ohren, dann wartete sie auf die ersten Salven. Mal sehen, dachte sie, wie es mit der Streuung der Geschütze aussieht. Es dauerte, dann dauerte es nochmal und dann war es schließlich so weit. Das Hauptgeschütz feuerte als Erstes. Ein dumpfes Krachen durchfuhr die Nacht, ein Dröhnen, das das große Schiff erzittern ließ, gleichzeitig loderte ein gleißender Feuerstrahl, der die Rohrmündung verließ und die 24cm-Granate ausspie, über das dunkle Wasser. Nur Sekunden später folgte das kleinere 19cm Geschütz und schließlich entfaltete sich die gesamte Feuerkraft des Panzerkreuzers, um das gedachte Übungsziel vernichtend zu treffen und auf den Grund der kalten Nordsee zu schicken. Hohenstein beobachtete das Zielgebiet. Sie konnte die Wasseroberfläche im Okular des Feldstechers silbern glitzern sehen. Sie zählte die Sekunden und wusste, dass nun die ersten Einschläge erfolgen müssten. Sie wartete noch etwas länger und drehte die Auflösung des Fernglases zurück, um eine größere Fläche überblicken zu können. Dann sah sie die Wasserfontänen aufspritzen und registrierte verärgert, wie weit die einzelnen Aufschlagspunkte voneinander entfernt lagen. Eine zweite Salve verließ die dampfenden Rohre der Geschütze, dann eine dritte. Doch das Bild im Zielgebiet verbesserte sich nicht merkbar. Hohenstein ließ ihr Fernglas sinken, dann, im letzten Augenblick, glaubte sie etwas entdeckt zu haben und hob das Glas wieder an ihre blaugrünen Augen.

„Feuer sofort einstellen!“, brüllte sie und hielt den Atem an.

Da!

Sie hatte deutlich ein Blinken gesehen, mitten im Zielgebiet blinkte etwas. Schon wieder leuchtete ein schwaches Licht für wenige Sekundenbruchteile auf, um schließlich zu verlöschen. Erneut krachte das doppelläufige Hauptgeschütz und schickte zwei weitere Granaten ins Zielgebiet.




Todesfalle

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