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1. Kapitel

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Kaiserlicher Palast

Peking, Chinesisches Kaiserreich

18. April 1934

Er trug einen schlichten, schwarzen Anzug in traditionellem Stil, dazu glänzend polierte, edle Lederschuhe aus den nördlichen Provinzen. Sein schwarzes Haar war ölig glatt nach hinten gekämmt, ein schmuckloses rotes Taschentuch steckte in seiner rechten Brusttasche. Den leichten Regen, der aus tiefhängenden, grauen Wolken unablässig auf die braunen Ziegeldächer der Hauptstadt fiel, spürte er kaum. Sein Blick durchdrang die Nebelschleier, die wie schmutzig weiße Wattefetzen unter ihm vorbeizogen, und verlor sich in der dunklen Ferne einer mondlosen Nacht. Seine Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, sich zu entspannen. Er zwang sich, seine verkrampft hinter dem Rücken verschränkten Hände zu lösen, und atmete tief durch. Immer wieder hatte ihm diese alte Entspannungsmethode seiner ruhmreichen Vorfahren, die ihm seine geliebte Amme bereits im zarten Alter von fünf Jahren beigebracht hatte, Erleichterung verschafft. Doch heute gelang es ihm nicht, die Last und Schwere von seinen breiten Schultern abzuschütteln.

Zhang Akuma, Prinz und Thronfolger des Chinesischen Kaiserreiches, atmete ein letztes Mal tief durch, dann drehte er sich um und verließ den offenen Balkon, einhundertfünfzig Meter oberhalb des riesigen, mit rotem Marmor gepflasterten Platzes, den sein Volk den „Platz der eintausend Toten“ nannte. Ein Name, der der tatsächlichen Anzahl der dort unten niedergemetzelten Menschen nicht mal ansatzweise entsprach. Zhang wischte sich mit dem Taschentuch aus seiner Brusttasche die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, während er sich vor einem wandhohen Kristallspiegel prüfend betrachtete. Er war tadellos frisiert und rasiert, sein dünner Oberlippenbart zierte symmetrisch gestutzt die ebenso dünnen Lippen. Sein kantiges Kinn und die an sich eher untypischen, offenen und wachsamen Augen verliehen ihm etwas Herrschaftliches, etwas Weltmännisches – etwas Kaiserliches.

Zufrieden damit, wie er sich präsentierte, wandte er sich vom Spiegel ab und marschierte durch den leeren Korridor, vorbei an Gemälden seiner unzähligen Vorfahren. Die Sohlen seiner bequemen Schuhe klapperten auf dem rosafarbenen, polierten Granit, seine Schritte hallten durch die dämmrige Weite der riesigen Palastanlage. Zwei Soldaten nahmen in ihrer Prachtuniform Haltung an, als er sich der breiten, doppelflügeligen Tür näherte. Die Tür war mit Blattgold belegt und mit Feinarbeiten aus Türkis, Rubin und Lapislazuli verziert. Beide Soldaten senkten ihr Haupt, als er sie erreichte, und traten zur Seite. Wie von Geisterhand geführt, öffnete sich ein Flügel der beinahe fünf Meter hohen Tür. Zhang trat ein und der Zugang schloss sich lautlos hinter ihm.

„Seine kaiserliche Hoheit, Prinz Zhang Akuma!“, vermeldete ein ebenfalls in schlichtem Schwarz gekleideter Lakai, der sich unter dem knappen Dutzend Personen befand, die sich in dem riesigen Zimmer aufhielten. Zhang empfand die stickige Wärme als beengend und erdrückend. Er hätte am liebsten die großen Fenster aufgerissen und kühle, frische Nachtluft den stinkenden Muff nach draußen wehen lassen. Doch die Fenster waren fest verriegelt und hinter schwerem Brokatstoff verborgen. Es roch nach Krankheit und Verfall, als er sich zu der Gruppe Männer gesellte, die am Bett seines Vaters Wache hielten. Sofort wandte sich einer der Männer, ein sehr alter, gebeugter Greis mit knotigen Händen, krummem Rücken und einem langen weißen Bart, an ihn.

„Prinz Akuma“, nannte er ihn, so wie er dies seit seiner Geburt vor beinahe fünfunddreißig Jahren tat, „es ist gut, dass Ihr hier seid.“ Zhang nickte dem greisen Leibarzt des Kaisers zu und versuchte, sich an den Gestank zu gewöhnen, der vom Bett her drang.

„Wie geht es meinem Vater heute?“, fragte er mit ausdruckslosem Gesicht. Er spürte, wie er zu schwitzen begann, ausgelöst durch die unerträgliche Schwüle der stinkenden Luft.

„Er spricht nicht mehr, Eure Hoheit“, antwortete der alte Mann.

„Sein Körper verfällt, seine Augen sind indes noch voller Leben, voller Kraft, seht selbst…“ Der Arzt deutete auf das große Bett, das inmitten des Raumes stand, überdacht von einem Baldachin aus goldener Seide.

Zhang zwang sich dazu, die paar Schritte zurückzulegen und sich dem Bett zu nähern. Der Kaiser wirkte unpassend winzig und zerbrechlich, wie er so vor ihm lag, gebettet auf weiße Seide, mit kränklich gelber, schweißnasser Haut, die ehemals feisten Wangen eingefallen, die knochigen Hände lagen kraftlos gefaltet auf seiner Brust, die sich kaum merkbar hob und wieder senkte. Als Kaiser Zhang Kibum seinen Sohn bemerkte, gewahrte man dies am Ausdruck seiner ungewöhnlich klaren Augen. Er blickte den Prinzen an und man konnte sehen, wie sich sein von Krankheit und Alter zerfressener Körper anspannte. Prinz Akuma spürte, dass der Kaiser etwas sagen wollte, doch er brachte nur ein unterdrücktes Röcheln zustande. Akuma ignorierte den stinkenden Todeshauch, der ihm entgegenwehte, und ließ sich auf der Bettkante nieder. Er fasste die kraftlose Hand des Kaisers. Die Haut des alten Mannes fühlte sich heiß und feucht an, dann war sie plötzlich wieder kalt.

„Sagen Sie mir, weiser Mann“, begann der Prinz, wobei er sich von den klaren Augen seines Vaters nicht zu lösen vermochte, „wie lange wird er noch leiden müssen?“ Der Arzt räusperte sich und wechselte ein paar Blicke mit seinen Kollegen der kaiserlichen Ärzteschaft, die vollzählig anwesend war, um über ihren Gebieter zu wachen.

„Nun, Eure Hoheit“, krächzte er, hustete und räusperte sich erneut, „wir können dies nicht mit Sicherheit sagen. Es gab Fälle, in denen der vom Fieber befallene Kranke über ein Jahr am Leben blieb, bis er schließlich verstarb. Andererseits…“

Der Arzt stockte und streichelte seinen langen Bart.

„Ja, andererseits, fahren Sie fort, Weiser Mann“, forderte ihn der Prinz auf.

„Es gab Fälle, in denen das Fieber einfach verschwand und sich der Kranke wieder erholte. Es wird sogar von vollständigen Genesungen in der Literatur der nördlichen Provinzen berichtet.“

Der Arzt blickte unglücklich zu seinen Kollegen, dann wieder zum Bett, auf dem der Prinz immer noch die Hand des Kaisers hielt.

„Ich habe mir erlaubt, nach einem Heiler aus dem Norden zu schicken. Es wird berichtet, dass dieser heilige Mann über größte Erfahrung in der Behandlung des Fiebers verfügt. Diese Art von Erfahrung und solch unschätzbares Wissen sind jetzt vonnöten, wenn wir das Leben des Kaisers retten wollen“, erklärte er. Prinz Zhang Akuma nahm die letzten Worte des Arztes scheinbar emotionslos entgegen, obwohl etwas in seinem Innersten sich vehement aufbäumte. Er nickte und blickte direkt in die Augen seines Vaters, als er seinen Entschluss fasste.

„Lasst uns allein, Weiser Mann“, befahl er mit ruhiger Stimme.

„Ich möchte mit meinem Vater alleine sein und gemeinsam mit ihm meditieren. Vielleicht kann ich einen kleinen Teil dazu beitragen, dass sein Leben gerettet wird.“

„Wie Seine Hoheit wünschen.“ Der Arzt verbeugte sich tief, drehte sich um, und verließ mit seinen Kollegen leise tuschelnd das Zimmer. Er konnte den Blick des alten Kaisers nicht mehr sehen, als dieser die Worte seines Sohnes vernommen hatte. Die Tür schloss sich leise und sie waren allein.

Zhang Akuma, Prinz des chinesischen Kaiserreiches und alleiniger Erbfolger des großen Kaisers Zhang Kibum, hatte lange gewartet. Er hatte studiert, hatte über seine Vorfahren alles erfahren, was es zu wissen gab, hatte sich in den Künsten der Astrologie und Mathematik geübt, hatte die militärische Denkweise aller berühmten Feldherren studiert, war in der Kunst des traditionellen Kampfes unterrichtet worden und hatte im Geheimen bei einem Meister die schwarze Kampfkunst erlernt. Sein Leben war voller Studien gewesen, er hatte sich ein Wissen angeeignet, über das kaum jemand in seinem riesigen Reich verfügte – mit Sicherheit niemand in seinem Alter. Der Prinz hatte Erfahrungen gesammelt, im Westen, in London und in Berlin, wo er die Kunst der Ingenieurwissenschaften und der Literatur wie ein trockener Schwamm förmlich in sich aufgesogen hatte. Er hatte mehrere Sprachen erlernt, hatte sich seinem übermächtigen Vater untergeordnet und stets nach dessen Vorstellungen und Anweisungen gehandelt. Der Prinz war nicht immer einer Meinung mit dem Kaiser gewesen, doch hatte er sich stets loyal und folgsam gezeigt. Nicht ein einziges Mal hatte er seinem mächtigen Vater widersprochen. Er wusste, was er wollte, und er wusste, dass jetzt die Zeit dazu gekommen war. Die Gelegenheit bot sich dem Kühnen und nur der Tapfere war dazu im Stande, sie auch zu nutzen.

Prinz Zhang Akuma war tapfer und kühn, seine persönlichen Ambitionen waren gewaltig. Doch manche Tugend hatte er noch nie besessen. Er war nicht sonderlich geduldig und es fehlte ihm an Mitleid und Menschlichkeit. Deshalb nahm er nun eines der dicken Seidendaunenkissen und hob es über den Kopf seines Vaters, des Kaisers von China. Ein letztes Mal begegnete er dem erschrockenen Blick des alten Mannes, dann senkte sich das Kissen.

Akuma betrachtete das in Gold eingefasste Bild seiner Mutter, der Kaiserin, die bei seiner Geburt gestorben war, ohne dem stattlichen Kaiser weitere Söhne und Töchter geschenkt zu haben. Er betrachtete ihr weiß geschminktes Gesicht, die traditionelle Tracht mit all den Verzierungen, die sie auf der Schwarzweißaufnahme trug. Er schaute in ihre kalten Augen, in die er nie persönlich geblickt hatte. Er drückte das Kissen etwas fester, spürte den ohnehin schwachen Widerstand erlahmen und dachte daran, dass er nie die Wärme einer Mutter, ihre Fürsorge und Liebe gespürt hatte.

Immer noch presste er das Kissen fest auf das Gesicht des alten Mannes, als er an seine Amme dachte, die ihn nährte und sich um ihn kümmerte, ihn zumindest mit ein wenig Wärme und Liebe versorgte. Sein Vater, der allmächtige Kaiser, war es schließlich gewesen, der die Amme dann entfernen ließ, um ihren verweichlichenden Einfluss auf den zukünftigen Herrscher zu eliminieren. Nun, dies war ihm wirklich aufs Treffendste gelungen. Verweichlicht war der Prinz mit Sicherheit nicht. Deshalb schockierte ihn auch der Anblick seines toten Vaters nicht, als er das Kissen hob und es zur Seite legte. Beinahe zärtlich betrachtete er den alten Mann, als er seine Lider mit einem sanften Streichen der rechten Hand schloss.

„Es ist gut, Vater“, flüsterte Akuma.

„Du kannst dich auf mich verlassen.“

Der Prinz spürte Erleichterung, fast Freude in seinem kalten Inneren, er entdeckte Gefühle, die seine Seele wärmten. Zumindest vorübergehend verdrängte er all den Hass, den er dem Kaiser gegenüber empfunden hatte, vergessen würde er dieses starke Gefühl nie. Denn für seine Pläne war sein Hass ein wichtiger Antrieb, auf den er nicht verzichten konnte und auch nicht wollte. Er würde ihn bündeln und dort entfesseln, wo es seine Feinde zu vernichten galt. Denn Feinde gab es zuhauf. Und Akuma kannte sie alle.

Prinz Zhang Akuma hatte also beschlossen, die Welt in der er aufgewachsen war, nun als Kaiser selbst nach seinen persönlichen Vorstellungen zu gestalten. Und an einem mangelte es ihm nicht: An Ideen und an der Fähigkeit, diese auch umzusetzen. So erhob er sich also vom Bett des toten Kaisers, straffte sich, bettete das Kissen so, wie er es vorgefunden hatte und wandte sich ab. Mit zielstrebigen Schritten näherte er sich der Tür, um dieses Zimmer mit seinem Gestank und den schlechten Erinnerungen zu verlassen. Kaiser Zhang Akuma sollte nie hierher zurückkehren.







Kaiserliches Hospital

Peking, Chinesisches Kaiserreich

19. April 1934

Der alte Mann atmete schwer, als er die lange dunkle Treppe erklommen hatte und oben, im sonnendurchfluteten Solar der mittelalterlichen Burg angekommen war, die das Kaiserliche Hospital beherbergte. Mönche in gelben und orangen Roben, die ihm begegneten, wunderten sich über die ungewöhnliche Hast, die der Leibarzt des Kaisers an den Tag legte – eine Hast, das wussten die weisen Mönche, die einem Dreiundachtzigjährigen nicht unbedingt guttat.

Doch der Weise Mann hatte es eilig. Das, was er herausgefunden hatte, konnte keinen Moment länger im Verborgenen bleiben. Der Rat musste informiert werden und dann würden sie gemeinsam entscheiden, was zu unternehmen sei. Bei allen Göttern, dachte der alte Arzt verzweifelt, er hatte ihn ermordet, einfach ermordet. Den Kaiser ermordet. Gute Götter, Prinz Akuma war ein hinterträchtiger Schlächter, sogar ein feiger Sippenmörder! Das durfte nicht ungesühnt und ohne Folgen bleiben. Schnaufend und nach Luft japsend öffnete er die schwere Holztür, die mit massiven Eisenbändern beschlagen war. Sie schwang langsam auf und warmes Licht aus dem Solar fiel auf die kalten Steinstufen.

Er betrat das Allerheiligste des Rates der Weisen und Heiler und strebte auf das Zentrum zu. Dort würde er seine Kollegen und Freunde finden und ihnen die Neuigkeiten berichten. Er würde ihnen von seiner Untersuchung der Leiche berichten, die er entgegen der ausdrücklichen Anordnung Prinz Akumas im Geheimen durchgeführt hatte. Er würde von den Verdachtsmomenten und den ersten Hinweisen erzählen. Er hatte die Fasern des Kissens untersucht, dieselben Fasern in Nase und Rachen des Toten entdeckt. Er hatte den Brustkorb geöffnet und sich die Lunge angesehen. Alle Hinweise hatten sich wie Teile eines kunstfertigen Mosaiks hübsch zusammengefügt und schließlich ein Bild ergeben, das unwiderlegbar vor ihm lag.

Es war ruhig im Solar. Viel zu ruhig. Er konnte das Getrappel und Geflatter der Raben in ihren Verschlägen hören, ihr Gekrächze und Geschnatter, und auch das Plätschern des Kristallbrunnens im Zentrum unterhalb der runden Kuppel. Der Wind wehte durch die geöffneten Fenster und befeuerte das Spiel der unzähligen Glocken und Klanghölzer. Doch er vernahm keine Stimmen, keine geflüsterten Unterhaltungen, die sonst aus dem Kreis des Rates immer durch das Atrium schwebten. Der Alte blickte nach links, nach rechts, sah sich um und fand sich schließlich nahe der runden Tafel wieder, die auf einer Ebene ein paar Steinstufen unter ihm um den ebenfalls tiefer liegenden Kristallbrunnen angeordnet war und an der die Sitzungen des Rates abgehalten wurden. Dann sah er die Becher, die umgekippt auf dem Tisch lagen, und den Wein, der vergossen worden war. Der Alte sah Porzellanteller und Tassen, die zerbrochen auf dem harten Steinboden lagen. Ein Regal mit alten Lehrbüchern war umgestürzt.

Er wusste, dass hier irgendetwas nicht stimmte, dann hörte er die Stimme in seinem Rücken.

„Ich weiß, wen du suchst, alter Mann.“

Erschrocken fuhr der alte Arzt herum und sah sich einem Mönch in einer orangen Robe gegenüber. Dieser hatte die Kapuze über seinen Kopf gezogen, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Die Hände des Mönchs waren in der weiten Robe verborgen, auch seine Füße konnte man nicht sehen. Der alte Mann spürte instinktiv die Gefahr, die von diesem Mönch ausging, und wich zurück. Schritt für Schritt entfernte er sich, stolperte aus dem Zentrum des Kreises heraus auf die Steinstufen zu.

„Wer seid Ihr?“, fragte er mit schwächlicher Stimme, obwohl irgendetwas tief in seinem Herzen die Antwort auf diese Frage bereits kannte. Der Mönch näherte sich lautlos, folgte dem alten Mann.

„Es ist nicht von Bedeutung, wer ich bin“, sagte er mit dunkler, ruhiger Stimme.

„Es ist nur wichtig, dass ich bin.“ Der Abstand hatte sich verkleinert, er betrug vielleicht ein Dutzend Meter oder weniger.

„Ihr seid es“, flüsterte der alte Leibarzt des Kaisers, der glaubte, die Stimme unter dem schweren Stoff der Kapuze erkannt zu haben.

„Ich kenne Euch.“ Mit zittrigen Fingern deutete er auf den Mönch, der sich unaufhaltsam näherte.

„Was wollt Ihr von mir? Wo sind all die anderen?“ Der Mönch, der bisher seine Hände unter der Robe verborgen gehalten hatte, ließ nun etwas Silbernes aufblitzen.

„Du weißt vermutlich, warum ich hier bin“, sagte der Mönch, „doch dieses Wissen wird dir nichts nützen.“

Immer näher kam er dem alten Mann, der nun einen Blutfleck am dunklen Boden des Solars entdeckte. Dann sah er noch einen und schließlich einen dritten.

„Was habt Ihr getan?“, flüsterte der alte Mann, „was bei allen Göttern habt Ihr, hast du getan, Akuma?“

Die Klinge schoss nach vorne und bohrte sich unterhalb des Brustbeins durch die Lunge des kaiserlichen Arztes, um am Rücken blutspritzend wieder auszutreten. Der alte Mann spürte, wie ihm die Beine versagten, doch er fiel nicht. Der Mönch hatte ihn mit Gewalt am Hals gepackt und hielt ihn aufrecht. Es schmerzte gar nicht mal so sehr, stellte er überrascht fest und hob seinen Arm an die Kapuze des Mönchs. Als er den schweren Stoff nach hinten schlug und in die Augen des jungen Kaisers sah, entdeckte er ein tödliches Glitzern, das ihn zutiefst schockierte.

„Deine Zeit ist vorbei, Weiser Mann“, flüsterte Akuma seinem nach Luft röchelnden Opfer zu.

„Für dich und deinesgleichen ist in meinem neuen Reich kein Platz mehr.“ Dann drehte Kaiser Zhang Akuma die Klinge des schlanken Schwertes und zerfetzte das Herz des alten Arztes.




Kaiserlicher Palast

Peking, Chinesisches Kaiserreich

21. April 1934


Für die Zusammenkunft war einer der kleineren Audienzsäle des Palastes ausgewählt worden. Der rund fünf Meter hohe, eher schlicht gehaltene Raum maß nur knappe vierzig mal zwanzig Meter und war damit rund fünf Mal kleiner als der Krönungssaal. Der Boden war mit grau geflammtem Granit gepflastert, die Wände zierten einfache Holzvertäfelungen aus hellem Bambus, unterbrochen durch eher schmucklose Wandteppiche aus der Provinz Mongolei. Die Teppiche zeigten Kampfszenen aus den Eroberungsfeldzügen des späten sechzehnten Jahrhunderts. Man konnte die riesigen kaiserlichen Heere erkennen, auch den ruhmreichen Feldherren, sowie den unterlegenen Khan der Mongolen, der seine Waffen dem Eroberer unterwürfig zu Füßen legte. Die wenigen Fenster des Raumes befanden sich an der Westseite. Im schwach rötlichen Glimmen der untergehenden Sonne tanzten Staubpartikel in der stickigen Luft des Saales. Gegenüber der großen zweiflügeligen Eingangstür, die noch verschlossen war, befand sich eine durch vier steinerne Stufen erhöhte Plattform, die etwa zehn Meter breit und in der Mitte des Saales situiert war. Ein einfacher Holzthron stand im Zentrum der Plattform. Lediglich das kaiserliche Siegel auf der Lehne des Throns sowie ein geschnitzter Holzdrache über dem Haupt des Kaisers schmückten den alten herrschaftlichen Stuhl. Ein aus dickem Garn gewebter Teppich, violett mit goldenen Einfassungen, führte von der Doppelflügeltür quer durch den langen Saal, über die vier Stufen nach oben zum Thron.

Auf diesem Teppich, knappe zehn Meter vor den steinernen Stufen des Podests, stand nun seit etwa zwanzig Minuten eine hochrangige Gruppe von Personen. In vorderster Reihe befand sich in makelloser schwarzer Uniform, mit Goldtressen und umfangreicher Ordensspange, der Oberkommandierende der Kaiserlichen Flotte, Großadmiral Lin Aang. Der große, korpulente Admiral hatte seine wenigen verbliebenen grauen Haare streng nach hinten gekämmt und hielt seine schwarze Offiziersmütze in der linken Hand. Die rechte Hand ruhte entspannt am Knauf des gekrümmten Offizierssäbels, der locker an seiner Seite hing. Direkt neben ihm, fast einen Kopf kleiner und etwa dreißig Kilo leichter, in olivgrüner Uniform, schwarzen Reiterstiefeln und ebenfalls mit Offizierssäbel, wartete der Stabschef der Armee, Marschall Hu Jonghyun. Der wesentlich jüngere Kommandant der Kaiserlichen Landstreitkräfte und damit Befehlshaber über knappe fünf Millionen Soldaten ließ keine Regung erkennen, seine Haltung war kerzengerade, sein Blick ruhte schon seit Minuten auf dem schlichten Holzthron. Zur Rechten des Marschalls schließlich wartete – wesentlich unruhiger und angespannter – Marschall Chen Shixin, Kommandant der Luftflotte, des modernsten und jüngsten Teils der gesamten Kaiserlichen Streitkräfte. Er trug die schneeweiße Paradeuniform mit schwarzer Hose und schwarzen Stiefeln, seine weiße Offiziersmütze trug er – wie alle anderen anwesenden Offiziere – in seiner linken Hand. Hinter den drei obersten Kommandanten der Streitkräfte wartete eine Gruppe von weiteren hochrangigen Offizieren.

Es waren verschiedene Adjutanten, Stabsoffiziere und Stellvertreter, allesamt hochdekorierte Kriegsveteranen, erfahren und kampferprobt. Schließlich räusperte sich der Chef der Luftflotte und wandte sich an seine beiden hochrangigen Kollegen.

„Wie lange will uns der Kaiser wohl noch warten lassen?“, flüsterte er, ohne seinen Kopf zur Seite zu drehen. Nur die neben ihm stehenden Männer und ein paar der weiter hinten wartenden Offiziere konnten seine Worte hören. Die Wachen der Kaiserlichen Garde standen in ihren traditionellen roten Uniformen und den überdimensional langen Zweihandschwertern wie gefährliche Boten aus längst vergangenen Tagen jeweils links und rechts der Offiziersgruppe. Ebenso waren sie vor dem erhöhten Podest und an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, neben der Eingangstüre, von ihrem erfahrenen Kommandanten postiert worden. Keiner der elitären Wachsoldaten hörte die Worte des alten Offiziers. Wie als Antwort auf die Frage Marschall Chens, erschien ein kleiner, schwarz gekleideter Mann auf dem Podest. Eine unsichtbare Tür, die sich in der Wand hinter dem Thron befand, hatte sich lautlos geöffnet. Der kleine Mann pochte mit einem goldenen Stab auf die harten Steinfliesen des Podests und kündigte den Kaiser an.

„Offiziere der glorreichen Streitkräfte“, meldete er mit lauter, klarer Stimme, „Seine Kaiserliche Hoheit, Kaiser Zhang Akuma!“

Die Offiziere und ihr Gefolge strafften sich und nahmen Haltung an, als der Kaiser das Podest betrat. Mit schnellen, sicheren Schritten näherte er sich dem Thron und blieb schließlich davor stehen. Er trug einen schlichten, schwarzen Anzug ohne jegliche Insignien oder sonstigen Schmuck. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er die Gruppe einige Augenblicke lang musterte. Schließlich nickte er den Anwesenden zu und wandte sich mit ruhiger, dunkler Stimme an die Offiziere.

„Kommandanten und Offiziere der Kaiserlichen Streitkräfte“, begann er, „ich habe Sie zu mir befohlen, da ich höchst unerfreuliche Neuigkeiten erfahren habe, die Sie alle betreffen.“

Der Kaiser blickte in die Runde und stellte zufrieden fest, dass einige der Offiziere doch einen etwas erschrockenen Ausdruck nicht unterdrücken konnten. Einige Augenblicke ließ er sie schmoren, bis er schließlich weitersprach.

„Sie haben meinem Vater lange und treu gedient, haben seine Befehle immer gewissenhaft und ohne Fehl und Tadel ausgeführt.“ Wieder wartete er einige Augenblicke, bevor er fortfuhr.

„Doch heute, kaum drei Tage nach dem traurigen Tod des Kaisers, heute gelang es mir, die Hintergründe des Komplotts aufzudecken, welches die schändliche Vergiftung und schließlich den qualvollen Tod meines Vaters, des großen Kaisers Zhang Kibum zur Folge hatte.“

Das erschrockene Raunen und die ungläubigen Blicke der Anwesenden nahm Kaiser Zhang Akuma zufrieden zur Kenntnis. Seine Gefühle ließ er sich jedoch überhaupt nicht anmerken.

„Im Zuge des Verhörs der Verschwörer, die sich unter den persönlichen Leibärzten des Kaisers befanden, gelang es mir, weitere eminent wichtige Informationen über den Umfang dieses tödlichen Komplotts, dieses schäbigen, hinterhältigen Staatsstreichs zu erfahren.“

Nun erhob sich seine vormals ruhige und beherrschte Stimme zu einem bedrohlichen Schwall anklagender Worte, die auf seine Zuhörer niederhagelten.

„Der oberste Leibarzt seiner Kaiserlichen Hoheit schwor bei der Seele seiner Mutter und seines Vaters, dass Sie“, mit einer umfassenden Bewegung seines rechten Armes deutete der Kaiser auf die anwesenden Offiziere unterhalb des Thronpodestes, „dass Sie, die obersten Führer der Kaiserlichen Streitkräfte, Teil dieses Komplotts, dieses Hochverrates, ja sogar der planende Kopf hinter dieser tödlichen Verschwörung sind!“

Die erschrockenen Blicke der Oberbefehlshaber wichen nun ungläubigem Staunen, doch bevor sich ein einziger der Offiziere zur Wehr setzen konnte, fuhr der Kaiser fort.

„Mir liegen eindeutige Beweise für die Wahrheit der Worte des Leibarztes vor. Beweise, die jeden einzelnen von Ihnen schwer belasten, und die es mir unmöglich machen, an Ihre Unschuld zu glauben.“

Der Kaiser nickte dem kleinen Mann neben ihm auf dem Podest zu, worauf dieser dem Hauptmann der Kaiserlichen Garde ein Zeichen gab.

„Im Namen meines Vaters“, knurrte Kaiser Zhang Akuma, während die Kaiserliche Garde ihre Schwerter zückte und auf die erschrockene Gruppe der Offiziere zumarschierte, „und im Namen der Gerechtigkeit beschuldige ich Sie alle des Hochverrats.“

„Das, das muss ein Irrtum sein, Eure Hoheit!“, stammelte Marschall Chen.

„Ich, wir… Wir würden nie etwas tun, was dem Kaiser…“

„Ich verlange eine unabhängige Untersuchung der Umstände, die den Tod des Kaisers zur Folge hatten“, rief nun Marschall Hu. Er war weniger eingeschüchtert als sein Kollege von den Luftstreitkräften, doch auch seine Stimme zitterte. Die Wachen der Garde hatten die Gruppe der Offiziere eingekreist, worauf sich weiterer Protest der jüngeren und niedrigeren Offiziere erhob. Schließlich war es der älteste Mann im Raum, der seine Kollegen zum Schweigen brachte.

„Schweigt, ihr Narren!“, brüllte Großadmiral Lin, woraufhin das nervöse Geschnatter abrupt abbrach.

„Seht ihr nicht, was hier vor sich geht?“, fragte der alte Seemann, während er kühl dem Blick des jungen Kaisers auf dem Podest begegnete.

„Ihr seid dazu auserkoren, wie Schachfiguren im Spiel der Macht nach dem Gutdünken des Kaisers eingesetzt und geopfert zu werden.“ Der Großadmiral glaubte so etwas wie den Ansatz eines leichten Grinsens auf dem Gesicht des jungen Kaisers zu entdecken.

„Ich für meinen Teil weiß, was ich nun zu tun habe“, schloss er, setzte sich seine Offiziersmütze auf und griff nach seinem Säbel.

„Das Urteil lautet…“, Kaiser Zhang Akumas Stimme war eine Nuance leiser geworden, doch noch bedrohlicher.

„Tod durch das Schwert!“

Großadmiral Lin Aang zog seinen Säbel und brüllte:

„Für den Kaiser, den wahren Kaiser Zhang Kibum!“

„Schützt den Kaiser!“, befahl der Hauptmann der Kaiserlichen Garde lautstark und zog sein Schwert. Dann krachte Stahl auf Stahl, und der ungleiche Kampf im kleinen Audienzsaal nahm seinen vorhersehbaren Lauf.

Kaiser Zhang Akuma, dem diese unvorhergesehene Entwicklung überhaupt nicht ungelegen kam, sah sich ungerührt das Gemetzel an und wartete, bis der letzte Mann der eingekreisten Offiziere leblos am Boden lag. Er blickte auf die blutüberströmten Toten und tödlich Verwundeten, von denen einige noch zuckten oder leise um Hilfe röchelten. Er sog jedes Detail in sein Innerstes auf, jeden Blick und jeden Ton, sogar den Geruch des Blutes, der in der stickigen Luft lag. Er nickte dem Hauptmann der Garde zu.

„Erlöst die Verräter“, befahl er ihm.

„Vollstreckt das kaiserliche Urteil.“ Dann drehte er sich wortlos um und verschwand in der kleinen Tür, die sich hinter ihm schloss. Das erstickte Kreischen der Sterbenden und das schmatzende Geräusch zerfetzenden Fleisches hörte er bereits nicht mehr. Blut tränkte die violetten Fasern des Teppichs und färbte ihn schwarz.

Kaiser Zhang Akuma hingegen bereitete schon seinen nächsten Schritt vor, sich von lästigen Anhängseln seines übermächtigen Vaters zu befreien. Diese alte Riege von Kommandanten, mit ihren alten Ansichten in Bezug auf Gefechtsführung, Taktik und Strategie, würde er nicht vermissen. Ganz im Gegenteil: Die neuen Offiziere, die an ihre Stelle treten sollten, würden jüngere Männer sein. Sie würden von ihm selbst ausgewählt werden und sie würden in seinem Namen dienen. Und was das Wichtigste war: Sie würden ihn fürchten. Und niemand würde es daher wagen, sich ihm zu widersetzen. Nicht nach diesem Exempel, das er soeben statuiert hatte.

Nun, da er alleine durch den dunklen Gang hinter dem Audienzsaal schritt, seine aufgewühlten Gedanken ordnend, gestattete er sich ein zufriedenes Lächeln.















Todesfalle

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