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2. Kapitel

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Imst, Tirol

25. August 2017


Als das Mobiltelefon in der vorderen linken Tasche ihrer Jeans vibrierte, erschrak sie. Nicht schon wieder, dachte sie. Ich kann das nicht schon wieder ertragen. Doch dieses Mal musste sie es ertragen, sie musste stark sein. Vielleicht wäre es das letzte Mal. Sie spähte gegen das grelle Sonnenlicht des ungewöhnlich warmen Spätsommertages auf das matte Display des schmalen Telefons und ahnte, nein wusste, dass er es schon wieder war. Unbekannte Nummer. Dann wappnete sie sich, strich sich eine Strähne des langen, blonden Haars aus dem Gesicht und hob ab.

„Ja?“, sagte sie vorsichtig und hörte wieder das ihr mittlerweile nur allzu bekannte Atemgeräusch am anderen Ende der Leitung. Doch es blieb bei diesem Geräusch, rau und irgendwie animalisch.

„Was willst du schon wieder von mir, du krankes Arschloch?“, fauchte sie angewidert. Sie fühlte sich schwach und verletzlich, wie Freiwild. Sie schwitzte, ihr langes Haar klebte in ihrem Nacken, das weiße Shirt, das sie trug, fühlte sich viel zu eng an. Die kühle Brise des Westwindes verschaffte ihr kaum Linderung.

„Sag endlich, was du willst!“, forderte sie den Anrufer erneut heraus. Sie konnte nicht mehr sitzenbleiben und stand rasch auf.

Sie fühlte das kühle, frische Gras an ihren nackten Füßen, als er schließlich doch was sagte.

„Du siehst heute ganz besonders geil aus, meine Süße“, sagte die dunkle Stimme in ihrem Handy.

„Ich mag es, wenn du dein Haar offen trägst.“ Sie fühlte, wie eine einzelne Träne des Zorns und der Hilflosigkeit über ihre Wange lief.

„Ich sehe, du warst brav!“, lobte die Stimme des Mannes.

„Ich mag es, wenn du ein folgsames Mädchen bist.“ Ihr Blick wanderte mechanisch nach rechts und blieb an der Wäscheleine hängen, die sie zwischen den beiden alten Zwetschkenbäumen in ihrem Garten gespannt hatte. Auf einem der beiden Bäume hatte sie auch eine Schaukel aufgehängt, zum Spielen für die Kleine, die im Kindergarten war und nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ihre Mutter jetzt gerade und mittlerweile seit fast einem Jahr mitmachte.

„Ach, fick dich, du Perversling!“, ächzte sie müde.

„Ich möchte, dass du dein Shirt ausziehst“, sagte der Mann unbeeindruckt, während sie noch die Unterwäsche betrachtete, die sie auf der Wäscheleine aufgehängt hatte.

„Du weißt ja, Süße, sonst kümmere ich mich um deine Kleine, und das möchtest du doch nicht, oder?“ Sie konnte seine Atmung hören, die vor Erregung schneller geworden war und nun beinahe Ähnlichkeit mit einem leichten asthmatischen Keuchen hatte. Sie drehte sich langsam um und betrachtete die Häuser und Felder in ihrer Nachbarschaft, die sie über den Zaun sehen konnte, der ihren kleinen Garten und das unauffällige Wohnhaus umschloss.

„Nana, meine Süße, du kannst mich nicht sehen. Du wirst mich niemals entdecken können.“ Dann lachte der Mann schäbig und sie fühlte sich ertappt. Der Mann lachte immer noch, als sie eine zweite Stimme in ihrem linken Ohr hörte.

„Tun Sie, was er will, Sandra“, sagte Stefan Berger.

„Halten Sie ihn hin, ich brauche noch etwa zweieinhalb Minuten.“

Berger, der mit Sandra Bäumler über einen in ihrem Ohr versteckten Empfänger in Verbindung stand, betrachtete den kleinen Bildschirm auf seinem Schoß. Er trug ein Headset, durch das er die Unterhaltung zwischen Sandra und ihrem ungebetenen Verehrer mitverfolgen und gleichzeitig Instruktionen an seine Klientin weitergeben konnte.

„Nur Mut, Sie schaffen das schon“, munterte er sie auf, dann hörte der Mann am anderen Ende der Leitung zu lachen auf.

„Los jetzt!“, befahl er barsch.

„Runter mit dem Shirt. Ich will deine Titten sehen. Sofort!“ Sandra Bäumler, eine ausnehmend gut aussehende Frau Mitte dreißig, von ihrem Alkoholikergatten endlich geschieden und mit ihrem kleinen Mädchen Malena glücklich in trauter Zweisamkeit lebend, atmete tief durch, bevor sie den ersten Träger ihres Shirts langsam nach unten schob. Unbewusst tauchten wieder Erinnerungen und Gesprächsfetzen in ihren Gedanken auf, von den vielen Besuchen bei der Polizei. Niemand hatte sie wirklich ernst genommen und dann, als eine Fangschaltung auf ihrem Handy installiert worden war, hatte sich der Drecksack nicht mehr gemeldet. Als ob er gewusst hatte, dass sie ihn bei einem Anruf erwischen würden.

Sie hatte tatsächlich Ruhe gehabt, für einige wenige Monate, dann hatten die Anrufe wieder begonnen, kurz nachdem die Fangschaltung wieder entfernt worden war. Stets mit diesen Drohungen gegen die kleine Malena, die am schlimmsten für Sandra waren. Das Stöhnen und die Abartigkeiten dieses Perversen hätte sie wegstecken können, nicht jedoch das Gefühl der Verwundbarkeit ihrer kleinen Familie.

„Mach schon, verdammt. Zieh das verschissene Shirt aus und zeig mir deine großen Titten! Ich will sie sehen!“

Sandras Zorn wuchs, als sie den zweiten Träger des Shirts nach unten schob und sich langsam daran machte, den dünnen, weißen Stoff abzulegen. Sie würde jenem unbekannten Mann, der irgendwo in ihrer Nähe lauerte und sie beobachtete, ihre Brüste zeigen. Das Shirt landete im feuchten Gras und der Mann meldete sich wieder.

„Sehr schön, meine Süße. Und jetzt der BH. Ich mag diesen schwarzen. Den mag ich ganz besonders, weißt du? Ich will, dass du ihn jetzt aufknöpfst und dich dann ganz langsam zu mir drehst, damit ich deine großen Titten sehen kann.“

Sandras Finger fanden den Verschluss des BHs an ihrem Rücken, während ihre Gedanken wieder abschweiften.

Sie erinnerte sich daran, wie sie nach den unzähligen Enttäuschungen, die sie mit den Behörden erlebt hatte, schließlich auf jene Website gestoßen war, die sie wieder etwas hoffen ließ. Sie hatte das Kontaktformular ausgefüllt und keine zwei Tage später war ein Mann mit dunklem, etwas längerem Haar und braun gebranntem Gesicht freundlich lächelnd vor ihrer Tür gestanden. Stefan Berger, so war sein Name. Sie brauchen meine Hilfe? Ja, sie brauchte seine Hilfe. Und nun war hoffentlich bald alles vorbei, dachte sie, als der Verschluss ihres BHs aufsprang und der dünne schwarze Stoff nach unten rutschte. Instinktiv bedeckte sie ihre Brüste mit Armen und Händen und erntete dafür sofort wütenden Protest.

„Weg mit den scheiß Händen, ich kann nichts sehen. Und dreh dich verdammt noch mal nach rechts, Ich will alles sehen.“

„Tun Sie, was er sagt, um Gottes Willen, Sandra. Dieser Idiot hat gerade die Richtung bestätigt, die das Programm ermittelt hat. Ich glaube, ich hab ihn. Halten Sie ihn nur noch für eine Minute oder zwei bei Laune, dann erwisch ich ihn.“

Die unbeabsichtigte Richtungsbestätigung des durch seine fortgeschrittene Erregung offensichtlich leichtsinnig gewordenen Anrufers deckte sich mit Bergers ermittelter Position. Ausgehend von seinem Beobachtungspunkt im Dachstuhl hinter der löchrigen Giebelverschalung, aus Sandras Blickrichtung und den Wünschen des Anrufers kannte er nun die vermutliche Position des Perversen relativ genau. Er ließ alles stehen und liegen und verließ Sandras Haus durch die Vordertür.

„Jaa“, stöhnte der Anrufer, als Sandra all ihren Mut zusammennahm, ihren Ekel und ihr Schamgefühl überwand und ihre Arme sinken ließ. „Du hast so geile Titten, ich halt’s kaum aus“, keuchte der Anrufer an ihrem Ohr.

„Und jetzt“, keuchte er weiter, „runter mit der Hose. Ich will deinen Arsch sehen!“ Sandra schluckte und schloss die Augen. Sie zitterte, als sie dachte: Beeil dich, Stefan Berger. Ich halte das hier nicht mehr länger aus!

Berger trug einen schwarzen Trainingsanzug mit drei silbernen Streifen und einem großen Emblem des Herstellers in derselben Farbe auf dem Rücken. Die Kapuze des Anzuges hatte er sich über den Kopf gestülpt, eine schwarze Sonnenbrille verdeckte seine wachsamen Augen. Er war nach links abgebogen, als er Sandras Haus verlassen hatte, und lief nun über einen asphaltierten Weg auf eine Gruppe von kleinen Scheunen zu, die etwa dreißig Meter abseits des Weges standen. Berger begegnete einem anderen Jogger und einem Radfahrer, die er freundlich und unauffällig grüßte. Sein Blick wanderte nach links und blieb kurz auf der mittleren, der größten der drei Scheunen haften. Oben, etwa einen halben Meter unterhalb des Firstbalkens, befand sich ein Loch in der Verschalung, mehr oder weniger kunstvoll in einer Herzform ausgeschnitten. Und dahinter saß der Stalker, wusste Berger, dort musste er sein.

Er lief weiter, bis er sich auf Höhe der Scheunen befand und durch das Herzloch nicht mehr gesehen werden konnte. Durch sein Headset lauschte er dem einseitigen Gespräch und hörte den Stalker, wie er Sandras Brüste ein weiteres Mal enthusiastisch lobte. So wie er sich anhörte, rechnete er kaum mit unerwartetem Besuch. Das war sehr leichtsinnig, dachte Berger. Als er nach links abbog und durch das etwa zwanzig Zentimeter hohe Gras in Richtung Scheune huschte, lächelte er böse. Sandras Jeans befanden sich auf halber Höhe ihres Hinterns, sodass der Stalker bereits den kleinen, roten Tanga erkennen konnte, den sie trug.

„Zieh die Scheißhose endlich runter, du blöde Schlampe!“, kreischte er aufgeregt.

„Los, beeil dich! Sonst schneid ich deiner kleinen Göre die Finger ab!“ Sandras Wut über diese Drohung trieb ihr Zornestränen in die Augen. Sie hatte Angst um ihre Kleine und sie schämte sich. Sie wollte diesem Dreckschwein nicht noch mehr von sich zeigen.

„Mach schon, du blöde Kuh!“, kreischte der Mann. „Ich will deinen geilen…“, schrie er wie irrsinnig, dann krachte es ganz gewaltig und plötzlich war es still am anderen Ende der Leitung. Sandra blinzelte und hielt angespannt den Atem an. Sie drückte das Mobiltelefon fest an ihr Ohr. Während sie gespannt und hoffnungsvoll lauschte, zog sie ihre Jeans wieder nach oben und ging in die Knie, um nach ihrem BH zu tasten. Sie fand ihn, doch vergaß ihn augenblicklich, als sie die Stimme im Telefon hörte.

„Sandra?“, sagte Stefan Berger merkbar gelöst und kaum außer Atem, „Sie können sich jetzt wieder anziehen. Unser Freund ist gerade damit beschäftigt, seine Schneidezähne zu sortieren.“

Mein Gott, dachte Sandra, er hat ihn tatsächlich erwischt. „Danke“, stammelte sie, dann weinte sie hemmungslos vor Erleichterung und Freude. Sie setzte sich ins Gras, blickte nach oben in das tiefe Blau des wolkenlosen Himmels und fühlte, wie die tonnenschwere Last auf ihrer Seele ganz langsam von ihr abfiel.

Keine dreihundert Meter entfernt kniete Stefan Berger vor dem bewusstlosen Häufchen Mann, das er eben mit heruntergelassener Hose erwischt und mit einem einzigen knallharten Schlag, in dem etwa sechzig Prozent Professionalität und vierzig Prozent nackte Wut steckten, auf die harten Bretter des Zwischenbodens geschickt hatte. Der Staub, den Bergers Einschreiten aufgewirbelt hatte, schwebte unpassend friedlich im durch die schmalen Ritzen der Scheune scheinenden, warmen Sonnenlicht. Zufrieden betrachtete er sein Opfer, die blutende aufgeplatzte Lippe und die wirren, verklebten Haare auf der fortschreitenden Glatze des Mannes. Der Stalker war nicht mehr der Jüngste, erkannte Berger, doch die Spezialbehandlung, die er sich für dieses Schwein ausgedacht hatte, sollte er trotzdem durchstehen können.

Dieser kleine, dicke Haufen Abschaum würde so schnell niemanden mehr belästigen, das stand für Berger fest. Doch erst musste er hier abwarten, bis es dunkel war, dann konnte er ihn hier raus schaffen. Als er den Führerschein des Mannes betrachtete, seinen Namen las, hatte er schon eine ungefähre Idee, wie er mit dieser Evolutionsbremse zu verfahren hatte. Der zweite Ausweis, den er bei dem Mann fand, erklärte augenblicklich, warum sämtliche Versuche, ihn auszuforschen, erfolglos geblieben waren. Der Mann war ein verdammter Polizist.


Er fand sie in ihrem Wohnzimmer, wo sie auf der kleinen Ikea-Couch zusammengekauert auf ihn wartete. Als sie ihn erblickte, schluchzte sie in ihrem leisen Weinen auf und erhob sich. Sie fiel ihm erleichtert um den Hals. „Danke“, schniefte sie und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Sie weinte und zitterte, ihre Tränen benetzten seine Haut dort, wo die obersten drei Knöpfe seines Ripshirts geöffnet waren. Stefan hielt sie fest und redete beruhigend auf sie ein.

„Und er wird mir nichts mehr tun?“, flüsterte sie leise. Sie hob ihren Kopf und sah ihn aus großen, blass grauen Augen an. Ihr Kajal war verschmiert und die Tränen hatten dunkle Bahnen auf geröteten Wangen hinterlassen.

„Ich denke, er wird die Motivation dazu verloren haben, wenn ich mit ihm fertig bin“, antwortete Berger vage. Sie nickte zufrieden und atmete erleichtert aus. Er hielt sie nur fest, flüsterte beruhigend auf sie ein und fragte sich, wie es Nina wohl gerade erging. Es befiel ihn ein urplötzliches Gefühl der Sorge, das ihn gleichermaßen überraschte wie verstörte. Ausgelöst durch dieses Gefühl der Nähe und den Duft einer Frau, die er in seinen Armen hielt, gefiel ihm der Gedanke überhaupt nicht, dass Nina etwas passiert sein könnte. Er verspannte sich, als er daran dachte, dass sie sich schon ewig nicht mehr gemeldet hatte und auch seine Mails nicht beantwortet wurden.

„Was ist los?“, fragte Sandra Bäumler, löste ihre Umarmung, trat einen Schritt zurück und sah ihn aus verweinten Augen an. Sie hatte seine Anspannung instinktiv gespürt.

„Es ist nichts“, log er und lächelte beruhigend.

„Sie müssen nun keine Angst mehr haben.“ Sandra erwiderte sein Lächeln zaghaft.

„Es ist vorbei“, flüsterte Stefan Berger.




Todesfalle

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